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Infektionskrankheiten wie Masern, Mumps und Röteln sind heutzutage durch Impfungen leicht vorzubeugen. In den USA wurden die Masern im Jahr 2000 sogar für ausgerottet erklärt. Allerdings tauchen diese Erkrankungen nun wieder vermehrt auf. Der Grund dafür ist das Wiedererstarken der Impfskepsis. Sie speist sich vor allem aus Verschwörungstheorien, Religionen und Sekten.
Die neue Skepsis gegenüber Impfungen ist auf die falsche Annahme zurückzuführen, die Kleinkindern verabreichte Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln, kurz MMR-Impfung, könne Autismus auslösen. Diese Desinformation wurde 1998 von dem britischen Arzt Andrew Wakefield in einer Studie veröffentlicht und vehement verbreitet – obwohl seine Forschungsergebnisse nicht verifiziert werden konnten. Erst sechs Jahre später stellte sich heraus, dass Wakefield von Anwälten bezahlt wurde, die Beweise im Rechtsstreit gegen den Hersteller des Impfstoffes suchten. Viele Menschen hatten das Vertrauen in die Impfstoffe jedoch bereits verloren. Die Immunisierungsrate sank derart, dass die Herdenimmunität – der Schutz innerhalb einer weitestgehend immunisierten Gesellschaft – nicht mehr gesichert war, und das Virus breitete sich erneut aus. Trotz fehlendem Zusammenhang zwischen Impfung und Autismus wird Wakefield seitdem immer wieder von Impfgegnern zitiert.
Japan: Impfgegner verklagen Medizinjournalistin – und bekommen recht
Fake News wie solche medizinischen Unwahrheiten verbreiten sich rasant und beeinflussen deren Empfänger mitunter spürbar. Beispiel Japan: 2014 behaupteten Impfgegner dort, es gebe einen Zusammenhang zwischen der Impfung gegen Humane Papillomviren (HPV) und Symptomen wie Schwäche, Zittern und Abgeschlagenheit. Das HP-Virus befällt vorrangig Hautzellen der Schleimhäute und ruft tumorartiges Wachstum hervor. Es gilt als einer der Hauptauslöser für Gebärmutterhalskrebs und ist auch auf sexuellem Weg übertragbar. Deshalb wird auch in Deutschland die Impfung für Mädchen im Alter von neun bis 14 Jahren empfohlen. Alle mit der Impfung assoziierten Symptome sind tatsächlich aber nicht ungewöhnlich in der Pubertät und häufig auf Stress zurückzuführen. Sie treten unabhängig vom Impfstatus der Betroffenen auf.
Anfangs wurden auch nur wenige Fälle im Internet geteilt. Durch die enorm schnelle Verbreitung in den sozialen Medien erweckten diese jedoch den Anschein einer ernstzunehmenden Bedrohung. Die allgemeine Besorgnis zwang das japanische Gesundheitsministerium schließlich, den Impfstoff noch einmal eingehend auf Nebenwirkungen zu überprüfen und ihn für die Prüfdauer aus dem Impfplan zu nehmen, also der Liste empfohlener Impfungen. Bis heute wird für den Impfstoff keine Empfehlung gegeben. Das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der HPV-Impfung wuchs und die Impfquote bei den unter 13-Jährigen fiel im Jahr 2013 von 65 auf vier Prozent. Heute ist in dieser Altersgruppe sogar weniger als ein Prozent geimpft. Zum Vergleich: In Deutschland betrug sie 2018 bei unter 15-Jährigen 30 Prozent.
Es gebe zwei Opfergruppen der Impfgegnerkampagne: Die Mädchen, bei denen falsche Diagnosen gestellt würden und die, die wegen der Falschinformation ungeimpft blieben, sagt die japanische Ärztin und Journalistin Riko Muranaka. Sie berichtete über die unwissenschaftlichen Behauptungen der angeblichen Nebenwirkungen, geriet so ins Visier der Impfgegner und wurde verklagt. Im März dieses Jahres bekamen die Kläger recht und Muranaka sowie ihr Verlag wurden zu einer Geldstrafe und einer Gegendarstellung verurteilt.
