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Staatsneugründungen haben mittlerweile Seltenheitscharakter. Präziser gesagt: Breite internationale Anerkennung für einen »neuen« Staat ist heute eher die Ausnahme als die Regel. Nachdem es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgrund der verschiedenen geo- und weltpolitischen Entwicklungen immer wieder zahlreiche neue Kandidaten für einen Beitritt zu den Vereinten Nationen gab, nahm dieser Trend im neuen Millennium deutlich ab. Seit 2000 gab es mit dem Kosovo, der Schweiz, Montenegro, Serbien, Osttimor, Südsudan, Tuvalu und Palästina gerade einmal acht aussichtsreiche Kandidaten für die Aufnahme in den wichtigsten aller diplomatischen Klubs. Während sowohl dem Kosovo als auch Palästina die Aufnahme bislang verwehrt blieb, könnte sich schon bald ein weiterer Kandidat aus dem ehemaligen Jugoslawien zur Liste der Anwärter hinzugesellen: Liberland.
Wären sie nach einem etwaigen achten Nachfolgestaat des Vielvölkerstaates Jugoslawien gefragt worden, hätten Kenner der südosteuropäischen Politik auf dem Balkan wohl am ehesten die serbisch-autonome Region Vojvodina oder die abtrünnige Republika Srbska in Bosnien-Herzegowina ins Spiel gebracht. Mit der Ausrufung der Freien Republik Liberland im April 2015 rechnete aber wohl kaum jemand. Und dennoch ist die Gründungsgeschichte Liberlands ein Produkt jugoslawischer Politik, entfacht durch den Zerfall ebenjenes Jugoslawiens Anfang der 90er Jahre.
Die Mikronation Liberland ist lediglich sieben Quadratkilometer groß und liegt unmittelbar an der Grenze zwischen den jugoslawischen Nachfolgestaaten Serbien und Kroatien. Obwohl sich auf dem Gebiet bisher kein Liberländer dauerhaft niederlassen durfte, wird es von keinem der beiden Anrainerstaaten offiziell beansprucht. Sowohl das angrenzende Kroatien als auch das auf der anderen Seite der Donau liegende Serbien vermeiden dies aus taktischen Gründen. Ebendiese Skurrilität veranlasste vor knapp mehr als zwei Jahren den tschechischen Politiker Vit Jedlicka, das Territorium als »Terra nullius«, als staatsrechtlich herrenloses Niemandsland, zu identifizieren. Er beanspruchte es fortan für sich und sein Staatsprojekt.
Ein Grenzdisput und viel taktisches Geplänkel
Doch wieso beanspruchen weder Kroatien noch Serbien das Gebiet für sich? Ende des 19. Jahrhunderts wurde in dieser Region der Donauverlauf massiv begradigt, um eine bessere kommerzielle Nutzung durch leichtere Navigation zu ermöglichen. Laut internationalem Recht verschiebt sich eine internationale Flussgrenze, gebildet durch den sogenannten Talweg, jedoch nur dann automatisch mit, wenn eine Veränderung auf natürlichem Wege und allmählich entstanden ist. Bei abrupten, von Menschenhand erzeugten Veränderungen einer Flussgrenze bleibt die alte Grenzlinie bestehen. Gemäß dem alten Verlauf der Donau reichen seitdem mehrere »Land Pockets« (Landzungen) der beiden Staaten über den begradigten Fluss hinweg in das Gebiet auf der gegenüberliegenden Seite der Donau.
Ob die mit dem Ziehen der korrekten Grenzlinie beauftragte innerjugoslawische Kommission 1945 jenen internationalen Standards bewusst keine Bedeutung beimaß, ist ungeklärt. Jedenfalls wurde der neue Verlauf der Donau als Grenze zwischen den Teilrepubliken festgelegt. Bis zum kroatischen Unabhängigkeitskrieg und der damit einhergehenden Auflösung Jugoslawiens hatte dies auch kaum praktische Auswirkungen. Die Weltgeschichte lehrt jedoch regelmäßig, dass sich das Konfliktpotential eklatant erhöht, sobald innerstaatliche Grenzen zu internationalen werden. So auch im Falle Serbiens und Kroatiens.
Überraschenderweise begrüßten Anfang der 90er Jahre zunächst jedoch beide Staaten den Vorschlag der Europäischen Gemeinschaft, den neuen Flussverlauf als internationale Grenze anzuerkennen. Sowohl Serbien als auch Kroatien traten vom geschlossenen Abkommen aber rasch wieder zurück. Kroatien missfällt dabei vor allem, dass die östlich der Donau liegenden und von Serbien kontrollierten Land Pockets rund zehnmal größer sind als die serbischen, die wiederum von den Kroaten kontrolliert werden. Es ist naheliegend, dass beide Staaten die lukrativeren, weil größeren Landteile am Ostufer ihr Eigen nennen wollen.
