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Studie: „Deflecting Privilege: Class Identity and the Intergenerational Self“ von Sam Friedman, Dave O'Brien und Ian McDonald (Januar 2021).
Verschiedene Studien zeigen, dass sich viele Beschäftigte ihrer eigenen sozialen Schicht bewusst sind. Auch in einer neuen, britischen Interviewstudie konnte sich die Mehrheit der Befragten korrekt ihrer Klassenherkunft zuordnen. Das heißt, ihre Wahrnehmung beziehungsweise ihre Antworten passten zur tatsächlichen Familiengeschichte. Dabei handelte es sich vor allem um Angehörige der Arbeiterklasse oder der Mittelschicht. Allerdings verorteten sich auch 36 der 175 Interviewten fälschlicherweise eher als aus der Arbeiterklasse stammend – obwohl sie aus privilegierten Schichten kamen. Warum ist das so? Diese Frage stellten sich die drei Soziologen Sam Friedman von der London School of Economics and Political Science, Dave O'Brien von der Universität Edinburgh und Ian McDonald von der Royal Holloway University in London.
Die Frage ist Teil eines größer angelegten Forschungsprojekts, das untersucht, wie die Herkunft aus einer bestimmten Klasse den beruflichen Werdegang in Fach- und Führungsberufen beeinflusst. Friedman, O’Brien und McDonald stützen sich dabei auf Daten aus dem sogenannten UK Labour Force Survey – einer staatlich organisierten Erhebung – sowie 175 Interviews mit Arbeitskräften aus vier verschiedenen Fallstudien: bei einem nationalen Fernsehsender, einem großen Wirtschaftsprüfer, einem Architekturbüro und bei Selbständigen.
Bei den 36 Befragten, die sich fälschlicherweise der Arbeiterklasse zuordneten, stach hervor, dass sie die Einordnung mit der Herkunftsgeschichte ihrer Vorfahren erklären. Sie berichten von den ehemals schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen ihrer Eltern und Großeltern und bringen deren einstige Klassenzugehörigkeit mit der eigenen in Verbindung, obwohl sie es leichter hatten als ihre Vorfahren. Deren ehemals prekäre Lage dient den Befragten also zum einen als Begründung, sich selbst der Arbeiterklasse zuzuordnen. Zum anderen lenken sie dadurch von den selbst erfahrenen Privilegien ab, die sie durch den sozialen Aufstieg ihrer Vorfahren hatten: Damit spielen sie umfassende finanzielle Unterstützung während der Ausbildung oder besondere schulische Privilegien herunter.
Darüber hinaus grenzen sich die Befragten so auch von den Berufslaufbahnen ihrer Kolleg:innen ab. In den Interviews begründen sie ihren Aufstieg allein mit ihrer eigenen Leistung – entgegen vermeintlich schwierigen Voraussetzungen. Andere Arbeitskräfte aus ihrem direkten beruflichen Umfeld hätten es aufgrund ihrer Privilegien dagegen deutlich einfacher gehabt. Selbst von ähnlichen Vorteilen profitiert zu haben, gestehen sich die Befragten dabei nicht ein.
Die Soziologen empfehlen, kritisch weiterzuforschen und dabei das Ideal der sogenannten Leistungsgesellschaft in den Blick zu nehmen. Dieses Ideal nämlich, so legen diese und andere Studien nahe, diene nicht nur als Maßstab, nach dem Arbeitskräfte routinemäßig ihren Lebens- und Karriereverlauf bewerten. Sondern auch dazu, die eigene Ausgangsposition in einer Karriere ebenso wie die anderer zu beurteilen.
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