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Im Oktober 2013 riefen die italienische Marine und Küstenwache die Operation »Mare Nostrum« ins Leben. Sie sollte Geflüchtete auf See retten sowie Schleuser bekämpfen. Doch bereits früh stand die Operation in der Kritik. Zum einen aufgrund ihrer monatlichen Kosten in Höhe von neun Millionen Euro, aber auch wegen des Arguments, die Seenotrettung führe unbeabsichtigt zu mehr Migration nach Europa.Es wird dabei von zwei Seiten argumentiert: dass sich einerseits die Geflüchteten durch die Präsenz von Seenotrettern erst aufs Meer begeben, um irregulär einzureisen; aber auch, dass Schleuser verstärkt Ausreisen arrangieren, weil sie davon ausgehen können, dass die Seenotretter die Geflüchteten aufnehmen. Diese Argumentation lässt sich als »Pull-Faktor« zusammenfassen – bis heute ohne wissenschaftliche Belege. Im Deutschen ist dieser Begriff als »Sogwirkung« zu verstehen. Neu ist die Behauptung nicht, wie ein Blick in die Geschichte zeigt. Aber sie ist noch immer nicht korrekt.
Als 1975 der Vietnamkrieg endete, begann für die Bevölkerung eine jahrelange Leidenszeit. Die aussichtslose Situation in dem verwüsteten Land brachte viele Vietnamesen dazu, sich mit Schiffen und Booten auf die Flucht über das Meer in andere Länder zu begeben. In Vietnam herrschte große Armut und Eltern sahen für ihre Kinder keine Zukunftsperspektive. Zudem brach bereits 1978 der nächste Krieg mit Kambodscha aus, viele fürchteten um ihr Leben. Die Situation spitzte sich zu einer humanitären Krise zu, die ein weiteres Jahrzehnt andauern sollte. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 250.000 Menschen bei der Flucht über das Meer ums Leben kamen. Im Südchinesischen Meer retteten damals norwegische Handelsschiffe und andere Akteure viele Menschen aus Seenot. So etwa eine deutsche Gruppe, die 1979 die Rettungsorganisation Cap Anamur gründete. Bis 1987 bewahrte sie etwa 11.000 Menschen in den Gewässern vor Vietnam vor dem Tod. Der Gründer Rupert Neudeck erhielt zahlreiche Auszeichnungen – auch über seinen Tod hinaus. In diesem Kontext kam zum ersten Mal das Pull-Faktor-Argument auf. Der Vorwurf lautete: Rettungsmissionen wie die von Cap Anamur führen dazu, dass es zu mehr Migration kommt. Ein Mythos, der sich trotz wissenschaftlicher Gegenargumente bis heute sehr hartnäckig in der politischen Debatte hält.
Erst gefeiert, dann kriminalisiert
So auch im Fall der Migration über das Mittelmeer: Nach etwas mehr als einem Jahr stellte Italien Mare Nostrum ein. Einige EU-Staaten warfen der Operation vor, ein Pull-Faktor zu sein. Der CDU-Politiker und damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière etwa sagte: »Mare Nostrum war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen.« Zudem fühlte sich Italien bei der Finanzierung der Operation im Stich gelassen, da das Land einen vergleichsweise großen Teil der Kosten trug. Und zusätzlich sollte die Einstellung der Operation populistische Kräfte besänftigen.
Denn diese beharrten darauf, dass die Rettung der Menschen die Migration erst provozierte. Stattdessen begann im November 2014 die Operation »Triton«, geführt von der europäischen Agentur für die Grenzschutz und Küstenwache, besser bekannt als Frontex. Im Gegensatz zu Mare Nostrum zielte Triton allerdings auf die Sicherung der EU-Außengrenzen ab, nicht auf Seenotrettung. Grenzkontrollen statt Rettungsmissionen, Letztere nur als eine Art Nebeneffekt. Zudem waren die Ressourcen für Triton gekürzt worden.
Das Ausbleiben offizieller Seenotrettung sorgte aber nicht dafür, dass weniger Menschen in Seenot gerieten. Daher gründeten sich zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich anstelle der offiziellen Missionen selbst in die Meerenge zwischen Sizilien und Tunesien und vor die libysche Küste begaben. Nichtregierungsorganisationen nahmen rasch eine Schlüsselrolle bei der Seenotrettung im Mittelmeer ein. Bis 2016 waren zehn verschiedene NGOs dort tätig. Ihnen warf man bald vor, ähnlich wie Mare Nostrum als ein Pull-Faktor für Migration zu wirken. Doch wie schon 2013 gab es auch zu diesem Zeitpunkt keinen wissenschaftlichen Beleg dafür.
