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Fluchtursachen

Warum Menschen fliehen

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Der Mensch ist mobil. Er war es immer schon. Ansonsten wäre er noch heute ausschließlich in seiner Herkunftsregion irgendwo in Ostafrika zu finden. Die Menschheit verteilt sich mittlerweile jedoch auf dem ganzen Erdball. Grund für die nomadische Verbreitung auf und innerhalb der verschiedenen Kontinente waren einerseits die den Menschen innewohnende Neugier sowie die Habgier nach neuen Besitztümern und Schätzen, vor allem aber auch die Notwendigkeit, äußeren Umständen zu trotzen – etwa um sich Umweltphänomenen anzupassen oder den natürlichen Wanderbewegungen von Viehherden zu folgen.

Erst die Neolithische Revolution vor rund 12.000 bis 10.000 Jahren brachte mit der Erfindung des Ackerbaus und der Viehzucht eine erste Sesshaftwerdung des Menschen.[1] Fortan galt es jedoch, das eigene Territorium gegen andere zu »verteidigen«, und auch mit der Umwelt musste sich sich der Mensch vermehrt vor Ort auseinandersetzen. Bei der nächsten Dürre- oder Flutperiode einfach weiterzuziehen, wurde zur Ausnahme; die geografische und vor allem emotionale Verortung auf bestimmte Koordinaten und eine »Heimat« der Regelfall.

Diese Entwicklung führte dazu, dass sich auf der Reise befindende Menschen, sofern es sich nicht um Touristen handelte, vermehrt als Fremde empfunden wurden. Die großen Wanderbewegungen der letzten Jahrhunderte riefen stets Ängste vor dem Neuen hervor, waren jedoch unumstritten auch treibende Kräfte des menschlichen Fortschritts. Heute ist Mobilität durch moderne Technologie für große Teile der Menschheit so leicht und erschwinglich wie nie zuvor. Es bestehen jedoch nach wie vor enorme Barrieren für Millionen von Menschen, nicht zuletzt bei der Frage des »richtigen« Reisepasses – rund 3,8 Millionen Menschen sind zudem immer noch staatenlos.[2]

Dennoch ließ die fortschreitende Globalisierung den Erdball »schrumpfen«. Viele können sich Flugreisen leisten, fast jeder kann mit seinem Smartphone weltweit navigieren und nicht zuletzt die sozialen Netzwerke ermöglichen unter anderem den regen Austausch von Informationen und Ideen aus allen Weltregionen. Dadurch kommen beispielsweise nicht nur Millionen von Urlaubern und Abertausende Studierende und Geschäftsleute aus aller Welt in Europa an, sondern auch Flüchtende aus Südasien, Sub-Sahara-Afrika oder Mittelamerika.

Mit mindestens 68,5 Millionen Menschen,[3] ziemlich genau der Bevölkerungsgröße von Thailand, sind derzeit fast ein Prozent der Weltbevölkerung auf der Flucht. Als international anerkannte Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und dem Zusatzprotokoll von 1967 gelten jedoch nur jene Personen, die sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung auf Grund ihrer Ethnie, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugungen außerhalb jenes Landes befinden, deren Staatsbürgerschaft sie besitzen.[4] Auf die rund 40 Millionen Binnenvertriebenen, also Menschen, die innerhalb ihres Staates auf der Flucht sind, trifft diese Definition damit nicht zu. Sie haben also allein schon deshalb keinen Anspruch auf Asyl, weil sie auf ihrer Flucht keine internationale Grenze passierten, und das, obwohl auch in ihrem Fall die Regierung ihres Heimatlandes nicht in der Lage ist, sie vor lebensgefährlichen Bedrohungen zu schützen, oder sie selbst an Leib und Leben bedroht sind.

