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»Sie drängten uns in die Wüste und ließen uns dort zurück. [...] Ich hatte keine Schuhe, ich lief barfuß«, berichtet Abdul gegenüber Human Rights Watch. 16.000 Menschen wurden zwischen Januar und Oktober 2020 von den algerischen Sicherheitsdiensten gen Niger abgeschoben. Darunter auch Asylbewerber. Doch nur etwa die Hälfte dieser Menschen stammte auch aus Niger. Abdul wurde in Sierra Leone geboren. Andere Migranten berichten, dass ihnen die algerischen Soldaten ihr gesamtes Hab und Gut genommen hätten. Ein junger Mann aus der Elfenbeinküste erzählt: »Sie sagten uns: ›Ihr seid mit nichts nach Algerien gekommen, und ihr werdet mit nichts gehen.‹«
Auch auf dem Landweg ans Mittelmeer sind Migranten und Flüchtlinge mit Gewalt konfrontiert. Viele Staaten verstoßen im Umgang mit ihnen systematisch gegen internationales Recht. Algerien baut vor allem aus Eigeninteresse ein restriktives Grenzregime auf. Andernorts treibt die Europäische Union entsprechende Maßnahmen voran. So wurden für die nordafrikanischen Staaten zwischen 2015 und 2020 rund 650 Millionen Euro aus dem EU-Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika (EUTF) bewilligt. Das Geld soll offiziell »eine wirksame Steuerung der Migrationsströme unter Wahrung der Menschenrechte« unterstützen. Seit einigen Jahren versucht die EU zunehmend, Flüchtlinge davon abzuhalten, überhaupt erst das Mittelmeer zu erreichen.
Doch viele Beobachter fürchten, dass sich das Sterben so nur verlagert. Insgesamt umfasst der EUTF etwa fünf Milliarden Euro. Dieses Geld stammt überwiegend aus bestehenden Entwicklungshilfeetats. Finanziert werden neben reinen Grenzschutzmaßnahmen auch klassische Entwicklungsprojekte, die darauf ausgerichtet sind, Menschen dazu zu bewegen, in ihrer Heimat zu bleiben. Ursprünglich sollte auch die legale Migration durch den EUTF gefördert werden, doch nur etwa 1,5 Prozent der Mittel fließen in diesen Bereich. Hinzu kommen weitere große Summen, die über andere Wege investiert werden, um Migration zu verhindern.
Keine Kontrollbefugnisse fürs Europäische Parlament
Der EUTF wurde 2015 auf dem Gipfels von Valletta eingerichtet, auf dem europäische und afrikanische Staatschefs zusammenkamen: Wer sich zu Abschiebeabkommen oder anderen Maßnahmen bereit erklärt, erhält als Belohnung Entwicklungshilfe. An Äthiopien etwa floss kurz nach dem Gipfel etwas Geld, dann blieben die Zahlungen fast ein Jahr lang aus – bis das ostafrikanische Land Ende 2017 einem Rücknahmeabkommen zustimmte. Sechs Tage später wurden 38 Millionen Euro aus dem EUTF freigegeben, weitere große Summen folgten. Weil alles »flexibel« bleiben soll, hat das Europäische Parlament keine Kontrollbefugnisse.
Die niederländische Korrespondentin Maite Vermeulen hat versucht, diese Geldflüsse am Beispiel Nigerias nachzuvollziehen. Das bevölkerungsreichste Land Afrikas soll ein wichtiger Partner Europas in Sachen Migration werden. Doch in Nigeria ist man davon nicht sonderlich begeistert, weil Migranten ein Eckpfeiler der Wirtschaft sind. Allein 2018 überwiesen sie 25 Milliarden US-Dollar aus dem Ausland zurück in ihre Heimat. Das sind sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Und so bemühten sich europäische Staats- und Regierungschefs darum, Überzeugungsarbeit in der Hauptstadt Abuja zu leisten. Vermeulen zählte in dem Land Ende 2019 mindestens 50 migrationsbezogene Projekte, die von elf europäischen Ländern finanziert werden, und 32 Maßnahmen, die direkt von der EU unterstützt werden. Insgesamt hatten diese Projekte ein Volumen von 770 Millionen Euro. Etwa die Hälfte davon fließt unmittelbar in die Grenzkontrolle. Nur 0,09 Prozent der Summe ist dazu gedacht, legale Migration zu ermöglichen.
Unter dem neuen EU-Budget, das die Jahre 2021 bis 2027 umfasst, sollen die Ausgaben zur Migrationsabwehr noch deutlich steigen. Geplant ist unter anderem ein Integrated Border Management Fund, der 6,5 Milliarden Euro für Grenzschutzmaßnahmen innerhalb und außerhalb der EU beinhalten soll. Weitere 71,8 Milliarden sollen in das Neighbourhood, Development and International Cooperation Instrument (NDICI) fließen. Dieses ersetzt unter anderem den Entwicklungshilfeetat. So wird die Entwicklungszusammenarbeit weiter mit der Außen- und Sicherheitspolitik verschmolzen: Die EU behält sich etwa vor, die Mittelvergabe an Maßnahmen zum »Migrationsmanagement« zu knüpfen. Dergleichen war schon zuvor Praxis. Ein Bericht der Hilfsorganisation Oxfam stellte Anfang 2020 fest, dass die europäische Entwicklungszusammenarbeit zunehmend dazu diene, Migration zu verhindern, statt Armut zu bekämpfen. Dieser Trend droht sich nun weiter zu verschärfen. Das entwicklungspolitische Ideal einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe wird so endgültig ad absurdum geführt, wie etwa die Welthungerhilfe kritisiert.
