Kafala-System
Äthiopische Sklavin zu verkaufen – bei Interesse PN
Von Julius Gabele und Cornelia Schimek
Artikel teilen
Trotz des weltweiten Verbots gibt es heute so viele Sklaven wie noch nie. Rund 40 Millionen Menschen leben aktuell unter Bedingungen, die von der Nichtregierungsorganisation Anti-Slavery International als »moderne Sklaverei« eingestuft werden. Sie arbeiten beispielsweise in südostasiatischen Textilfirmen, in westafrikanischen Bergwerken, als Sexsklavinnen in Osteuropa oder für Drogenkartelle in Lateinamerika. Die Menschen werden ausgebeutet, misshandelt, zwangsverheiratet, haben meist keinerlei Rechte und Freiheiten. Die Rahmenbedingungen der modernen Sklaverei unterscheiden sich kaum von denen der Sklaverei, die man aus den Geschichtsbüchern kennt. Vor allem in den Golfstaaten hat sich ein System entwickelt, das die strukturelle Ausbeutung von Gastarbeitern gesetzlich legitimiert – das Kafala-System.
Jede Woche stirbt im Libanon eine ausländische Haushaltshilfe
Besonders deutlich wird das am Beispiel ausländischer Hausangestellter im Libanon. Dort arbeiten ungefähr 250.000 Haushaltshilfen aus dem Ausland. Sie werden als »Bint« bezeichnet, was übersetzt Mädchen heißt. Die Internationale Arbeitsorganisation, eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, hat in mehreren Studien die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ausländischen Haushaltshilfen im Libanon untersucht und sowohl rund 1.500 Arbeiterinnen als auch 1.200 Arbeitgeber befragt.
Die Grundlage für diese Arbeitsverhältnisse bildet das Kafala-System. Es bindet den Visumsstatus einer Person an den Arbeitgeber, dieser übernimmt de facto deren Vormundschaft. Kafala (arabisch für Bürgschaft) hat sich aus der Tradition verschiedener Beduinenstämme in den meisten Golfstaaten zum Gewohnheitsrecht entwickelt – vielerorts ist es auch gesetzlich festgeschrieben.
Weibliche Hausangestellte leben bei den Familien, sprechen ihre Hausherrin mit »Madame« an, kochen, versorgen die Kinder und putzen. Der Unterschied zu Haushaltshilfen aus dem Inland: Sie haben kaum Rechte, häufig werden sie im Haus eingesperrt und in den meisten Fällen wird ihnen der Reisepass weggenommen. Sollten sie ihre Familien verlassen, gelten sie als »entlaufen« und halten sich illegal im Land auf. In vielen Fällen werden sie Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch. Das endet für manche sogar tödlich: Jede Woche stirbt eine ausländische Hausangestellte im Libanon – darunter vermutlich viele durch Suizid. Die Todesursachen werden in der Regel aber nicht aufgeklärt und Verantwortliche nicht zur Rechenschaft gezogen – mit der Begründung, dass Familienangelegenheiten nicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizei fielen.
Rassismus und Klassendenken verändern das Kafala-System
Aufgrund der geringen Sozialleistungen im Libanon sind neben den reicheren Familien auch solche der Mittel- und Unterschicht auf die Unterstützung von Hausangestellten angewiesen. So leben laut Studien die meisten Angestellten bei libanesischen Familien mit durchschnittlichen Lebensumständen, was beispielsweise Einkommen, Kinderzahl und Religion betrifft. Während die Arbeiterinnen früher meist aus dem Inland oder aus den islamischen Nachbarstaaten stammten, kommen sie heute wegen der gestiegenen Löhne und des demografischen Wandels im Libanon größtenteils aus Äthiopien, Bangladesch oder den Philippinen.
Die Sprachbarriere sowie kulturelle und religiöse Unterschiede machen die ausländischen Arbeiterinnen anfälliger für Ausbeutung und Misshandlung als Angestellte aus dem Inland. Eine Mischung aus Rassismus und Klassendenken verändert so die traditionellen Strukturen des Kafala-Systems: Die Arbeitgeber sind der Studie zufolge kaum in der Lage, die Angestellten als gleichwertige Menschen zu betrachten oder Mitgefühl zu zeigen. Die Beziehung zu ihren Angestellten liege »auf einem Spektrum zwischen paternalistischem Schutzgefühl und offenem Misstrauen und Verachtung«.
Eine Frau von den Philippinen kostet dreimal so viel wie eine Frau aus Bangladesch
Frauen werden wie Waren gehandelt. Das zeigt beispielsweise ein Facebook-Eintrag, den eine Hausherrin verfasst hat: »Guten Tag! Es ist eine neue äthiopische Dienerin abzugeben. Sie kam vor zwei Tagen an, und ich möchte sie verkaufen.« Der Preis der Frauen ist dabei stark von der Nationalität der Hausangestellten abhängig, genau wie ihre Gehälter und Behandlung. Frauen von den Philippinen gelten beispielsweise als vertrauenswürdiger und pflichtbewusster. Sie werden weniger häufig Opfer von Gewalt oder Missbrauch und verdienen in der Regel deutlich mehr als der Durchschnitt (400 US-Dollar im Monat oder mehr) – Frauen aus Bangladesch deutlich weniger (200 oder weniger). Zwar gibt es im Libanon einen Mindestlohn von aktuell ungefähr 450 US-Dollar im Monat, jedoch gilt dieser nicht für Hausangestellte, da sie nicht unter das nationale Arbeitsrecht fallen.