Kaum jemand flieht freiwillig

Vor jeder Flucht von zu Hause steht die Entscheidung, das alte Leben hinter sich zu lassen und in ein neues, unbekanntes Leben zu flüchten. Studien über den Grad der Freiwilligkeit von Migration und Flucht gibt es vor allem deshalb nicht, weil es stets schwer zu definieren ist, wo der Übergang von Freiwilligkeit zum Zwang liegt. Gibt es freiwillige Migration? Bei kriegerischen Auseinandersetzungen und Verfolgung ist die Antwort meist klar. Wer das Leben von Familienmitgliedern oder das eigene schützen will, muss fliehen. Doch inwiefern ist die Flucht eines malischen Bauern, dessen Ernte aufgrund der Klimaerwärmung zum wiederholten Male ausfällt, wirklich freiwillig? Verlässt die junge ägyptische Schriftstellerin freiwillig ihre Heimat, wenn sie weiß, dass sie sich zwar in einigen anderen Jobs einen Lebensunterhalt verdienen könnte, mit der Ausübung ihrer Leidenschaft und der Äußerung ihrer Meinung aber ihre persönliche Freiheit riskiert? Was ist mit dem senegalesischen Fischer in x-ter Generation, der arbeitslos wird, weil die europäische Grenzschutzorganisation Frontex mit ihren restriktiven Patrouillen den lokalen ökologischen Biorhythmus stört und Fischern langfristig die Lebensgrundlage zerstört?[5]

Was all diese – als »Fluchtursachen« beschriebenen – Schicksale gemeinsam haben, ist der Wille europäischer Spitzenpolitiker, sie zu bekämpfen. Die Bekämpfung von Fluchtursachen ist die Umschreibung für das Reduzieren der Migration nach Europa. Und obwohl sich die politischen Entscheidungsträger über das Ziel relativ einig zu sein scheinen, sind die Wege dahin nach wie vor sehr unterschiedlich. Die europäische Politik zeigt oft zu wenig Verständnis für die komplexen Zusammenhänge, die Migration letztlich fördern, was die Lösung der Probleme zusehends erschwert.

Krieg und Vertreibung

Flucht ist grundsätzlich »eine notwendige Anpassungsstrategie an sich verschlechternde Lebensbedingungen und hat tiefliegende politische, ökologische und wirtschaftliche Ursachen«[6]. Der Hauptfluchtgrund für Menschen, die in Europa um Schutz ersuchen, ist derzeit Krieg.

Auch wenn zwischenstaatliche Kriege, die etwa für den Massenexodus im Zweiten Weltkrieg oder in den Jugoslawienkriegen verantwortlich waren, mittlerweile selten sind, gibt es derzeit zahlreiche innerstaatliche und transnationale Konflikte wie etwa in Syrien (6,3 Millionen Flüchtlinge außer Landes), Afghanistan (2,6 Millionen) oder dem Südsudan (2,4 Millionen),[7] die allesamt massenhafte Fluchtbewegungen produzieren.

Einer repräsentativen Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zufolge war für 70 Prozent aller Asylantragsteller in Deutschland zwischen 2013 und 2016 die Angst vor Krieg und gewaltsamen Konflikten das Hauptmotiv, die Flucht aus dem Heimatland zu wagen.[8] Kriege und Gewaltkonflikte entstehen allerdings »nicht über Nacht, sondern auf der Basis wirtschaftlicher, sozialer und politischer Entwicklungen, die zu einer gewaltsamen Austragung angestauter Konflikte führen«[9]. Von europäischen (NATO-)Staaten mitgetragene Militärinterventionen, wie jene in Afghanistan 2001, im Irak 2003 oder in Libyen 2011, die oft in einer Destabilisierung der Gesellschaft gipfeln, sind dabei ebenso anzuführen wie die äußerst fragwürdigen Waffenlieferungen an Regime mit schlechter Menschenrechtslage, wie etwa Saudi-Arabien.

Die Rache der Umwelt

Angefeuert durch wiederholte Rekordhitze, zahlreiche Waldbrände, massive Ernteeinbußen und gravierende Überflutungen sowie Hagel- und Sturmschäden, entstand in den vergangenen Jahren auch in Europa zusehends ein Bewusstsein dafür, dass klimabedingte Migration das mitbestimmende Thema der Gesellschaft im 21. Jahrhundert sein wird. Etwa um 1985 fand der Begriff des »Umweltflüchtlings« Einzug in den öffentlichen Diskurs, seit 2007 ist auch die Bezeichnung »Klimaflüchtling« zusehends in den Medien präsent.

Dennoch weigern sich Staaten nach wie vor, Schutz vor Klimakatastrophen suchenden einen ähnlichen Schutz wie vor Krieg fliehenden Menschen zu gewähren. Doch schon heute steht klimabedingte Migration infolge von Naturkatastrophen und Umweltschäden weltweit an erster Stelle der Fluchtursachen.[10] Die EU trägt als drittgrößter CO2-Emittent nach China und den USA dabei eine besondere Verantwortung. Die Tatsache, dass der europäische Reichtum der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte auf der Verbrennung fossiler Energieträger und der Ausbeutung natürlicher Ressourcen anderer Weltregionen fußt, verstärkt diese Verantwortung noch.