Die EU zwingt die Menschen auf riskantere Routen
Wer verstehen will, wie komplex die Folgen von Europas Abschottungspolitik lokal in Afrika wirken, muss einen Blick nach Niger werfen. Die dort gelegene Großstadt Agadez ist ein Knotenpunkt vieler Migrationsrouten. Die EU will sie zum europäischen Grenzposten machen. 2015 drängte sie Niger dazu, das »Gesetz 036« zu verabschieden, das den Transport beziehungsweise den Schmuggel von Migranten kriminalisiert und mit hohen Gefängnisstrafen und Enteignungen bedroht. Die EU initiierte außerdem Programme zur Unterstützung einiger weniger ehemaliger Schmuggler. Doch die Durchreisenden waren ein erheblicher Wirtschaftsfaktor für die gesamte Stadt. Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration trugen sie 2015 rund 100 Millionen Euro zur lokalen Wirtschaft von Agadez bei.
Außerdem zwingt das Gesetz 036 Menschen auf gefährlichere Routen fernab von Straßen und Siedlungen, um den Sicherheitsdiensten zu entgehen.
Eine Studie des Flüchtlingshilfswerk UNHCR und des Mixed Migration Centre schätzt, dass allein auf den Flüchtlingsrouten durch Libyen und Ägypten zwischen 2018 und 2019 mindestens 1.750 Menschen starben. Eine hohe Dunkelziffer ist wahrscheinlich. Auf keinem anderen Abschnitt der Strecke dürften so viele verdurstet, verhungert oder tödlich verunglückt sein wie in der Wüste zwischen Niger und Libyen. Entlang der gesamten Route sind Menschen brutaler Gewalt ausgesetzt, darunter »Verbrennung mit heißem Öl, geschmolzenem Plastik oder erhitzten Metallgegenständen, Stromschläge, Fesseln in Stresspositionen und wiederholte sexualisierte Gewalt, oft im Zusammenhang mit Lösegeldforderungen«.
Staatliche Sicherheitskräfte sind dabei für fast die Hälfte aller Gewalttaten gegen Migranten entlang der beiden untersuchten Routen verantwortlich. Diese Sicherheitskräfte sind die lokalen Partner der EU im Kampf gegen die Migration. Brüssel stellt Niger etwa 11,5 Millionen Euro aus dem EUTF zur Verfügung, um unter anderem Überwachungsdrohnen, -kameras und -software anzuschaffen. Auch Geräte, mit denen sich Mobilfunkdaten in einem bestimmten Gebiet abfangen lassen, sollen finanziert werden.
Darüber hinaus bildet die EU in Niger lokale Sicherheitskräfte aus. Seit 2016 liegt auch hier ein Fokus ganz klar auf der Migrationsbekämpfung. Spanische und französische Polizeibeamte bilden wiederum mit einheimischen Beamten gemeinsame Teams, die ebenfalls gegen illegale Migration vorgehen sollen. Außerdem werden mit mehr als 40 Millionen Euro aus dem EUTF weitgehend autonom und grenzübergreifend agierende Antiterroreinheiten für die westliche Sahelzone ausgebildet – die auch für die Bekämpfung transnationaler Kriminalität verantwortlich sind. Wo staatliche Kontrolle nicht existiert, machten europäische Staaten wie Frankreich laut lokalen Beamten aber auch keinen Halt davor, für die Migrationsbekämpfung auf Milizen zurückzugreifen.
Verstärkt die EU innenpolitische Spannungen?
Nigers Nachbarländer Mali und Burkina Faso sind seit einigen Jahren Schauplatz immer weiter eskalierender dschihadistischer und ethnischer Gewalt. Mehr als 1,3 Millionen Menschen wurden bisher vertrieben. Auch in Niger nimmt die Gewalt zu. Morten Bøås, ein Konfliktforscher am Norwegian Institute of International Affairs in Oslo, warnt: Die derzeitige EU-Politik in der Sahelzone sei ein Beispiel für einen Trend, bei dem die EU zunehmend Sicherheits- und Migrationspolitik miteinander verknüpfe und alles durch diesen Rahmen betrachte. So bekämpfe sie unmittelbare Sicherheitsbedrohungen, anstatt sich auf längerfristige Lösungen zu konzentrieren. Zwar sank die Zahl der Migranten, die durch Niger reisen, in den letzten Jahren deutlich – Bøås zweifelt jedoch an der Nachhaltigkeit der Maßnahmen. Außerdem fürchtet er, dass die Antimigrationspolitik der EU der Stabilität Nigers eher schaden werde, indem sie die innenpolitischen Spannungen in politisch fragilen Staaten mit schwacher Verwaltung erhöht und so die politischen und sozialen Systeme weiter unter Druck setzt, die schon jetzt massive Schwierigkeiten haben.
Brutale Autokraten sowie arme und schwache Staaten werden zu den Vollstreckern eines externalisierten europäischen »Grenzschutzes« und zu dessen größten Profiteuren. Um Geflüchtete und Migranten abzuwehren, stärkt die EU genau die Strukturen, die überhaupt erst dazu führen, dass Menschen ihre Heimat verlassen.
Dieser Text stammt aus KNICKER-Ausgabe 10 zum Thema Seenotrettung. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. Den KNICKER gibt es mit KATAPULT im Kombi-Abo oder als Einzelausgabe im KATAPULT-Shop.
Autor:innen
Ist seit 2019 Redakteur bei KATAPULT. Studierte Islamwissenschaft und Zeitgeschichte. Journalistische Schwerpunkte: Kriege und Konflikte, internationale Politik, Autoritarismus und Menschenrechte.