Gewalt gegen indigene Völker - von rechts und von links
Zum ersten Mal seit 2018 werden in Brasilien neue Reservate für die indigene Bevölkerung ausgewiesen. Zu den 726 bestehenden kommen sechs neue hinzu. Ein entsprechendes Dekret hat der linksgerichtete Präsident Lula da Silva im Frühjahr unterzeichnet. Insgesamt machen die geschützten Gebiete der Indigenen etwa 1,2 Millionen Quadratkilometer aus und damit knapp 14 Prozent der Fläche Brasiliens. 1In diesen Schutzgebieten dürfen ausschließlich indigene Völker die natürlichen Ressourcen nutzen, Bergbau ist untersagt und der Staat darf den Grund und Boden nicht verkaufen. Im größten Land Südamerikas leben rund 900.000 Indigene, davon über ein Drittel in urbanen, der Rest in ländlichen Gegenden.2 Lula verspricht, sicherzustellen, „dass so viele indigene Reservate wie möglich ausgewiesen werden“. Die Indigenen seien schließlich die „Wächter des Waldes“.3
Nach vier Jahren unter dem offen antiindigenen Rechtsextremisten und Klimawandelleugner Jair Bolsonaro klingt das nach einem großen Fortschritt. Unter dem neuen, linken Staatschef scheint ein Ende der jahrzehntelangen Gewalt möglich. Aber können Indigene unter linken Regierungen wirklich auf weniger Gewalt hoffen? Ein dreiköpfiges Team um den brasilianischen Kriminologen Salo de Carvalho ist der Ansicht: Das hängt auch davon ab, wie Gewalt definiert wird. Die Auswertung der Forscher:innen ergab, dass die indigene Bevölkerung Brasiliens in den letzten Jahrzehnten sowohl unter linken als auch unter rechten Regierungen Gewalt ausgesetzt war. Allerdings auf unterschiedliche Weise. Im Fokus der Untersuchung standen die beiden linksgerichteten Regierungen unter dem nun erneut regierenden Luiz Inácio Lula da Silva und Dilma Rousseff sowie die beiden rechtsgerichteten Regierungen unter Michel Temer und Jair Bolsonaro.
Die drei Forschenden werteten eine Reihe staatlicher und nichtstaatlicher Statistiken aus, analysierten Gutachten, Medienberichte, polizeiliche Untersuchungen und Gerichtsurteile. Diese bewerteten sie vor dem Hintergrund der jeweils aktuellen politischen Entwicklungen. So entstand eine Datenbank, die Fälle von Gewalt gegen die indigene Bevölkerung im Zeitraum von 2003 bis 2019 erfasst. Sie zeigt nicht nur, dass die Indigenen unter allen vier Regierungen Gewalt ausgesetzt waren, sondern auch, wie sich diese nach politischer Ausrichtung der Regierung unterschied. Die Forschenden unterteilten sie in drei Arten: direkte, symbolische und strukturelle beziehungsweise institutionelle Gewalt. Während die Gewalt, die von linken Regierungen ausging, eher strukturell-institutioneller Natur war, wendeten die Rechten zusätzlich symbolische und direkte Gewalt an. Dabei ist direkte Gewalt das, was man herkömmlich unter Gewalt versteht, also etwa körperliche oder Waffengewalt. Strukturelle Gewalt ist das Ergebnis von gesellschaftlichen oder institutionellen Rahmenbedingungen, die manchen Teilen der Gesellschaft nutzen, während sie anderen schaden. Symbolische Gewalt ist kulturell verankert und zeigt sich oft in Denkmustern oder öffentlichen Diskursen und dient häufig als Legitimation für andere Formen von Gewalt.4 Aber was heißt das konkret für die Menschen?