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Seit 1995 nimmt die ungleiche Verteilung von Bevölkerungsgruppen in Deutschland zu, am stärksten in den neuen Bundesländern. Beim Grad ihrer sozialen Entmischung – der sogenannten Segregation – liegen ostdeutsche Städte an der Spitze: Im Jahr 2014 hatten Schwerin mit 40 Prozent und Rostock mit 39,4 Prozent die höchsten Werte des Segregationsindex erreicht, gefolgt von Erlangen, Erfurt, Wolfsburg, Potsdam und Weimar mit Werten von jeweils über 37 Prozent – je höher der Wert dabei liegt, desto stärker sind die Orte entmischt. Das soziale Gefälle und die Kontraste zwischen einzelnen Vierteln sind in diesen Städten am stärksten ausgeprägt. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, in der die Wohnentwicklung in 74 deutschen Orten zwischen 2005 und 2014 untersucht wird.
Unter den ostdeutschen Städten bilden nur Magdeburg und Dresden eine Ausnahme. Dort hat die Segregation zwischen 2005 und 2014 zwar ebenfalls leicht zugenommen, jedoch weniger als im Durchschnitt der untersuchten Orte. Die unterschiedliche Ausprägung leiten die Autoren der Untersuchung, Marcel Helbig und Stefanie Jähnen, in einer Folgestudie unter anderem aus dem unterschiedlichen historischen und baulichen Erbe ab: Nach den starken Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg gab es in Magdeburg und Dresden große innerstädtische Brachflächen, auf denen neue Plattenbausiedlungen entstanden. Die Zahl an attraktiven und sanierten Altbauten ist hier heute geringer als anderswo. Städte, deren Zentren mehr oder weniger intakt geblieben waren, errichteten vor allem in den Sechziger- und Siebzigerjahren ausgedehnte Trabantenstädte. Von dort zogen nach 1989 immer mehr finanzstarke Bewohner weg. Viele sozialistische Wohnsiedlungen in Randlage sind bis heute wenig begehrt – wiederaufgebaute und sanierte Innenstädte stehen hingegen unter großem Nachfragedruck.
In ihrer Studie kommen die beiden Wissenschaftler zu weiteren Ergebnissen: Obwohl sie auch ethnische und Alterssegregation untersuchten, stellten sie fest, dass sich besonders häufig Personen in einem bestimmten Wohnumfeld konzentrieren, die Sozialleistungen wie Hartz IV empfangen. In 59 der untersuchten Städte nahm die Segregation bis 2014 zu. Familien mit Kindern sind am häufigsten von der Ungleichverteilung betroffen. In 36 Orten gibt es Quartiere, in denen mehr als 50 Prozent aller Kinder von sozialer Unterstützung leben.
Die Zahlen zeigen deutlich: Während einige deutsche Städte sozial durchmischt sind, hat in anderen bereits eine starke Segregation stattgefunden. Vor allem in Ostdeutschland könnte die Ballung sozial benachteiligter Gruppen in Siedlungen am Stadtrand zu einem Problem werden. Überraschend ist eine weitere Beobachtung: Der Neubau von Sozialwohnungen, also staatlich gefördertem Wohnraum, verstärkt diesen Prozess sogar.
Der Einfluss meines Nachbarn
Um die Ungleichverteilung der Bevölkerung zu beschreiben, nutzen die Forscher den Begriff der Segregation: Personen mit gemeinsamen sozialen, demografischen oder ethnischen Merkmalen konzentrieren sich – freiwillig oder erzwungen – in bestimmten Bereichen einer Stadt. In sozial segregierten Vierteln verfügen die Bewohner über ähnliche Ressourcen und Voraussetzungen wie Einkommen, Bildungsstand oder Berufsqualifikation.
Sozialräumliche Unterschiede zeigen sich zwischen zwei Extremen am deutlichsten: In einigen Städten existieren Plattenbauten und sogenannte Problemviertel mit sozial schwächeren Bewohnern auf der einen Seite und Luxusviertel im Premiumpreissegment auf der anderen Seite. Historisch betrachtet ist das Phänomen nicht neu. Bereits in mittelalterlichen Städten gliederte sich die Bevölkerung nach sozialem Stand, ethnischer Herkunft oder Beruf. Mit der Industrialisierung nahm in den wachsenden Städten die räumliche Trennung weiter zu. Repräsentative bürgerliche Wohnviertel standen Arbeitersiedlungen gegenüber.
Eine sichtbare Grenze verläuft heute häufig zwischen den großen Wohnsiedlungen mit Plattenbauten am Stadtrand und den modernisierten Innenstädten. Wie stark die Entmischung tatsächlich ausgeprägt ist, lässt sich mit dem Segregationsindex abbilden und vergleichen. Der Wert gibt die räumliche Konzentration einer Bevölkerungsgruppe im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung wieder. In jeder Berechnung liegt der Fokus auf einem einzigen Merkmal wie Arbeitslosigkeit oder Kinderarmut. Das Ergebnis zeigt an, wie viele Menschen prozentual umziehen müssten, um im gesamten Stadtgebiet gleichmäßig verteilt zu sein. Während zum Ende des Untersuchungszeitraums im Schnitt 32,2 Prozent der Arbeitslosengeld-II-Bezieher im Osten in ein anderes Viertel hätten ziehen müssen, waren es im Westen nur 25,1 Prozent. In lediglich elf der 74 untersuchten Städte kam es zu einem Rückgang der sozialen Segregation – darunter Stuttgart, Mannheim, Flensburg und Offenbach.
