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Deutschlands neue Rolle

Ist das jetzt Militarismus oder Verantwortungspolitik?

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Hochauflösend: Aktuelle Konflikte, Friedensmissionen und Interventionen im 21. Jahrhundert

Anfang Mai versetzte ein Belugawal die europäische Öffentlichkeit in Aufregung. Forscher fanden ihn vor der norwegischen Küste – ausgerüstet mit einem Geschirr, das eine russische Aufschrift trug. Ein Kameragurt? War der Wal ein russischer Spion? Auch deutsche Medien verbreiteten diese Schlagzeile massenhaft. Aber Fehlalarm. Der Wal war kein Agent, sondern nur ein Wal. Dass er so schnell bekannt wurde, dokumentiert jedoch das gewachsene Misstrauen gegenüber Russland – spätestens seit der Annexion der Krim 2014.

Die globalen Machtverhältnisse sind heute komplexer als noch zu Beginn des Jahrtausends. Russland reanimiert den Kalten Krieg, China schließt wirtschaftlich und militärisch zur Supermacht USA auf, andere Staaten wie Indien oder Brasilien dürften folgen. Kann dieser Aufstieg friedlich geschehen, oder werden den gegenwärtigen Handelsstreitigkeiten sogar Ressourcenkonflikte folgen, wie Friedensforscher der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich befürchten?

Die einflussreiche Berliner Denkfabrik »Stiftung Wissenschaft und Politik« fordert deshalb – wie viele andere Kommentatoren – eine entschlossenere deutsche Außenpolitik. Wirtschaftlich verfüge Deutschland über eine Führungsrolle, sicherheitspolitisch jedoch übernehme es zu wenig Verantwortung. Eine gemeinsame europäische Verteidigung und mehr Bereitschaft zu Auslandseinsätzen seien nötig.

Muss Europa auf- oder abrüsten?

Atomsprengköpfe, Langstreckenraketen und US-Militärbasen: Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges spielen die USA eine zentrale Rolle in der Sicherheitsarchitektur Europas. Doch mit dem Aufstieg anderer Staaten orientieren sie sich neu. Präsident Trump deutete mehrfach an, die Truppenstärke in Europa zu reduzieren. Ob sich der Kontinent im Angriffsfall selbst verteidigen könnte, ist deshalb eine zentrale Frage.

56 Prozent der Deutschen glauben einer Umfrage zufolge, dass die Hilfe der USA für eine europäische Verteidigung nicht notwendig sei. Eine Studie des Londoner Instituts für Strategische Studien von 2019 behauptet jedoch das Gegenteil. Anhand zweier fiktiver Szenarien stellten die Wissenschaftler fest, dass die europäischen Armeen nicht modern ausgerüstet und nur wenig miteinander vernetzt sind. Dafür simulierten sie einerseits einen NATO-Rückzug der USA, andererseits einen Angriff Russlands auf Polen und das Baltikum. Zusätzliche Investitionen zwischen 100 und 360 Milliarden Euro seien für den Verteidigungsapparat mittelfristig nötig. Beide Szenarien gelten zwar als unwahrscheinlich, doch in der Außenpolitik zählt auch Drohpotential, um eigene Interessen durchzusetzen.

Auch die meisten Politiker sehen Handlungsbedarf. Schweden hat 2017 die Wehrpflicht wieder eingeführt, Litauen bereits 2015. Im Kern politischer Debatten aber steht die Frage einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, vor allem: einer europäischen Armee. Der französische Präsident Macron treibt diese Idee voran, Kanzlerin Merkel befürwortet sie. Andere Mitgliedstaaten sind zwar skeptisch – mit dem Brexit fällt der mächtigste Gegner jedoch weg: Großbritannien. Seitdem werden die Kooperationspläne konkreter, auch wenn eine gemeinsame Armee noch nicht mehrheitsfähig ist.

Im Dezember 2017 einigten sich die verbleibenden EU-Staaten – mit Ausnahme von Dänemark und Malta – auf eine »ständige strukturierte Zusammenarbeit«. »Pesco«, so die Kurzform, soll eine Art Schengen-Raum für Militärinfrastruktur werden und umfasst neben einer Erhöhung der Militärausgaben zahlreiche gemeinsame Forschungsprojekte, beispielsweise die Entwicklung einer europäischen Drohne.

Der zweite Schritt folgte im April 2019. Das Europäische Parlament beschloss erstmals ein eigenes Verteidigungsbudget über mehrere Milliarden Euro. Das Ziel: die heimische Industrie zu stärken und gemeinsame Rüstungsvorhaben zu finanzieren. Weder das europäische noch nationale Parlamente haben dabei ein Vetorecht, das ist ein Novum. Rüstungsgüter für die Bundeswehr mit einem Wert über 25 Millionen Euro brauchen eine Genehmigung des Bundestages. Die Milliarden des europäischen Verteidigungsfonds werden hingegen durch die EU-Kommission und Sachverständige vergeben.

