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Autokratisierung

Ein weiteres schlechtes Jahr für die Demokratie

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Vor einem Jahrzehnt gab es noch 41 liberale Demokratien weltweit. Heute sind es 32. Rund 68 Prozent der Weltbevölkerung lebt nun in autokratischen Staaten. Das liegt auch daran, dass Indiens Premierminister Narendra Modi die einst größte Demokratie der Welt zugrunde gerichtet hat. In nur 16 Ländern – die lediglich vier Prozent der Weltbevölkerung umfassen – kam es zuletzt zu positiven Entwicklungen hin zu mehr Demokratie.

Dies sind die Ergebnisse des jüngsten Demokratie-Reports des V-Dem-Instituts. Das an der Universität Göteborg ansässige Forschungsprogramm versucht, Demokratie mithilfe Hunderter Indikatoren messbar zu machen. So wird etwa untersucht, wie frei und fair Wahlen sind, ob Gerichte unabhängig agieren können, inwiefern Medien zur Selbstzensur gezwungen werden oder ob Frauen ebenso guten Zugang zur Justiz haben wie Männer. Rund 3.500 Länderexperten liefern die Daten. V-Dem steht für „Varieties of Democracy“.

Das Institut teilt die Welt in vier Regierungsformen: Liberale Demokratien, Wahldemokratien, Wahlautokratien und geschlossene Autokratien. Die liberale Demokratie unterscheidet sich dabei von der Wahldemokratie durch eine deutlichere Ausprägung der Bürgerrechte und einen starken Rechtsstaat, der Minderheiten und Individuen vor der Tyrannei der Mehrheit schützt und die Macht der Exekutive begrenzt. Wahlautokratien verbinden autoritäre Machtausübung mit demokratischen Formalitäten wie Wahlen. Beispiele für solche Staaten sind Russland, Ruanda oder Iran.

Nicht immer ist die Zuordnung zu einer dieser Regierungsformen eindeutig. Es existieren Grauzonen, wie beispielsweise in Indien. 2014 war in dem Land die Bharatiya Janata Party an die Macht gekommen, eine rechtskonservative hindunationalistische Bewegung. Seither befindet sich die indische Demokratie in einer tiefen Krise. In Sachen Zensur agiert die indische Regierung laut V-Dem mittlerweile ähnlich autokratisch wie Pakistan und schlimmer als seine beiden Nachbarn Bangladesch und Nepal. Premierminister Narendra Modi habe Verleumdungs- und Anti-Terror-Gesetze genutzt, um Kritiker zum Schweigen zu bringen. Auch die Zivilgesellschaft wird unterdrückt.

Mehr Demokratie in Tunesien, weniger in Ungarn

Nirgends kam es während des vergangenen Jahrzehnts zu einer drastischeren Aushöhlung demokratischer Normen wie in den europäischen Staaten Polen und Ungarn. Rechtskonservative Regierungen arbeiten bis heute daran, den Staat nach ihren Vorstellungen umzukrempeln. Beide griffen den Rechtsstaat an. Weitere Länder mit sehr negativen Entwicklungen sind Brasilien, die Türkei, Serbien und Benin. Im globalen Durchschnitt, so die Wissenschaftler des V-Dem-Instituts, sei die Qualität der Demokratie auf das Niveau von 1990 zurückgefallen.

Die Daten zeigen: In den meisten Fällen beginnt ein autokratischer Staatsumbau damit, dass Medien, Wissenschaft und Zivilgesellschaft in ihrer Freiheit eingeschränkt werden. Daneben treiben Regierende oft eine gesellschaftliche Polarisierung durch Desinformationskampagnen voran. Erst dann werden Institutionen wie Gerichte angegriffen oder die Fairness der Wahlen eingeschränkt.

Am meisten verbessert hat sich die Lage während der vergangenen Dekade hingegen in Tunesien, Armenien, Gambia, Myanmar und Niger. Doch der Fortschritt in diesen überwiegend kleinen Ländern ist fragil. Im Februar dieses Jahres putschte das Militär in Myanmar – eine Entwicklung, die der Demokratie-Report noch nicht berücksichtigt. Tunesien wiederum hat mit einer ökonomischen Krise zu kämpfen, die viele Bürger desillusioniert, weil sich ihre Lebensbedingungen seit der demokratischen Revolution im Jahr 2010 nicht verbessert haben. Armenien findet sich nach der bitteren Niederlage im Krieg um die Kaukasusregion Bergkarabach an einem politischen Scheideweg – die Reformer sind unter Druck. Und der Niger wird durch dschihadistische Aufständische bedroht.

Demos fallen wegen Corona aus

2019 machte V-Dem noch Dutzende Länder aus, in denen es zu pro-demokratischen Massenprotesten kam. Bedingt durch die Lockdowns während der Corona-Pandemie ist deren Zahl auf den niedrigsten Stand seit etwa einem Jahrzehnt zurückgegangen. Die schlimmsten Befürchtungen der Wissenschaftler im Hinblick auf die Folgen der Pandemie für die Demokratie hätten sich bislang jedoch nicht erfüllt.

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Fußnoten

  1. V-Dem Institute (Hg.): Autocratization Turns Viral: Democracy Report 2021, auf: v-dem.net (10.3.2021).

Autor:innen

Ist seit 2019 Redakteur bei KATAPULT. Studierte Islamwissenschaft und Zeitgeschichte. Journalistische Schwerpunkte: Kriege und Konflikte, internationale Politik, Autoritarismus und Menschenrechte.

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