Das Internationale Zentrum zur Überwachung von Binnenvertriebenen (IDMC) zählte im vergangenen Jahr 18,78 Millionen neue Binnenvertriebene aufgrund von Naturkatastrophen und zusätzlich 11,77 Millionen neue Binnenvertriebene durch Gewalt und Konflikt.[11] Verschiedene Studien gehen davon aus, dass in den nächsten Jahrzehnten bis zu eine Milliarde Menschen zu Klimavertriebenen werden könnten. Besonders gefährdet sind »die dichtbevölkerten Flussdeltas (z. B. Ganges-Brahmaputra, Nil, Amazonas, Mississippi, Irrawaddy, Mekong, Gelber Fluss), vom Meeresspiegelanstieg besonders betroffene Küstenstädte (z. B. Guangzhou, Guayaquil, Ho-Chi-Minh-Stadt, Abidjan), Inselstaaten (z. B. Kiribati, Tuvalu, Malediven) und Trockengebiete (z. B. Nigeria, Niger, Ostafrika, Nordafrika, Zentralasien)«[12]. Im Dürregürtel der Sub-Sahara-Region leben derzeit etwa 300 Millionen Menschen, deren Lebensmittel- und Trinkwasserversorgung durch den Klimawandel akut bedroht sind. Gepaart mit Bevölkerungsdruck, schwacher Staatlichkeit oder fragiler Landwirtschaft, wirkt der Klimawandel nicht nur als Risikomultiplikator, sondern senkt auch die Hemmschwelle zur Fluchtentscheidung.

Wie Europa Migration fördert

Um diese Hemmschwelle möglichst hoch zu halten, setzen Politiker wie Orbán, Kurz, Seehofer oder Salvini auf eine Reduktion sogenannter »Pull«-Faktoren. Gemeint ist damit zumeist eine Abschottung Europas nach außen, um möglichst wenigen Menschen einen Anreiz zur Migration zu geben und die Flucht nach Europa möglichst unattraktiv zu machen. Mögliche Mittel sind etwa sehr strenge Asylgesetze, der Entzug sozialer Hilfeleistungen oder eine Vergiftung des politischen Klimas.

Seit Jahrzehnten bemüht sich Europa jedoch, auch mittels Entwicklungshilfe den Menschen vor Ort zu helfen. Ziel dieser Investitionen ist es, jene »Push«-Faktoren der Migration zu minimieren, die Menschen in erster Linie zur Flucht treiben. Entgegen der weitverbreiteten Meinung, dass Entwicklungshilfe die Menschen dazu animiert, sich in ihrer Heimat ein besseres Leben aufzubauen, ist das zusätzliche Geld oft jedoch genau jener Betrag, der die Flucht erst ermöglicht.

Die Ökonomen Michael Clemens und Hannah Postel vom Center for Global Development fanden dies in einer vielbeachteten Studie zu globalen Migrationsströmen seit den 1960er­-Jahren heraus.[13] In 67 von 71 Fällen, in denen sich Staaten mit niedrigen Einkommen zu Ländern mittleren Einkommens entwickelten, stieg die Migration. Der wachsende Wohlstand dämpft Migration dabei erst ab einem jährlichen Pro-­Kopf-­Durchschnittseinkommen von 7.000 bis 8.000 US-­Dollar. In Staaten mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 8.000-10.000 US-Dollar entscheiden sich dennoch dreimal so viele Menschen zur Migration wie in Staaten mit 2.000 US-Dollar Jahreseinkommen. Viele westafrikanische Staaten wie Mali, der Sudan, Eritrea und die Elfenbeinküste sind noch weit davon entfernt, die 8.000-Dollar-Schwelle zu erreichen. Pakistan steht kurz davor, Tunesien und der Irak haben sie bereits überschritten.[14] Flucht ist ein äußerst kostspieliges Unterfangen, das sich die am schlechtesten verdienenden Bevölkerungsschichten zumeist gar nicht erst leisten können.

Eurozentrischer Handel

Generell wird bei der Entwicklungshilfe zu sehr auf wenig wirksame Einzelprojekte gesetzt, die kaum imstande sind, Armut langfristig zu bekämpfen. Die fortschreitende »kolonialistische« Ausbeutung Afrikas durch den »Westen« zeigt sich auch daran, dass die Gelder der Entwicklungshilfe bei Weitem nicht einmal jenen Zahlungsströmen entsprechen, die aus Afrika in die Industrieländer abfließen. Laut dem Anthropologen Jason Hickel entstand so seit den 1980ern ein negativer Saldo von rund 26,5 Billionen US-Dollar zulasten Afrikas.[15] Zudem ist der chinesische Einfluss auf dem Kontinent mittlerweile extrem stark. China knüpft seine Entwicklungshilfe kaum an politische, sondern an rein wirtschaftliche Forderungen, was zahlreichen autoritär geführten Staaten recht ist.

