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Autokratisierung

Demokratien unter Druck

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Ein Drittel der Weltbevölkerung lebt in Staaten, die heute deutlich weniger demokratisch sind als noch vor zehn Jahren – darunter Brasilien, die Türkei, Ungarn, Nicaragua, die Vereinigten Staaten und Polen. Wegen Premierminister Narendra Modis repressivem Regierungsstil droht Indien der Verlust des Status als Demokratie.

Dieses triste Bild zeichnet der jüngste Demokratie-Report des V-Dem-Instituts. Das an der Universität Göteborg ansässige Forschungsprogramm versucht, Demokratie mithilfe Hunderter Indikatoren messbar zu machen. Rund 3.000 Länderexperten liefern die Daten. V-Dem steht für „Varieties of Democracy“.

Eine »Welle der Autokratisierung«?

In 37 Ländern seien 2019 Medienzensur und repressive Maßnahmen gegen die Zivilgesellschaft intensiviert worden. Auch die Freiheit der Wissenschaft gerate weiter unter Druck. In alle Weltregionen reicht die von den Autoren ausgemachte momentane „Welle der Autokratisierung“: Lateinamerika sei auf ein Maß an Demokratie zurückgeworfen worden, das man zuletzt 1992 gemessen habe. Die Region Asien-Pazifik sei wieder auf dem Niveau der 1980er angelangt und in Osteuropa habe die Demokratie den schwersten Stand sei dem Zerfall der Sowjetunion.

Das V-Dem-Institut teilt die Welt in vier Regierungsformen: Liberale Demokratien, Wahldemokratien, Wahlautokratien und geschlossene Autokratien. Die liberale Demokratie unterscheidet sich dabei von der Wahldemokratie durch eine deutlichere Ausprägung der Bürgerrechte und einen starken Rechtsstaat, der Minderheiten und Individuen vor der Tyrannei der Mehrheit schützt und die Macht der Exekutive begrenzt. Wahlautokratien verbinden autoritäre Machtausübung mit demokratischen Formalitäten wie Wahlen. Bei geschlossenen Autokratien handelt es sich um klassische Diktaturen.

Mehrheit der Weltbevölkerung lebt in Autokratien

Erstmals stuft das Institut mit Ungarn einen EU-Staat als Wahlautokratie ein. Noch vor zehn Jahren galt das Land als liberale Demokratie, doch nachdem Viktor Orbán 2010 erneut an die Macht kam, erlitt das Land einen dramatischen Abstieg. Presse- und Wissenschaftsfreiheit, Bürgerrechte und Zivilgesellschaft wurden eingeschränkt, die Fairness der Wahlen nahm ab. Die Autoren weisen jedoch darauf hin, dass eine eindeutige Kategorisierung oft nicht möglich sei, weil es zwischen den einzelnen Regierungsformen Grauzonen gebe. In eine solchen falle auch Ungarn.

Konnten im Rekordjahr 2010 noch 45 Staaten als liberale Demokratien identifiziert werden, sind es heute nur noch 37. Sie beherbergen etwa 14 Prozent der Weltbevölkerung. 54 Prozent leben mittlerweile wieder in Autokratien. Blickt man jedoch etwas weiter zurück, wird klar: Noch immer steht die Welt so wenig autokratisch da wie kaum je zuvor.

Und es gibt auch gute Nachrichten: Zum einen existieren demokratische Hoffnungsschimmer wie Tunesien oder Armenien, auch wenn sich diese fast nur in kleine Staaten finden. Zum anderen wächst weltweit auch der Widerstand gegen autoritäre Tendenzen. Hat es 2009 noch in 27 Prozent aller Staaten erhebliche pro-demokratische Massenproteste gegeben, konnten solche 2019 in 44 Prozent aller Staaten registriert werden. Ob in Algerien, Hongkong, Polen, Sudan oder Malawi: Überall gehen Menschen für Bürgerrechte und freie Wahlen auf die Straße. In 22 Staaten erzwang die Zivilgesellschaft mit solchen Protesten in den letzten zehn Jahren nennenswerte Reformen.

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Fußnoten

  1. V-Dem Institute: Autocratization Surges – Resistance Grows. Democracy Report 2020, auf: v-dem.net (März 2020).
  2. Einige kleine Inselstaaten und Belize werden von V-Dem bislang nicht berücksichtigt.

Autor:innen

Ist seit 2019 Redakteur bei KATAPULT. Studierte Islamwissenschaft und Zeitgeschichte. Journalistische Schwerpunkte: Kriege und Konflikte, internationale Politik, Autoritarismus und Menschenrechte.

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