Doch Aufrüstung führt nicht zwangsläufig zu mehr Sicherheit, sondern mithin zu einem Sicherheitsdilemma, wenden Kritiker ein: Konkurrierende Mächte fühlen sich durch wachsende Militärkapazitäten bedroht und rüsten ebenfalls auf. Zudem zweifeln sie, ob hinter den immer öfter betonten »europäischen Sicherheitsinteressen« tatsächlich nur Sicherheitsbedenken stehen oder nicht doch Machtinteressen. Wird Europa etwa seine Rohstoffinteressen notfalls gewaltsam durchsetzen? In ihren Strategiepapieren formuliert die EU immerhin deutlich, dass offene Meeresrouten und Zugang zu Ressourcen hohe Priorität besitzen. Der emeritierte Leipziger Ökonom Robert Kappel warnt davor, Entwicklungs- und Friedensprojekte zu vernachlässigen, um sich auf militärische Strategien und Eigeninteressen zu konzentrieren. Die wichtigste Aufgabe deutscher Außenpolitik bestehe aktuell darin, nicht erneut in die Falle der Geopolitik zu tappen.

Merkwürdigerweise könnte eine europäische Armee der Bundesregierung die Möglichkeit eröffnen, wieder geopolitische Eigeninteressen durchzusetzen. Denn bislang muss in Deutschland das Parlament – anders als beispielsweise in Frankreich – jedem Auslandseinsatz zustimmen. Mit europäischen Streitkräften könnte auch der Versuch verbunden sein, diese engen Grenzen des Grundgesetzes zu umgehen. Konservative Politiker werben seit Langem für eine Lockerung des sogenannten Parlamentsvorbehalts. Europa könnte so schneller auf Bedrohungen von außen reagieren, die Abgeordneten verlieren jedoch ihre vorherige Kontrollmöglichkeit.

Geh doch selbst in den Krieg!

Wissenschaftler und Politiker sogenannter Sicherheitskreise fordern zudem eine stärkere deutsche Beteiligung an NATO- und UN-geführten Militäreinsätzen. Zwar ist Deutschland der viertgrößte Geber für UN-Einsätze. Militärisch engagiert es sich jedoch, wenn überhaupt, meist in ungefährlichen Ausbildungs- und Trainingsmissionen. Das sei zu wenig, meint der Hallenser Politologe Johannes Varwick, denn auch zahlreiche Bündnispartner fordern eine aktivere Rolle Deutschlands. Es profitiere von den Sicherheitsleistungen, die andere Staaten zur Verfügung stellten.

Beispiel UN-Friedensmissionen: Der Großteil der Blauhelmsoldaten stammt aus Schwellen- und Entwicklungsländern, die dadurch Devisen erwirtschaften, etwa 1.330 US-Dollar pro Soldat und Monat. Der Spitzenreiter ist Äthiopien mit einem Kontingent von über 8.000 Personen, gefolgt von Bangladesch und Indien (je knapp 7.000) sowie Ruanda (circa 6.500) – gegenüber der Bundesrepublik mit knapp 900.

»Geh doch selbst in den Krieg oder schick zuerst deine Kinder!« oder »Die kriegsgeilen deutschen Medien« – solche Social-Media-Kommentare unter Medienartikeln illustrieren, dass Militäreinsätze in der deutschen Öffentlichkeit unbeliebt sind. Die meisten Deutschen sind gegen mehr Bundeswehreinsätze, wie Umfragen immer wieder zeigen.

Das müsse sich ändern, so Varwick. Oft seien Militäreinsätze neben zivilen Maßnahmen nötig, um die Sicherheitslage zu stabilisieren und ein Übergreifen der Begleiterscheinungen etwa auf Deutschland zu verhindern. Zum Beispiel: unkontrollierte Migration, Terrorismus, internationale Kriminalität und Piraterie. Pazifismus ist aus dieser Perspektive naiv.

Moral und Interesse können sich widersprechen

Allerdings wäre es auch naiv, zu glauben, dass sich Moral und Interessen immer sauber trennen lassen. Selbst bei UN-legitimierten Einsätzen verschwimmen Eigeninteresse und Friedensauftrag, wie eine Untersuchung von Rafael Biermann von der Universität Jena am Beispiel Libyens zeigt. Das UN-Mandat 2011 sah das Durchsetzen einer Flugverbotszone zum Schutz der Bevölkerung vor Machthaber Gaddafi vor. Die alliierten Truppen gingen jedoch weit darüber hinaus und versuchten, Gaddafi zum Rücktritt zu zwingen. Mit diesem Wandel von humanitärer Intervention zum »regime change« überschritten sie nicht nur die Mandatskompetenz, sondern verhinderten von vornherein eine friedliche Verhandlungslösung – durchaus aus machtpolitischem Kalkül.

Auch in Syrien verhindern Interessen eine Verhandlungslösung. Hier setzt Russland allen UN-Vorstößen für humanitäre Maßnahmen sein Veto im Sicherheitsrat entgegen. Als die USA, Frankreich und Großbritannien 2018 deshalb ohne UN-Mandat mit Militärschlägen auf Assads mutmaßlichen Giftgaseinsatz reagierten, forderten zahlreiche Politiker und Zeitungen, Deutschland solle sich beteiligen. Allerdings ist in Syrien längst ein Stellvertreterkonflikt entstanden, an dem russische, US-amerikanische, französische, britische, türkische und vom Iran unterstützte Truppen beteiligt sind. Wer sich für eine Seite entscheidet, kann nur schlecht zwischen den Interessen vermitteln.

