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Russische Invasion in die Ukraine

Wir sind die Zaungäste in diesem Konflikt - aber nicht hilflos

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Nicole Deitelhoff ist Leiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main. Sie sagt, die Nato-Staaten könnten Putin derzeit nichts anbieten, was zu Frieden in der Ukraine führen würde. Dennoch sei es möglich, über Militärhilfe für die Ukraine und Sanktionen gegen Russland wirksam zu helfen. Für Europa insgesamt bringe die Invasion einen dramatischen Wandel, dabei müsse aber trotz militärischer Abschreckung weiterhin Dialog stattfinden.

Frau Deitelhoff, welche Aussicht gibt es auf Frieden oder Waffenstillstand?

Deitelhoff: Die Optionen für Frieden oder einen Waffenstillstand sind noch relativ gering. Putin und Lawrow haben immer wieder deutlich gemacht, dass sie unter keinen Umständen davon absehen wollen, ihre Kriegsziele zu erreichen. Bei den Verhandlungen hat man sich zunächst nur auf die Einrichtung von humanitären Korridoren geeinigt. Das macht deutlich, dass zumindest auf der russischen Seite wenig Bereitschaft für einen Waffenstillstand oder gar einen Friedensprozess da ist. Allerdings gibt es erste Vorbereitungen für ernsthafte Gespräche zwischen den beiden Außenministern in der Türkei.

Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, hat vor einigen Tagen geäußert, der Westen müsse Putin eine Exit-Option aufzeigen. Was können Europa oder die Nato-Staaten derzeit tun? 

Deitelhoff: Das ist in der Tat das ganz große Problem. Worin soll denn die Exit-Option bestehen? Natürlich könnte die Nato beispielsweise zusagen, für die Dauer von fünf oder zehn Jahren keine neuen Mitglieder mehr aufzunehmen. Aber die russische Seite hat längst klargemacht, dass ihr das nicht ausreichen würde. Zu einem dauerhaften Aufnahmestopp neuer Mitglieder wird sich die Nato nicht hinreißen lassen, das kann eine solche Organisation auch gar nicht. Es gibt also kaum belastbare Angebote, die der Westen momentan machen könnte und die Russlands Interessen entsprechen würden. 

Ist Europa also zum Zuschauen verdammt?

Deitelhoff: In gewisser Weise sind wir das, wir sind die Zaungäste in diesem Konflikt. Aber natürlich sind wir nicht hilflos. Es gibt ja zwei Dinge, in denen Europa durchaus handelt. Das eine ist die Entscheidung fast aller Staaten, der Ukraine in ihrer Verteidigung gegen Russland über aktive Waffenlieferungen zu helfen. Das zweite sind die Wirtschaftssanktionen, die in der Geschwindigkeit, mit der sie gekommen sind, unglaublich schnell waren und auch in der Härte durchaus ein sehr beeindruckendes Niveau erreicht haben. 

War die russische Führung überrascht von der Vehemenz und der Härte der Sanktionen?

Deitelhoff: Ja, ich glaube nicht, dass Putin und sein Unterstützerkreis damit gerechnet haben, dass sich die europäischen Staaten zu so harten Sanktionen würden durchringen können. Man hatte in der russischen Führung ja Erfahrung mit europäischen Sanktionsregimes gesammelt, etwa anlässlich der Krym-Annexion. Dabei war die Lehre, dass es zwar unangenehme Sanktionen geben könnte, man deren Folgen aber nach und nach ausschwitzen könne. Daher dürfte sie die Reaktion jetzt tatsächlich kalt erwischt haben.

Können die Auswirkungen der Sanktionen Putins Machtbasis gefährden? 

Deitelhoff: Generell können Sanktionen ein effektives Instrument sein. Allerdings haben sie gegen Großmächte eine wesentlich geringere Erfolgsaussicht. Russland verfügt über viele Ressourcen und hat daher viele Möglichkeiten, sie zu umgehen.
Unser Blick in den inneren Zirkel Moskaus ist momentan sehr schwach ausgeprägt. Wir wissen, dass es innerhalb des russischen Machtapparats eine sehr abgeschottete Clique gibt, die sich um Putin herum gruppiert hat. Ob die Sanktionen einen Keil in diesen Führungskreis treiben können, wissen wir aber noch nicht.  
Es gibt ermutigende Zeichen, dass sich verschiedene Oligarchen öffentlich kritisch äußern. Aber gleichzeitig sehen wir, dass die existierenden Proteste nicht zu einer massenhaften Protestbewegung geworden sind. Und wir sehen ebenso noch keine deutliche Widerstandsbewegung innerhalb der Führungselite. 
Das ist aber auch noch ein bisschen früh. Es braucht Zeit, bis die Sanktionen vollständig wirken und die Verluste so greifbar werden, dass sie dann vielleicht zu Widerstand führen können. 

