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Studie

Vertuschte Tote

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Studie: „Unter Verschluss: Eine Geschichte des Suizids in der DDR, 1952-1990“, von Ellen von den Driesch (Frankfurt, 2021).

204.124 Selbsttötungen wurden in der DDR zwischen 1952 und 1990 registriert. Die Suizidrate des Arbeiter-und-Bauern-Staates war unter den höchsten Europas und lag somit auch deutlich über der der Bundesrepublik. 1954 nahmen sich im Osten 34 Prozent mehr Menschen das Leben als im Westen. In den folgenden Jahren stieg die Suizidrate in beiden deutschen Staaten an, im Osten deutlich rascher als im Westen. 1975 wurden in der DDR schließlich rund 73 Prozent mehr Suizide pro 100.000 Einwohner registriert als in der BRD. Bis zur Wende sank die Frequenz dann wieder, lag in der DDR im Jahr 1990 aber noch immer etwa 58 Prozent über der Rate im Westen. 

Dass es nun erstmals möglich ist, Suizide in der DDR systematisch und auch auf Bezirksebene zu analysieren, ist der Verdienst der Soziologin und Demographin Ellen von den Driesch. Denn die DDR hielt Statistiken zu Suiziden seit Mitte der 70er-Jahre verstärkt unter Verschluss. Die so gekennzeichneten Ergebnisse der Gestorbenenstatistik waren nur einer sehr kleinen Gruppe von Kadern des Regimes zugänglich. Nach der Wende galten die Daten als verloren und nicht mehr rekonstruierbar. Von den Driesch wandte sich an ehemalige Mitarbeiter der aufgelösten Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik und des Instituts für Medizinische Statistik und Datenverarbeitung der DDR. Von dort führte ihre Suche zu Kartons, die lange auf dem Speicher des Robert-Koch-Instituts gelagert worden waren, bis man sie ans Bundesarchiv übergeben hatte, wo sie bislang nie erschlossen wurden.

1963 berichtete das Nachrichtenmagazin “Spiegel” über das Phänomen und bezeichnete die hohen Suizidraten in der DDR als „Index des Grauens, [das] dem Wirken des Einheitssozialisten Walter Ulbricht zuzuschreiben“ sei. Aber stimmt das? Forscher rätselten bereits im 19. Jahrhundert über die enorm hohen Suizidraten in Thüringen und Sachsen. Und zumindest teilweise sind die hohen Zahlen in der DDR auch auf demografische Eigenheiten wie die Altersstruktur zurückzuführen. 

In welchem Maße war nun das politische System verantwortlich? Auch Ellen von den Driesch beantwortet diese Frage nicht abschließend, aber die von ihr gesammelten Daten werden anderen Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, dieser Hypothese weiter nachzugehen. Die Soziologin untersucht ihre Zahlen vor allem auf regionale Unterschiede zwischen den Bezirken der DDR. Nirgends nahmen sich so viele Menschen das Leben wie im Bezirk Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz. Im Norden hingegen, in Rostock, Schwerin oder Neubrandenburg, war die Suizidrate deutlich niedriger als im DDR-Durchschnitt. Diese Unterschiede bleiben auch dann deutlich, wenn man Unterschiede in der Geschlechter- und Altersstruktur der Bezirke herausrechnet. 

Von den Driesch sieht vor allem einen Zusammenhang zwischen der Suizidrate und dem Grad an Modernisierung in einer Region. Es ist eine gängige soziologische Theorie, dass langfristige und unumkehrbare Veränderungen wie Industrialisierung, Säkularisierung und Urbanisierung innerhalb einer Gesellschaft zu mehr Suiziden führen, weil sie die bisherige soziale Ordnung ins Wanken bringen und so das Zugehörigkeitsgefühl von Menschen schwächen.

Aber auch ein höherer Anteil an Personen, die erwerbstätig waren oder der herrschenden Partei SED angehörten, ging mit einer höheren Suizidrate einher. Beides ist eng miteinander verknüpft, weil die Parteizugehörigkeit in der DDR maßgeblich über das berufliche Fortkommen entschied. Gesellschaften, die sich durch ein Übermaß an sozialer Kontrolle auszeichnen, weisen oft hohe Suizidraten aufweisen. Dazu gehört die Unterordnung des Individuums und eine ausgeprägte Regulation. Es besteht somit Grund zur Annahme, dass die Erwerbstätigkeit und die Parteizugehörigkeit in der DDR eine starke soziale Kontrolle und Regulation abbilden, die zu mehr Selbsttötungen führten, so von den Driesch. Beweisen lasse sich das auf Basis der vorliegenden Daten jedoch nicht.

Seit dem Mauerfall haben sich die Suizidraten in Ost und West jedenfalls weiter angenähert. Im Jahr 2017 waren kaum noch Unterschiede zu verzeichnen. Durchschnittlich lag die Zahl der Selbsttötungen pro 100.000 Einwohner in den neuen Bundesländern bei 11,2 und im Westen bei 10,8.

Haben Sie suizidale Gedanken oder haben Sie diese bei einem Angehörigen/Bekannten festgestellt? Hilfe bietet die Telefonseelsorge: Anonyme Beratung erhält man rund um die Uhr unter den kostenlosen Nummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222.

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