Anfangs ging diese Erzählung vor allem von kleinen, rechtsextremen Gruppen aus. Doch im Dezember 2016 zitierte die Financial Times Auszüge aus einem vertraulichen Bericht von Frontex, demzufolge NGOs über Lichtsignale indirekt mit Menschenschmugglern auf See kommuniziert hätten. Lichtsignale, die klare Hinweise gäben, in welcher Richtung sich die Retter befänden. In einem späteren Bericht korrigierte die Zeitung ihre Berichterstattung: Frontex habe lediglich Bedenken geäußert, nicht aber eine Kooperation von NGOs und Schmugglern nahelegen wollen. Dennoch: Zwei Monate später trat Frontex-Chef Fabrice Leggeri vor die Presse und wiederholte indirekt einige dieser Anschuldigungen in einem Interview für die Tageszeitung Die Welt. Zudem formulierte Frontex auch in ihrer jährlichen Risikoanalyse das Pull-Faktor-Argument. In der Folge leiteten italienische Staatsanwälte Sonderuntersuchungen gegen verschiedene NGOs ein. Auch der italienische Senat beschloss daraufhin, öffentliche Anhörungen abzuhalten. Diese kamen aber zu dem Ergebnis, dass man aus Mangel an Beweisen vom Vorwurf der Absprachen von NGOs mit Schleusern absehen werde, aber dass die NGOs gründlicher überprüft werden müssten.
Ein Blick auf die Debatte in Deutschland ist dabei aufschlussreich: Benedikt Funke, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Schifffahrt des Deutschen Museums in München, hat das medial verbreitete Bild über Such- und Rettungsaktionen von NGOs in der Migrationsdebatte untersucht. Er zeichnet nach, wie diese unter Beschuss gerieten. 2016 lag der Schwerpunkt auf der humanitären Krise: Berichte befassten sich zumeist mit den Opfern und Überlebenden, einschließlich detaillierter Artikel über Einzelpersonen. 2017 aber veränderte sich die Berichterstattung, befeuert von der Beschlagnahme der Iuventa, einem Schiff der NGO Jugend Rettet, dessen Besatzung man Kontakte zu Schleppern vorwarf. NGOs standen nun vermehrt unter dem Verdacht, ein Pull-Faktor zu sein. Die Bild beschuldigte NGOs, Menschenhändler direkt zu unterstützen.
Funke kommt zu dem Schluss, dass sich der Schwerpunkt von humanitären Bedürfnissen hin zu einer stärkeren Beschäftigung mit sicherheitsbezogenen Fragen verlagert habe. Egal ob in Deutschland oder Österreich, das Narrativ ist in der politischen Debatte weiterhin populär. 2019 sagte etwa der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, dass der »NGO-Wahnsinn« gestoppt gehöre: »Ich bleibe bei meiner Linie: Die Rettung aus der Seenot darf nicht mit einem Ticket nach Mitteleuropa verbunden sein.«11 Und erst kürzlich äußerte Horst Seehofer bei einem Treffen der EU-Innenminister in Luxemburg, dass es nicht zu einem »Taxi-Service zwischen Libyen und Italien« kommen dürfe.
In diesem Kontext verschob sich die öffentliche Meinung über die NGOs. Der Regierungswechsel in Italien im Sommer 2018, als die populistische Fünf-Sterne-Bewegung mit der rechtsradikalen Lega koalierte, heizte die negative Stimmung gegenüber NGOs auf See an. Beeinflusst vom Pull-Faktor-Argument zwang die italienische Regierung sie dazu, einen Verhaltenskodex zu unterzeichnen. Bei Nichtunterzeichnung untersage Rom die Ausschiffung von Migranten in Italien. Die Häfen wurden für Schiffe unter ausländischer Flagge, die irreguläre Migranten beförderten, für geschlossen erklärt. Ein Sicherheitserlass kriminalisierte die NGO-Aktivität, italienische Gerichte beschlagnahmten mehrere NGO-Schiffe. Systematisch schikaniert und kriminalisiert, schränkte dies die Aktivitäten der Rettungsorganisationen im Mittelmeer ein.