Was die afrikanischen Staaten tatsächlich bräuchten, um langfristig zu florieren, wären Arbeitsplätze für die junge Bevölkerung, Investitionen in Sektoren abseits der Rohstoffgewinnung, Freihandel untereinander sowie die Möglichkeit, Produkte und nicht nur Rohstoffe in die EU und in andere Schwellen- und Industrieländer zu exportieren. Gleichzeitig dürfte Afrika nicht verpflichtet werden, Importe aus jenen Staaten ebenfalls zollfrei auf den Kontinent zu lassen. Während in der EU 70 Prozent der Exporte an andere EU-Staaten gehen und innerhalb Asiens 60 Prozent der Exporte auf dem Kontinent bleiben, ist das in Afrika nur zu 18 Prozent der Fall.[16]

Dass die französischen und britischen Kolonialherren meist nur eine Infrastruktur von den ertragreichen Minen zur nächstgelegenen Hafenstadt errichteten, erschwerte den interkontinentalen Handel lange Zeit zusätzlich. Zwar bauten die postkolonialen Herrscher Dämme, Schienennetzwerke und andere Prestigeprojekte, oft ging dies aber auch auf Kosten einer nachhaltigen Ernährungsstrategie für das Volk, sodass »Baguette und Toastbrot aus EU-Weizen [...] zumindest in den westafrikanischen Küstenländern inzwischen zu Grundnahrungsmitteln geworden«[17] sind. Die billigen EU-Produkte, die mittlerweile die afrikanischen Märkte überschwemmen, waren ihrerseits eine Folge der niedrigen Außenzölle, die die EU Afrika »empfahl«, um die Nahrungsmittelversorgung auch in Krisenzeiten zu garantieren. Wie mit einem Trojanischen Pferd eröffnete sich dadurch der EU die Möglichkeit, ihren Absatzmarkt um Afrika zu erweitern. Die Folgen für die lokale Entwicklung der Landwirtschaft in einer Region wie Westafrika, wo rund 70 Prozent der Erwerbstätigen im Agrarsektor arbeiten, sind offensichtlich.

Ein Job aus der Krise

Ein geregelter Job gilt als enorm wichtiger Faktor, um Menschen nicht von daheim fortgehen zu lassen. Sind nur rund zehn statt 30 Prozent der Jugendlichen arbeitslos, so halbiert sich die Anzahl emigrierender junger Menschen in einem Land.[18] Dabei ist es wichtig, zu verstehen, dass all jene Faktoren, egal ob Jugendarbeitslosigkeit, Jahresdurchschnittseinkommen oder ökonomische Perspektivlosigkeit, keineswegs als alleinige Treiber hinter der Migration stecken. Wie eingangs und in jeder Studie, die sich mit der Thematik beschäftigt, erwähnt, handelt es sich bei menschlicher Mobilität stets um ein komplexes System mit vielen Variablen.

Neue Entwicklungen, wie neue Fluchtrouten, akute Hungersnöte oder voranschreitende Extremisten können die Hemmschwelle für Migration senken und eine Neubewertung der Situation zur Folge haben. Eine Bewertung, für die selten alle Informationen verfügbar sind, die zum Treffen einer rationalen Entscheidung eigentlich nötig wären. Letztlich spielt auch der zwischenmenschliche Faktor eine entscheidende Rolle. Fratzkes und Salants Studie[19] ergab, dass die Erfahrungen vorangegangener Familienmitglieder ein Hauptentscheidungsgrund sind.

Nicht nur weil »erfolgreiche« Migranten oft über die Mittel verfügen, die Reise eines weiteren Familienmitglieds zu finanzieren, sondern auch weil sie tatsächlich die Risiken abschätzen und Menschen zu ihrem lebensbedrohlichen Abenteuer ermutigen können. Kaum jemand geht freiwillig von zu Hause weg. Eine solidarische europäische Politik sollte Strategien finden, dass es möglichst wenige müssen.

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Autor:innen

Ehemaliger Praktikant bei KATAPULT.

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