Das ist jedoch die Rolle, in der etwa die Völkerrechtler Christian Tomuschat (Humboldt-Universität Berlin) und Thilo Marauhn (Uni Gießen) Deutschland sehen. Sie fordern, die Bundesrepublik solle das Völkerrecht stärken, beispielsweise als Konfliktvermittlerin oder über den Internationalen Strafgerichtshof. Entscheidend dafür ist die Glaubwürdigkeit. Im Gegensatz zu den USA oder Großbritannien, die auf aktuellen Schauplätzen als Sponsoren einzelner Konfliktgruppen auftreten, hat sich Deutschland den Ruf erworben, gerade nicht nur Eigeninteressen durchzusetzen. Voreilige Entschlossenheit etwa zu Militärschlägen dürfte solche Bemühungen jedoch untergraben.

Das richtige Maß zu finden zwischen Eigen- und Sicherheitsinteressen, internationaler Verantwortung und Moral, ist die aktuelle Herausforderung deutscher Außenpolitik. Wer nur Entschlossenheit fordert, verliert dabei schnell das Augenmaß.

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Fußnoten

  1. Vgl. ETH Zürich Center for Security Studies (Hg.): Strategic Trends. Key Developments in Global Affairs, Zürich 2018.
  2. Vgl. Glatz, Rainer L.: Die Auslandseinsätze der Bundeswehr im Wandel, Berlin 2018. (SWP-Studie 7, Mai 2018)
  3. Vgl. o.A.: Die Deutschen gegen Trump: 56 Prozent sind überzeugt, dass Europa sich auch ohne die USA verteidigen kann, auf: presseportal.de (23.7.2018).
  4. Vgl. Barrie, Douglas u.a.: Defending Europe: scenario-based capability requirements for NATO’s European members, London u.a. 2018.
  5. Vgl. Dossi, Amos: PESCO-Rüstungskooperation: Potenzial und Bruchlinien. (CSS Analysen zur Sicherheitspolitik, Nr. 241, März 2019)
  6. Vgl. Europäischer Auswärtiger Dienst (Hg.): Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe. A Global Strategy for the European Union’s Foreign And Security Policy, 2016.
  7. Vgl. Kappel, Robert: Deutschlands Rolle als Zivilmacht, auf: deutschlands-verantwortung.de.
  8. Vgl. Friedenstruppen der Vereinten Nationen (Hg.): How we are funded, auf: peacekeeping.un.org.
  9. Vgl. Varwick, Johannes: Eingangsstatement auf der 7. Adenauerkonferenz (16.5.2019); Lahl, Kersten; Varwick, Johannes: Sicherheitspolitik verstehen, Bonn 2019.
  10. Vgl. Loesche, Dyfed: 70 Jahre UN-Friedensmissionen. Wer entsendet die meisten Blauhelme?, auf: de.statista.com (29.5.2018).
  11. Kommentare Twitter-Beitrag von Welt-Gruppe-Chefredakteur Ulf Poschardt vom 20.12.2018.- Vgl. Poschardt, Ulf (@ulfposh), Twitter-Post (20.12.2018).
  12. Vgl. Infratest dimap: Bundeswehr: Mehrheit lehnt Ausweitung der Auslandseinsätze ab (1.014 Befragte, 27.-29.1.2014); TNS Emnid: Soll sich die Bundeswehr bei Konflikten im Ausland stärker engagieren? (1.000 Befragte, 17.6.2014); Forsa: Sollten die Auslandseinsätze der Bundeswehr ausgeweitet werden? (1.002 Befragte, 20.5.2011).
  13. Vgl. Varwick 2019.
  14. Vgl. Biermann, Rafael: Legitimationsprobleme humanitärer Interventionen, in: Zeitschrift für Friedens- und Konflitkforschung, (3)2014, H. 1, S. 6-42.
  15. Vgl. Ecke, Jonas: Im Süden nichts Neues, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2019, H. 3, S. 84-90.
  16. Vgl. Jürgen Liminski: Militärschlag hat völkerrechtlich keine Legitimation, Interview mit Thilo Marauhn, auf: deutschlandfunk.de (29.8.2013); Marauhn, Thilo: Intervention in Support of Democratization Processes?, in: Elliesie, Hatem; Marauhn, Thilo (Hg.): Legal Transformation in Northern Africa and South Sudan, Den Haag 2015, S. 3-22.

Autor:innen

Geboren 1988, von 2017 bis 2022 bei KATAPULT und Chefredakteur des KNICKER, dem Katapult-Faltmagazin. Er hat Politik- und Musikwissenschaft in Halle und Berlin studiert und lehrt als Dozent für GIS-Analysen. Zu seinen Schwerpunkten zählen Geoinformatik sowie vergleichende Politik- und Medienanalysen.

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