Wie Wissenschaft das Argument zerlegt
Die Wissenschaft kritisiert das Pull-Argument vehement. Benedikt Funke nennt als Beispiel die aktuelle Situationen auf den Kanarischen Inseln: Dort wie auch auf Spanien landen immer mehr Geflüchtete, nachdem Italien seine Häfen für die Schiffe von Seenotrettern schloss, obwohl es Funke zufolge dort keine zivilen Seenotretter gibt. Das heißt, die Fluchtrouten haben sich über staatliche Aktionen auf europäischen wie auf afrikanischen Festland verschoben – vom Mittelmeer hin zum Atlantischen Ozean. Dennoch hält sich die Erzählung vom Pull-Effekt hartnäckig. Auch den Forschern Eugenio Cusumano von der Universität Leiden und Matteo Villa von der Universität Mailand zufolge hat sich die Migrationsforschung lange entlang des zweigleisigen Push- und Pull-Konstrukts orientiert. Politikfeldanalysen, auf die sich politische Akteure häufig berufen, bedienten sich meistens dieser Denkweise. Das Modell stammt ursprünglich aus der Wirtschaftswissenschaft. Als ein Push-Argument bezeichnet man zum Beispiel, wenn sich Menschen in ein anderes Land begeben, weil die dortigen ökonomischen oder auch kriegerischen Zustände sie dazu drängen.
Die Forscher lieferten mit ihrer 2019 veröffentlichten Studie eine neue, fundierte Analyse, die das Pull-Faktor-Argument bezüglich NGOs bestreitet. Cusumano und Villa kombinierten Daten der UN-Flüchtlingsorganisation, der Internationalen Organisation für Migration und der italienischen Küstenwache. Ergebnis: Zwischen 2014 und 2018 besteht kein signifikanter Zusammenhang zwischen den Seenotrettungen der NGOs und den Abfahrten von der libyschen Küste. 2015 sank die Gesamtzahl der Abfahrten aus Libyen im Vergleich zum Vorjahr leicht, und das obwohl die Zahl der von NGOs geretteten Migranten stark anstieg. Ab Juli 2017 sank die Zahl der Migranten, die Libyen verließen, während die NGOs fast die Einzigen waren, die noch Seenotrettung betrieben. Ebenso stellten die beiden Forscher fest, dass es in den 85 Tagen, in denen die NGOs an der Such- und Rettungsmission teilnahmen, nicht mehr Abreisen gab als in den 225 Tagen, an denen allein die Küstenwache und Marine der Regierung von Tripolis Seenotoperationen durchführte, die Migranten abfing und nach Libyen zurückbrachte. Stattdessen schlussfolgern die Forscher, dass die Vereinbarung zwischen Italien und den libyschen Milizen vom Juli 2017, die Wetterbedingungen und der gewaltsame Konflikt in Libyen seit April 2019 die Abfahrten von der libyschen Küste beeinflussen beziehungsweise Migranten vor dem Versuch einer Überfahrt nach Europa abhalten.
Wieso sich Wissenschaft nicht durchsetzt
Eugenio Cusumano erklärt gegenüber dem KNICKER, warum sich die Erzählung um den Pull-Faktor trotz wissenschaftlicher Gegenbeweise so hartnäckig hält. Zunächst einmal klinge das Argument sehr plausibel. Es appelliere an den »gesunden Menschenverstand« – jedenfalls wenn man sich zuvor noch nicht mit dem Thema beschäftigt hat. Auf der anderen Seite vermutet er, dass die Gesellschaft eine Erzählung braucht, die die humanitäre Untätigkeit begründet. So sei es sehr bequem, zu denken, dass Seenotrettungseinsätze vielleicht nicht das Richtige sind, denn dann wäre es moralisch auch vertretbar, keine durchzuführen.
Zusätzlich zeige sich, etwa anhand von Klimafragen, dass man sich in einer Art Post-Wahrheitsgesellschaft befinde, in der sich die Öffentlichkeit, aber auch Politiker zunehmend gegen Fakten wehren. Cusumano sagt allerdings auch: »[...] wir sind nicht in der Lage, mit Zuversicht zu behaupten, dass es nie einen Pull-Faktor gibt. Was wir beweisen konnten, ist, dass es im Mittelmeerraum in dem untersuchten Zeitraum keinen Pull-Faktor gab. Es stimmt also, dass hier weiterer Forschungsbedarf besteht.« Matteo Villa und er versuchen derzeit, die Ergebnisse für weitere Forschung zu verallgemeinern. In aktuellen Tests haben sich ihre bisherigen Befunde weiter erhärtet.
Dieser Text stammt aus KNICKER-Ausgabe 10 zum Thema Seenotrettung. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. Den KNICKER gibt es mit KATAPULT im Kombi-Abo oder als Einzelausgabe im KATAPULT-Shop.
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