Genau dies veranlasste beide Staaten, die westlich der Donau gelegenen Land Pockets bislang nicht offiziell zu beanspruchen, da sie fürchten, dass dies als Abtretung ihres Anspruches auf die östlichen Gebiete verstanden werden könnte. Darauf fußt Liberlands Anspruch auf die größte der vier westlichen Pockets. Als Jedlicka und seine Mitstreiter das Territorium als Erste seit der Auflösung Jugoslawiens für sich beanspruchten, wurden sie zwar belächelt und verhöhnt, aber ihnen wurde von keinem der beiden Staaten offiziell widersprochen. Ganz im Gegenteil: Serbien erklärte sogar, dass dies theoretisch nicht mit seinen Territorialinteressen kollidieren würde.
Kroatien schien sich jedoch der potentiellen Gefahr des Projekts von Anfang an bewusst. Es verhindert seither mittels polizeilicher Maßnahmen die aktive Besiedlung des Gebiets durch Liberländer, von denen es nach eigenen Angaben mittlerweile mehr als 100.000 gibt (bei mehr als 400.000 Staatsbürgerschaftsanträgen). Auch bei kroatischen Behörden ist die unter Juristen, Politologen und Politikern gängige Lehrmeinung anscheinend bekannt, wonach ein abgegrenztes Territorium mit einer ständigen Bevölkerung – neben einer intakten Regierung, um mit anderen Staaten in diplomatische Beziehungen treten zu können – nach wie vor als wichtigstes Merkmal eines anerkannten Staates gilt.
Professionell, avantgardistisch und unkonventionell
Es steht jedoch außer Frage, dass Liberland potentiell äußerst professionell vorbereitet in den Startlöchern steht, um sich auf den mühsamen Marathon in Richtung internationaler Anerkennung zu machen. Nach derzeitigem Stand verfügt die Mikronation bereits über mehr als 80 diplomatische Vertretungsbüros in 60 Staaten auf fünf Kontinenten, geleitet von freiwilligen Unterstützern des Projekts. Ein solches Büro ist dabei nicht gleichzusetzen mit tatsächlicher Anerkennung seitens des Gastgeberstaates. Eine Regierung, angeführt von Jedlicka, ist bereits installiert, offizieller Staatswein bereits gereift und Staatsbier gebraut.
Besonders kontrovers diskutiert werden allerdings die teilweise unkonventionellen Ambitionen Liberlands: Das Liberland-Projekt fußt, wie der Name bereits verrät, auf den Werten des Libertarismus. Diese politische Ideologie ist geprägt von persönlicher Freiheit und möglichst geringen bis keinen staatlichen Eingriffen in das Privatleben einer Person. Diese Freiheit soll in Liberland eines Tages vor allem auch finanz- und wirtschaftspolitisch gelten. Das kontrovers diskutierte Zahlungsmittel Bitcoin dürfte dabei als universelles Bezahlmedium in Liberland eingesetzt werden. Dies stößt, aufgrund der Risikobeschaffenheit und potentiellen Instabilität der digitalen Währung, vor allem bei den etablierten, finanzpolitisch eher konservativ agierenden Staaten auf Ablehnung. Lukrative Investmentoptionen in Verbindung mit freiwilligen Steuerbeiträgen verschärfen das Bild einer weiteren möglichen Steueroase im Herzen Europas. Und Liberland streitet dies nicht einmal ab, sondern verweist im Gegenteil explizit auf Vorteile von Steueroasen für benachbarte Staaten, wie etwa das Beispiel Hongkong zeige.
Terra nullius als letzte, unüberwindbare Hürde?
Nun ist das Experiment »Liberland« aber in erster Linie noch Wunschdenken. Egal wie ausgefeilt und fortgeschritten etwaige Stadtplanungsprojekte, der Webauftritt oder das diplomatische Auftreten der Liberländer bislang auch wirken, noch können sie wenige ihrer Pläne in die Realität umsetzen. Noch scheitern sie am Vorhaben, effektive Souveränität über ihr vermeintliches Staatsgebiet auszuüben. Dies könnte sich nur dann ändern, wenn es Liberland tatsächlich schaffen sollte, die internationale Staatengemeinde zu überzeugen, dass es auf eine Terra nullius aufmerksam geworden ist.
Vom 17. bis ins 19. Jahrhundert diente der Begriff der Terra nullius den europäischen Kolonialmächten vor allem als Legitimationsgrundlage für ihren Imperialismus im Rest der Welt. Ein Gebiet stand ihrer Auffassung nach grundsätzlich dann zur Inbesitznahme frei, wenn es von keiner anderen europäischen Macht beansprucht wurde. Dies wurde so weit getrieben, bis irgendwann kaum ein Quadratmeter Land mehr unbeansprucht blieb. Die Kolonialherrscher wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar größtenteils vertrieben oder zogen sich freiwillig zurück, die Gebietsansprüche und De-facto-Landesgrenzen wurden aber zumeist einfach im Sinne der »Uti possidetis«-Regel (»Ihr besitzt, was ihr bereits habt«) dem Nachfolgestaat übertragen.
