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Die liberalen Demokratien Europas und Nordamerikas sehen sich seit Jahren einem Stresstest ausgesetzt. Populistische Parteien und Politiker rütteln an ihrem Wertefundament. Die Neuordnung des Justizwesens in Polen, die Beschneidung der Pressefreiheit in Ungarn, aber auch die aggressive Rhetorik Donald Trumps: Von Einzelfällen mag man nicht mehr reden. Angesichts dieser Entwicklungen liegt die Frage nahe, ob Europa und Nordamerika im “Zeitalter des Populismus” angekommen sind.
Dass der politische Umgangston rauher geworden ist, bestreiten die wenigsten Kommentatoren. Auch bekleiden mittlerweile Personen öffentliche Ämter, deren Wählbarkeit vor zwanzig Jahren undenkbar war. Ob das alles für die These von einem “Zeitalter des Populismus” spricht, ist trotzdem fraglich. Schaut man auf den Anteil der Wahlberechtigten, die populistische Kräfte ins Amt getragen haben, kann von flächendeckender Zustimmung nicht die Rede sein: Beata Szydło errang die absolute Parlamentsmehrheit in Polen 2015 mit 19 Prozent aller möglichen Stimmen. Viktor Orbáns Parteienbündnis vereinigte 2014 27 Prozent der Wahlberechtigten auf sich - was sich aber in zwei Dritteln der Parlamentssitze niederschlug. Und Trump reichte vor vier Jahren rund ein Viertel aller möglichen Stimmen, um ins Weiße Haus einzuziehen. Aus liberaldemokratischer Perspektive gibt es also noch Grund zur Hoffnung.
Einen Vorschlag, den Aufstieg des Rechtspopulismus in den westlichen Demokratien zu bremsen, hat die Politikwissenschaftlerin Anthoula Malkopoulou im Australian Journal of Political Science formuliert. Die Einführung einer allgemeinen Wahlpflicht, so Malkopoulou, würde den Rechtspopulismus seiner Grundlage berauben. Warum aber sollte eine höhere Wahlbeteiligung populistischen Parteien schaden?
Wer wählt die Populisten ...
Nicht nur im deutschsprachigen Raum wird immer wieder die These vertreten, dass Populisten die sozial und wirtschaftlich Abgehängten repräsentierten. Die AfD nahm dankend an und versuchte, sich als “Partei der kleinen Leute” zu inszenieren. Neuere Studien haben dieses Bild korrigiert. Gewählt wurden populistische Kräfte demnach nicht in erster Linie von den sozial und wirtschaftlich schwächeren Teilen der Bevölkerung. Vielmehr zogen sie vor allem Wählergruppen an, die zur Mittelschicht gerechnet werden müssen - bei denen aber die Angst vor sozialem Abstieg weitverbreitet war oder ist. Gestimmt hatten die Wählerinnen und Wähler der Populisten vorher häufig für moderate Parteien. Von diesen erwarten sie seit Jahren aber offenbar keine Verbesserung der eigenen Situation mehr. Diese ist in der Tat angespannt.
Seit rund 30 Jahren gerät die Mittelschicht in den OECD-Staaten zunehmend unter Druck. Das ist vor allem deshalb problematisch, weil es sich noch immer um die zahlenmäßig größte Bevölkerungsgruppe handelt. In der Bundesrepublik Deutschland wird ihr mehr als jeder Zweite zugerechnet. Gängigen Definitionen zufolge gehört man der Mittelschicht an, wenn man als Single monatlich zwischen 1.496 und 2.804 Euro verdient - netto. Immer mehr Menschen an ihrem unteren Ende befürchten jedoch, in materiell unsichere Verhältnisse abzurutschen. Der gut verdienende Postangestellte von einst ist im Zuge umfangreicher Privatisierungen zum unsicher beschäftigten Paketboten geworden. Und auch ein über Jahre überdurchschnittlich hohes Einkommen schützt nicht vor dem schnellen Fall in Hartz IV. Was aber sollte die Einführung einer Wahlpflicht an dieser Stelle ändern?
… und wer wählt überhaupt nicht?
Die Politikwissenschaftlerin Malkopoulou argumentiert, dass eine allgemeine Pflicht zur Stimmabgabe eine andere Politik begünstigen würde - und zwar eine sozialere. Warum sollte das so sein?