Das heißt, das, was der Ukraine jetzt nützen könnte, ist Zeit – weil Putin mit dem Fortschreiten des Krieges in Bedrängnis gerät? 

Deitelhoff: Ja, aber diese Zeit, das muss man sich klarmachen, wird mit viel Blut und Leid erkauft. Je länger dieser Konflikt dauert, desto stärker wächst der Druck auf Putin, das kann der Ukraine nützen. Doch desto mehr Leid wird der Konflikt bringen. Wir sehen das ja schon jetzt. Die russische Offensive kommt nicht im gewünschten Maße voran. Und jetzt wird auf Militär- und Kampftechniken zurückgegriffen, die wir etwa aus Syrien kennen. Dabei gibt es keine Schonung der Zivilbevölkerung mehr, sondern es werden ganz bewusst auch zivile Infrastruktur und Ziele angegriffen. Das ist die Kehrseite des Ganzen. 

Spielen die Waffenlieferungen unter anderem aus Europa noch eine Rolle oder kommen die eigentlich zu spät?

Deitelhoff: Aus ukrainischer Sicht hätte man sich natürlich frühere Waffenlieferungen gewünscht. Aber insbesondere das leichtere Gerät spielt durchaus noch eine Rolle, also Panzerabwehrraketen, Granaten, Panzerfäuste und Ähnliches. Sie erhöhen die Verteidigungsfähigkeit und Resilienz. 

Eine Besatzung der Ukraine kann zur Eskalation mit Nato-Staaten führen

Putin hat inzwischen deutlich gemacht, dass er nicht weniger will als die gesamte Ukraine. Läuft das auf eine Besatzung hinaus? 

Deitelhoff: Ja, das läuft im Prinzip auf eine Besatzung hinaus. Er kann die Ukraine nicht komplett militärisch niederringen, ohne dass er sie dann auch besetzen muss. Für eine Besetzung braucht Russland aber zum einen viel mehr Truppen. Da werden die Soldatinnen und Soldaten, die momentan dort sind, nicht ausreichen. Zum anderen müssten sie mit einem guerillaartigen Widerstand der Ukraine rechnen, der gegen die Besatzer im Sinne asymmetrischer Kriegsführung vorgehen würde. Das würde für Russland sehr teuer werden und auch viele Verluste mit sich bringen.  
Eine Besatzung hätte noch eine andere problematische Implikation mit Blick auf die Nato- und EU-Anrainerstaaten. Guerillakrieg funktioniert, weil man sogenannte „safe havens“ in Nachbarstaaten hat, in die sich die Guerillagruppen zurückziehen können. Das würde auch hier aller Voraussicht nach der Fall sein. Das könnte dazu führen, dass sie zum legitimen Angriffsziel werden. Auf diese Weise besteht wiederum die Möglichkeit zu einer weiteren Eskalation. 

Finanziell und militärisch scheint eine Besatzung nicht wünschenswert. Könnte Putin noch andere Optionen außer dieser Besatzung in Betracht ziehen? 

Deitelhoff: Sein ursprünglicher Plan, eine Marionettenregierung einzusetzen, ist ja vom Tisch. Putin könnte sich zumindest auf ein Teilziel zurückziehen – das wäre die Abspaltung des Donbas inklusive des Zugangs zur Krym und den Rest der Ukraine in einem desolaten Zustand sich selbst überlassen. Das hat er auch in der Vergangenheit praktiziert, beispielsweise in Georgien oder Moldau. Wenn ich mir aber anschaue, was Putin und Lawrow von sich geben, dann glaube ich nicht, dass es besonders wahrscheinlich ist. 

Russische Flugzeuge haben unlängst schwedischen Luftraum verletzt. Hätte Putin tatsächlich Interesse daran, die Situation mit weiteren Staaten zu eskalieren?

Deitelhoff: Ich glaube, derzeit nicht. Momentan möchte er vor allen Dingen die Ukraine einnehmen. Wenn er aber mit seinem Ziel nicht weiterkommt, kann ich mir auch vorstellen, dass er probiert, an anderen Stellen zu destabilisieren. Die Drohungen gegenüber Schweden und Finnland sind ja dazu gedacht, Verunsicherung und Angst zu erzeugen, und darüber möglichst eine Zurückhaltung des Westens in der Ukraine zu erreichen. 