Als einzige unumstrittene Terra nullius gilt heutzutage eigentlich nur noch der überwiegende Teil des Marie-Byrd-Lands in der Westantarktis mit seinen knapp 1,6 Millionen Quadratkilometern. Ein zweites, oft genanntes Beispiel ist das Gebiet Bir Tawil. Es ähnelt in vielen Aspekten dem Liberland-Fall. Auch hier streiten sich zwei Staaten, in diesem Fall Ägypten und Sudan, seit mittlerweile mehr als 100 Jahren um den offiziellen Grenzverlauf. Auch hier beanspruchen beide Staaten das größere, lukrativere Stück Territorium mit Meerzugang und vernachlässigen dadurch die wesentlich kleinere Binnenregion Bir Tawil. Auch hier wurde eine Mikronation von einem US-Amerikaner ausgerufen, das Königreich Nordsudan. Und auch hier bereiten Finanzexperimente den Regierungen Kopfzerbrechen.
Die Alten haben immer noch das Sagen
Es ist davon auszugehen, dass sowohl das Königreich Nordsudan als auch Liberland in ihrem Vorhaben, ein internationaler anerkannter Kleinstaat wie beispielsweise Monaco zu werden, scheitern werden. Ehemalige vermeintliche Terrae nullius wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts meist bestehenden Staaten zugesprochen. Manchmal wurde indigenen Völkern ein Teilgebiet im Rahmen staatlicher Autonomie geschenkt, aber meist wurden Terra-nullius-Bekundungen schlichtweg ignoriert. Entscheidend war dabei stets, ob eine politische Macht ihre effektive Souveränität über das Gebiet in der Vergangenheit oder aktuell beweisen konnte. Im Falle Liberlands könnten dies höchstwahrscheinlich sowohl Kroatien als auch Serbien überzeugend darlegen, Liberland nicht.
Das »Pech« Liberlands besteht darin, dass sein Gebiet nach wie vor die zweitbeste Alternative für die Anrainerstaaten darstellt, sollte es eines Tages zu einer Beilegung des Grenzkonflikts durch Verhandlungen kommen. Im Machtpoker der großen, etablierten Staaten wird das Territorium, auf dem Liberland hätte entstehen sollen, dabei als Druckmittel beziehungsweise Ass im Ärmel beider Anrainerstaaten dienen. Letztendlich wird Liberland dabei leer ausgehen. Auch weil anerkannte Staaten immer noch die dominanten Player auf der internationalen Bühne der Geopolitik sind. Etablierte Staaten schätzen dabei nichts so sehr wie territoriale Integrität sowie finanz- und wirtschaftspolitische Stabilität. Liberland stünde gegen all dies. Deshalb wird Liberland wohl auch nie die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen erlangen.
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[1] Vgl. URL: un.org/en/member-states.
[2] Sridharan, Vasudevan: Czech declares new nation Republic of Liberland in no man's land between Croatia and Serbia, auf: ibtimes.co.uk (16.4.2015).
[3] Rossman, Gabriel: Extremely Loud and Incredibly Close (But Still So Far): Assessing Liberland’s Claim of Statehood, in: Chicago Journal of International Law, Chicago (17)2016, H. 1, S. 306 – 339, hier: S. 313.
[4] Der Talweg verläuft durch die tiefsten Punkte eines Flusses, ist also dessen tiefste Rinne.
[5] Fenwick, Charles G.: International Law, 4. Aufl., New York 1965, S. 438.
[6] Rossman 2016, S. 315.
[7] Ebd., S. 313-315.
[8] McKirdy, Euan: Liberland: Could the world's newest micronation get off the ground?, auf: edition.cnn.com (29.4.2015).
[9] Vgl. Free Republic of Liberland (Hg.): To live and let live, Prag 2017, URL: investment.ll.land/mobile/index.html.
[10] Ebd.
[11] Redman, Jamie: Liberland: Bitcoin ‘Is Truly the Base of Our Economy’, auf: news.bitcoin.com (1.8.2016).
[12] Vgl. Free Republic of Liberland 2017.
[13] Fisch, Jörg: Africa as terra nullius: The Berlin Conference and International Law, in: Förster, Stig; Mommsen, Wolfgang J.; Robinson, Ronald (Hg.): Bismarck, Europe and Africa. The Berlin Africa Conference 1884–1885 and the onset of partition, Oxford u.a. 1988, S. 347–375.
[14] Lloyd, John; Mitchinson, John: The Second Book of General Ignorance, London 2010, S. 108.
[15] Jennings, Ken: Maphead. Charting the Wide, Weird World of Geography Wonks, New York 2012.
[16] O.A.: Financial Freedom And The New Digital Currency – Neapcoin, auf: kingdomsudan.org.
[17] Permanent Court of International Justice: Legal Status of Eastern Greenland (Den. v. Nor.), 1933 P.C.I.J. (ser. A/B) No. 53 (Apr. 5).
[18] Queensland Government, Minister for Natural Resources and Mines, The Honourable Andrew Cripps (Hg.): Badu Island traditional owners granted freehold title, auf: statements.qld.gov.au (1.2.2014).
[19] O.A.: Offshore and offline?, auf: news.bbc.co.uk (5.6.2000).
Autor:innen
Ehemaliger Praktikant bei KATAPULT.
Schwerpunkte
Kritische Geopolitik
Grenzstreitigkeiten
Terrorismus
Sicherheitsforschung