Politik wird in Demokratien unter Berücksichtigung des Wählerwillens gemacht. Das heißt nicht, dass sich jeder Wähler und jede Wählerin in allen politischen Entscheidungen wiederfindet. Politiker und Politikerinnen müssen aber die Wünsche und Interessen der Bürgerschaft berücksichtigen, wenn sie politische Entscheidungen fällen - und wiedergewählt werden möchten. Die Interessen und Wünsche einer speziellen Gruppe fallen jedoch durchs Raster: die der Nichtwähler. Regelmäßig wird nach Wahlen von der “Partei der Nichtwähler” gesprochen. Deren “Stimmenanteil” ist oftmals bemerkenswert groß. Bei der Bundestagswahl 2017 lag er bei 23,8 Prozent, bei der Europawahl 2019 sogar bei 38,6.
Entscheidend ist nun, dass Nichtwähler nicht zufällig und gleichmäßig über alle Bevölkerungsgruppen verteilt sind. Selbst skeptische Stimmen geben zu, dass es vor allem die sozial und wirtschaftlich Schwächeren sind, die ihr Wahlrecht nicht wahrnehmen.
Das ist problematisch. Der Demokratieforscher Wolfgang Merkel spricht von einer “Zweidrittel-Demokratie”. Weil die politischen Parteien wissen, dass das untere Gesellschaftsdrittel überdurchschnittlich häufig nicht wählen geht, richten sie ihre Politikangebote vor allem an den Bedürfnissen der oberen zwei Drittel aus. Die Folge ist eine Politik, die vor allem diesen bessergestellten Gruppen dient - und die Lebensbedingungen am unteren Ende der Gesellschaft zunehmend schlechter werden lässt. Dass die Abstiegsängste eines Teils der Mittelschicht in Panik übergehen, dürfte wesentlich mit diesem Umstand zu tun haben. Die Einführung einer Wahlpflicht, davon ist Anthoula Malkopoulou überzeugt, könnte hier Abhilfe schaffen.
Vorbild: Australien
Wäre nämlich die gesamte Bürgerschaft gezwungen, ihre Stimme abzugeben, müsste sich das parteipolitische Angebot wieder gleichmäßiger an alle Bevölkerungsteile richten. Da dann mehr Stimmen bei den sozial und wirtschaftlich Abgehängten gewonnen werden könnten, würden politische Parteien deren Bedürfnisse in den Blick nehmen. Im besten Fall würde dies zu einer Politik führen, die wieder stärker an den Interessen der verwundbarsten Teile der Bürgerschaft ausgerichtet ist.
So ist der Ausbau sozialstaatlicher Strukturen in Australien wesentlich auf die Einführung der Wahlpflicht im Jahr 1924 zurückzuführen. Ähnliches konnte für die Schweiz gezeigt werden. Am Beispiel des Kantons Vaud fanden Politikwissenschaftler aus Zürich und St. Gallen heraus, dass eine verpflichtende Stimmabgabe bei Volksabstimmungen die Zustimmungsraten für linke und sozialdemokratische Politikinhalte verdoppelte. Als Grund dafür machen sie unter anderen eine höhere Beteiligung der sozial schwächeren Wählergruppen aus.
Wenn also die Einführung einer Wahlpflicht zu einem Ausbau sozialer Sicherungsnetze führte und die wirtschaftliche Ungleichheit minimierte, wäre bei der Mittelschicht die Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg weniger groß. Die Folge: Demokratien wären weniger anfällig für Parteien und Politiker, die mit antidemokratischen Parolen die Unzufriedenen auf ihre Seite ziehen wollen. Ist die Einführung der Wahlpflicht also eine Art demokratietheoretisches Allheilmittel?