Wie schätzen Sie das Verhalten Chinas ein? Was ist jetzt daraus, vielleicht auch für deren Ambitionen zu lernen?

Deitelhoff: China beobachtet sehr genau, was die Nato und EU-Staaten angesichts dieser russischen Aggression machen. Sie sehen, dass der Westen nicht zu feige ist, zu massiven Sanktionen zu greifen, selbst wenn es ihm weh tut. Das heißt, dass sie mögliche Invasionspläne zu Taiwan durchaus sehr gründlich überdenken dürften. Die Sanktionen gegen Russland sind also auch ein Signal an andere Großmächte: Selbst wenn wir die Regelverletzung in diesem Fall nicht abstellen können, haben die Regeln weiterhin Bestand – ansonsten drohen empfindliche Konsequenzen. China kann sich diese Sanktionen, die jetzt Russland auferlegt werden, auch keinesfalls erlauben.

Wir sind um 30 Jahre zurückgeworfen

Was lässt sich jetzt schon sagen über die geopolitischen Verschiebungen, die der Krieg mit sich bringt?

Deitelhoff: An den globalen Machtverhältnissen zwischen Russland, der Nato, Europa und China hat der Krieg nicht viel geändert. Auf dem europäischen Kontinent haben wir hingegen einen dramatischen Wandel, weil die europäische Sicherheitsarchitektur am Boden liegt. 
Daher werden wir eine Verstärkung der militärischen Abschreckung erleben, beispielsweise die Verstärkung der Nato-Ostflanke. Darüber hinaus werden wir eine geteilte Ordnung erleben: In Westeuropa werden die alten Regeln gelten, im Osten dagegen diejenigen Russlands. Zwischen den beiden Teilen wird es primär um die Absicherung von Koexistenz gehen. Wie schaffen wir daraus wieder ein System, in dem die territorialen Grenzen sicher sind und in dem man nicht jede Minute mit einem Angriff rechnen muss? Das wird Jahre in Anspruch nehmen – und dabei wird es lange nicht um die Förderung von Demokratie und Menschenrechten gehen, sondern um basale Regeln friedlicher Koexistenz. Von da an lässt sich langsam vielleicht wieder mehr über vertrauensbildende Maßnahmen aufbauen. Aber faktisch sind wir um mindestens 30 Jahre zurückgeworfen worden.

Mehr Truppen an die Ostflanke, mehr Geld für Militär – ist das die richtige Reaktion? 

Deitelhoff: Wir müssen in der Lage sein, Russland militärisch abzuschrecken, da gibt es überhaupt keine Frage. Aber das heißt nicht, einfach immer nur nach mehr Geld für Armee, Tornados und Eurofighter zu verlangen. Abschreckung ist kein Zweck an sich. Sie soll eine Situation herstellen, in der wir wieder neu miteinander in Dialog treten können, was für gemeinsame Regeln vereinbart werden können. Derzeit misstrauen wir einander zutiefst, das wird also dauern. Aber wir müssen schon jetzt darüber nachdenken, welche Kanäle und Foren wir offen halten oder neu etablieren können. Militärische Abschreckung und Dialog gehen letztlich Hand in Hand.

Stichwort Verständigung. In den letzten Wochen gab es einige Entlassungen russischer Kulturschaffender sowie Berichte über verbale Anfeindungen. Ist das kontraproduktiv? 

Deitelhoff: Ja, das ist eine Katastrophe. Wenn wir alle Kontakte abbrechen, werden wir uns ja noch mehr voneinander entfremden, noch weniger Verständnis füreinander entwickeln können und damit dann auch den jeweiligen Propagandamaschinen komplett ausgeliefert sein. Es ist wichtig, dass wir uns klar machen, mit wem wir eigentlich in Konflikt stehen – und mit wem auch nicht.

Dieses Interview wurde am 4.3.2022 geführt. 

Autor:innen

Geboren 1988, von 2017 bis 2022 bei KATAPULT und Chefredakteur des KNICKER, dem Katapult-Faltmagazin. Er hat Politik- und Musikwissenschaft in Halle und Berlin studiert und lehrt als Dozent für GIS-Analysen. Zu seinen Schwerpunkten zählen Geoinformatik sowie vergleichende Politik- und Medienanalysen.

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