Arbeitsvermittlungsagentur: »Wir handeln hier mit Menschen – so kann man es sagen«
Drei Viertel der befragten Arbeiterinnen waren über Agenturen in den Libanon gekommen. Diese rekrutieren junge Frauen in ihren Heimatländern, vermitteln sie an libanesische Familien und organisieren ihre Anreise. Dabei werden die Frauen oft mit falschen Versprechungen angeworben: Zwar wird das Arbeitsverhältnis vertraglich geregelt, häufig unterscheiden sich jedoch die Verträge, die die Frauen in ihren Heimatländern unterschreiben, von denen, die ihnen schließlich im Libanon vorliegen. Zudem waren nur 60 Prozent der befragten Arbeiterinnen nach eigenen Angaben imstande, ihren Arbeitsvertrag zu lesen und zu verstehen. Knapp die Hälfte der Frauen sind also nicht über ihre Rechte in Bezug auf Arbeitsstunden, wöchentliche Ruhetage, Höhe des Gehalts oder die Laufzeit ihres Vertrags informiert.
Die Agenturen schützen die Arbeiterinnen nicht, im Gegenteil: Frauen, die über Vermittler engagiert werden, werden mehrheitlich noch schlechter von ihren Arbeitgebern behandelt als Angestellte, die privat vermittelt wurden. 40 Prozent der befragten Arbeiterinnen berichteten, dass sie von ihren Arbeitgebern angeschrien würden, elf Prozent von körperlicher Misshandlung, zwei Prozent von sexuellem Missbrauch. Zum Teil raten Agenturen den libanesischen Familien dazu, weniger attraktive Frauen einzustellen, um die männlichen Hausherren nicht in Versuchung zu führen.
Das Paradoxe: Trotz der schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen gab ein Großteil der Frauen an, mit ihren Arbeitgebern und ihrer Lebenssituation zufrieden zu sein. Hierfür gibt es mehrere Gründe: Erstens hat rund die Hälfte der Frauen Kinder in ihren Heimatländern, deren Schulbildung von ihren Gehältern finanziert wird. Zweitens sind ihnen ihre Rechte nicht bekannt. Misshandlungen und Ausbeutung werden daher als normal empfunden. Oft vermeiden Arbeitgeber körperliche Gewalt, aus Sorge, die Dienstmädchen könnten sich an den Kindern rächen. Die Frauen werden daher eher emotional manipuliert und streng überwacht – etwa mithilfe von Kameras.
Fußball-WM bringt Golfstaaten in Zugzwang
Wie in vielen anderen Golfstaaten ist auch in Katar das Kafala-System weitverbreitet. Viele der Gastarbeiter, die die Stadien der Fußballweltmeisterschaft 2022 errichten, sind über das Kafala-System angestellt. Menschenrechtsorganisationen beklagen immer wieder die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen und die strukturelle Ausbeutung der ausländischen Arbeiter. Auf internationalen Druck hin kündigten einige Golfstaaten daher an, das Kafala-System reformieren zu wollen – darunter auch Katar. Eine Studie des Gulf Research Center Cambridge (GRCC) untersuchte diese Versprechungen.
Das Ergebnis: Das Kafala-System hat sich in Katar in den letzten Jahren kaum verändert. 2016 wurde beispielsweise ein Gesetz verabschiedet, das den Arbeitern im Kafala-System theoretisch mehr Rechte zugesteht und ihnen ermöglicht, den Arbeitgeber zu wechseln oder das Land zu verlassen. Allerdings verbesserte das Gesetz die Lage der Arbeiter nicht, sondern verschlechterte sie sogar. Der Grund: Es erlaubt den Arbeitgebern nun offiziell, die Reisepässe ihrer Angestellten einzubehalten, und macht damit die positiven Aspekte der Reform zunichte. Ein neues Gesetz, das einen Mindestlohn für ausländische Arbeiter und das Ende des Kafala-Systems vorsieht, soll voraussichtlich im Januar 2020 in Kraft treten.
Bevölkerung will mehr Sklaverei
Das größte Problem bei der Reformierung des Kafala-Systems ist dessen tiefe Verankerung in der Gesellschaft vieler Staaten im Nahen Osten. So wird der hohe Lebensstandard und die recht weit vorangeschrittene Emanzipation der libanesischen Frauen mit dem Kafala-System begründet: Während sich günstige Arbeitskräfte aus dem Ausland um die Kinder und den Haushalt kümmern, gehen viele Libanesinnen studieren oder arbeiten – der gesellschaftliche Fortschritt im Libanon basiere also auch auf der Ausbeutung anderer. In der Studie des GRCC wurden katarische Staatsangehörige zu ihrer Haltung zum Kafala-System befragt. Während 19 Prozent der Befragten angaben, sie würden das aktuelle System gern abschaffen oder zumindest die Abhängigkeit der Arbeiter verringern, waren 56 Prozent dafür, das System in der aktuellen Form beizubehalten. 25 Prozent wollten sogar eine Verschärfung des Kafala-Systems.
Dieser Text erschien in der 16. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr.
Autor:innen
Ehemaliger Redakteur bei KATAPULT. Er ist Chefredakteur von KATAPULT Kultur und für die Produktionsleitung des Magazins verantwortlich. Er hat Geographie an der Universität Augsburg und der Universitat de Barcelona studiert. Er ist zudem als freiberuflicher Fotograf tätig.
KATAPULT-Redakteurin