Drei Argumente und wie sie entkräftet werden
Mindestens drei Gründe sprechen aber auch gegen eine Wahlpflicht. Zunächst stellt sie lediglich einen äußeren Anreiz dar, zur Wahl zu gehen. Sie wirkt also als einfaches Reiz-Reaktions-Schema. Demnach wird erwartet, dass ein äußerer Reiz aufseiten der Betroffenen immer eine bestimmte Reaktion nach sich zieht. Wird dem Einzelnen also mit Strafe gedroht, falls er nicht wählen geht, wird er seine Stimme abgeben. In den meisten Staaten, in denen heute eine Wahlpflicht besteht, werden bei Nichtbefolgung Geldstrafen verhängt. Diese wirken jedoch - je nach finanzieller Situation der Betroffenen - unterschiedlich. Während die einen erheblich unter ihnen leiden, fallen sie für die anderen kaum ins Gewicht. Einen flächendeckenden und gleichmäßigen Effekt hätten die Strafen vermutlich nur, wenn sie weitreichend wären, beispielsweise im Falle einer Gefängnisstrafe. Dass Gerichte derart herbe Strafen für verhältnismäßig hielten, darf aber bezweifelt werden. Aber: Der von Malkopoulou erhoffte Effekt würde unter der unterschiedlichen Betroffenheit der Bevölkerungsgruppen wohl nur bedingt leiden. Der Wahlpflicht entziehen könnten sich vor allem die wohlhabenden Teile der Bürgerschaft. Die sozial schwächeren Nichtwähler - und um deren Wahlbeteiligung geht es der Politikwissenschaftlerin ja vor allem - hätten diese Option nicht in gleichem Umfang.
Zum Zweiten aber ziehen populistische Parteien und Politiker nicht nur solche Wählerinnen und Wähler an, die angstvoll in die eigene wirtschaftliche und soziale Zukunft blicken. Wie die Politikwissenschaftlerin Hanna Schwander und ihr Kollege Philip Manow für Deutschland zeigen konnten, war die AfD auch dort sehr erfolgreich, wo schon vor ihrer Gründung rechtsradikale Kräfte vergleichsweise stark waren. In diesen Fällen ist zu vermuten, dass nicht nur die wirtschaftliche Lage und Abstiegsängste der Wählerinnen und Wähler ausschlaggebend für die Wahl der Rechtspopulisten waren, sondern auch tief sitzende Weltbilder. Kürzlich erhobene Daten zu populistischen Einstellungen in Deutschland unterstreichen dies. Zwar lassen sich für das Jahr 2020 im Vergleich zu 2018 deutlich weniger populistische Überzeugungen in der Bevölkerung ausmachen. Den harten Kern extrem eingestellter Menschen betreffe dies aber nicht. Sechs von zehn Wählern der AfD seien rechtsextrem eingestellt. Daraus ist zu folgern, dass ein gewisser Bevölkerungsanteil unabhängig von wirtschaftlicher Lage und den politischen Angeboten der etablierten Parteien populistische und extreme Kräfte wählen würde.
Drittens muss gefragt werden, wie nachhaltig die Pflicht zur Stimmabgabe wirkt. Dauerhaft politisiert würden Menschen, die zur Wahl gezwungen werden, nicht. Das ergab eine Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Eine zeitweise bestehende Wahlpflicht in einigen Teilen Österreichs habe die dortige Wahlbeteiligung zwar erhöht. Nach ihrer Abschaffung sei die Quote jedoch schnell wieder gesunken. Die Autorinnen und Autoren der Studie vermuten sogar, dass mit Einführung der Wahlpflicht die innere Motivation, zur Wahl zu gehen, sank. Was für Österreich gezeigt werden konnte, scheint allerdings nicht überall zu gelten. In Australien gaben knapp 90 Prozent der befragten Wählerinnen und Wähler an, dass sie auch ohne Pflicht zur Wahl gehen würden. Es ist zu vermuten, dass das Wählen immer mehr zur schönen Gewohnheit wird, je länger eine Wahlpflicht existiert. Aus einer anfänglich äußerlichen Motivation würde demzufolge nach und nach eine innere Überzeugung.
Der populistischen Versuchung wird eine Wahlpflicht mit großer Wahrscheinlichkeit trotzdem nicht in jedem Fall begegnen können. Dass sie populistischen Parteien schaden würde, darf hingegen vermutet werden.
Dieser Text erschien in der 20. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr.
Autor:innen
Geboren 1986, ist seit 2020 Redakteur bei KATAPULT. Er hat Politikwissenschaft und Geschichte in Freiburg und Greifswald studiert und wurde mit einer Arbeit im Bereich Politische Ideengeschichte promoviert. Zu seinen Schwerpunkten zählen die deutsche Innenpolitik sowie Zustand und Entwicklung demokratischer Regierungssysteme.