Die Nachbarschaft hat einen hohen Einfluss auf die Perspektive der Bewohner: »Wenn Menschen nur unter ihresgleichen leben, verlieren sie den Blick auf andere, und wenn Kinder in einem Umfeld aufwachsen, wo sie keine Chance haben für einen Aufstieg, dann ist das sozialer Sprengstoff«, so Marcel Helbig. In den Städten Rostock und Erfurt, in denen der Indexwert für die Armutssegregation von Kindern im Jahr 2014 bei 50 Prozent lag, sind negative Effekte auf die Bildung, den Zugang zum Arbeitsmarkt und auch die Gesundheit anzunehmen. Soziale Brennpunkte entstehen. Die Einrichtung privater Grundschulen könnte nach Ansicht der Forscher kurzfristig zu einer anderen Entwicklung beitragen. Für Eltern, die ihre Kinder nicht auf eine staatliche Schule im Einzugsgebiet schicken wollen, stellen sie eine Alternative zum Umzug der zumeist Wohlhabenderen in ein »besseres« Viertel dar.
Städtebau als Instrument gegen soziale Spaltung
Die soziale Mischung im Quartier erzeugt nach Einschätzung von Politikern und Wissenschaftlern eine positive Wirkung. Ihre Visionen richten sich deshalb auf eine Gesellschaft, die vielfältig zusammengesetzt in den Stadtgebieten lebt. Bislang ist im Wohnraumförderungsgesetz die rechtliche »Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen« sowie »die Schaffung und Erhaltung ausgewogener Siedlungsstrukturen« festgehalten. Was konkret darunter zu verstehen ist, wird nicht klar. Der Paragraf liefert keinen Bewertungsmaßstab dafür, wann sozial homogene beziehungsweise heterogene Strukturen als positiv oder negativ einzustufen sind.
Auf ihrem Wohnungsgipfel im September 2018 hat es sich die Bundesregierung zum Ziel gesetzt, mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, um den massiven Mangel an bezahlbarem Wohnraum auf dem Immobilienmarkt zu beheben. Dabei stützt sie sich auf die Einführung von Baukindergeld, eine Mietpreisbremse und den sozialen Wohnungsbau. Der Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums empfahl der Bundesregierung zudem, den sozialen Wohnungsbau neu auszurichten. Damit sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, müsse eine ausgewogene Mischung aus Sozialwohnungen und frei finanzierten Miet- und Eigentumsangeboten in unterschiedlichen Preissegmenten angestrebt werden – besonders dort, wo einkommensschwache Gruppen bisher nur schwer Zugang zu Wohnraum haben. Der Bau von Sozialwohnungen in ohnehin schon benachteiligten Quartieren verstärke die Segregation und Armutskonzentration.
Wie sozial gemischte Neubauquartiere idealerweise konzipiert und auch umgesetzt werden können, zeigt die Münchner Siedlung »Ackermannbogen«, die erfolgreich die Kriterien einer ausgewogenen Bevölkerungszusammensetzung berücksichtigt. Sie verfügt über eine Kombination aus Immobilien mit unterschiedlichen Förder- und Eigentumsformen – vom Doppel- und Reihenhaus bis zum Geschossbau. Das Wohnungsangebot in unterschiedlichen Preisklassen richtet sich an Singles und Großfamilien gleichermaßen.
Freie und große innerstädtische Bauflächen, wie südlich des Münchner Olympiageländes, sind nur noch selten vorzufinden. Daher müssen auch die bereits als benachteiligt eingestuften Stadtteile durch bauliche Maßnahmen und infrastrukturelle Angebote attraktiver gestaltet werden. Ziehen wieder mehr einkommensstarke Haushalte dorthin, nimmt die soziale Durchmischung zu. Ein positiver Imagewandel könnte in der Folge die Abwärtsspirale unterbrechen und weitere Investitionen vorantreiben. Gleichzeitig ist für die Bezahlbarkeit des Wohnraums für bereits ansässige Bewohner zu sorgen.
Europäische Nachbarländer mit einer langen Tradition im geförderten Sozialwohnungsbau weisen weniger starke Polarisierungen innerhalb der Stadtstruktur auf. Ein viel zitiertes Vorbild ist Wien. Die soziale Durchmischung ist hier vergleichsweise hoch und es gibt nur wenig soziale Brennpunkte. Anders als in deutschen Städten hat Wien seinen Wohnungsbestand über einen langen Zeitraum hinweg aber nicht verkauft, sondern behalten. Das Wiener Modell ist jedoch nur bedingt auf die deutschen Verhältnisse übertragbar. Das Grundprinzip könnte dennoch zur Orientierung dienen. Einseitigen Sozialstrukturen muss politisch und baulich entgegengewirkt werden.
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Autor:innen
Geboren 1988 und seit 2019 in der Redaktion bei KATAPULT und KNICKER. Sie hat Kunstgeschichte und Geschichte, mit Schwerpunkt auf den Ostseeraum, in Greifswald studiert.