Impfgegner sind längst keine Seltenheit mehr. Sie organisieren sich in den sozialen Medien und sogar in Vereinen. Die sogenannte Anti-vax-Bewegung ist ein lose organisiertes Netzwerk von Verschwörungstheoretikern und Medizinkritikern. Sie hat weltweit Anhänger und glaubt, Impfungen seien generell gesundheitsschädlich. Sie will über die »Gefahren« des Impfens aufklären und die von ihnen dämonisierten Pharmakonzerne stürzen. Ihr gesellschaftlicher Einfluss nahm derart zu, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Impfskepsis offiziell als globale Bedrohung für die Gesundheit einstuft. Die Folgen sind heute schon zu spüren: Die Zahl der Masernfälle ist weltweit um rund 30 Prozent gestiegen. Laut WHO könnten derzeit bis zu 1,5 Millionen infektionsbedingte Todesfälle weltweit verhindert werden, wenn geimpft würde. Nur bei einer ausreichend hohen Impfquote sind auch die wenigen ungeimpften Individuen oder solche, die ihre Immunität beispielsweise durch eine Chemotherapie verloren haben, vor Ansteckung geschützt.
Natur statt Medizin
Die Impfgegner verbindet der Wunsch nach der Rückkehr in eine vormoderne, naturverbundene Gemeinschaft. Sie wollen vor allem die »Reinheit« ihrer Kinder wahren, indem sie auf Impfungen verzichten, und argumentieren in dieser Hinsicht oft, dass Impfungen viele giftige Konservierungsstoffe wie Quecksilber und Formaldehyd enthielten. Manche von ihnen leugnen sogar die bloße Existenz von Viren.
Diese Art der Gegenbewegung ist eine Reaktion auf die Unzufriedenheit mit den Erkenntnissen der zeitgenössischen Schulmedizin und gleichzeitigen positiven Erfahrungen mit Alternativmedizin. Auch viele Homöopathen zählen zu den Impfskeptikern. »Antivaxer« führen keinen »Krieg gegen die Wissenschaft« an sich, sondern wollen bestehende medizinische Auffassungen durch ihre eigenen ersetzen. Wissenschaftlichkeit erscheint ihnen als Legitimation durchaus wichtig, denn sie stützen ihre Argumente häufig auf Studien – dann jedoch auf gefälschte oder zumindest falsch verstandene.
Effektive Impfungen führen zu Impfskepsis
Die Bewegung findet leicht Anklang bei ohnehin sehr vorsichtigen Eltern. Eine US-amerikanische Studie fand heraus, dass 43 Prozent der Eltern von Kindern unter fünf Jahren ein mittleres bis hohes Risiko möglicher Nebenwirkungen des Impfens annehmen. Außerdem ist laut der Studie das Misstrauen in Impfstoffe in afro- und hispanoamerikanischen Teilen der Bevölkerung größer. Junge Menschen sind um einiges skeptischer, was Mediziner und deren Forschung zu MMR-Impfungen angeht – 15 Prozent der 18- bis 29-Jährigen denken, dass Wissenschaftler nicht genügend Information zu Nebenwirkungen bereitstellen. Das sind doppelt so viele wie in den anderen Altersgruppen. Möglicherweise besteht hier eine Wechselwirkung zwischen der Aktivität in sozialen Netzwerken und dem Misstrauen der jüngeren Generation.
Impfmüdigkeit existiert insbesondere aufgrund der Tatsache, dass die schwerwiegenden Folgen von Krankheiten, die durch Impfungen vermieden werden können, nur noch sehr selten im Alltag vorkommen. Impfungen werden nicht mehr als notwendig erachtet. Stattdessen werden schon leichte Nebenwirkungen als Zumutung empfunden, weil die Öffentlichkeit die Gefahren einer Masernenzephalitis oder Kinderlähmung nicht mehr kennt. Ironischerweise ist das geringe Vorkommen dieser Krankheiten den hohen Impfquoten der letzten Jahrzehnte zu verdanken.
Nur zwei Drittel der Bulgaren halten Impfungen für sicher
Europa gilt als impfskeptischste Region der Welt. Eine Umfrage in 28 EU-Mitgliedstaaten aus dem Jahr 2018 ergab, dass Bulgarien das mit Abstand misstrauischste Land hinsichtlich Impfungen ist: Nur zwei Drittel der Bulgaren halten Impfungen für sicher, in Deutschland sind es knapp 84 Prozent – etwas mehr als in Österreich (82,7) und im EU-Durchschnitt (82,1).
Seit 2015 hat sich die Impfquote in zwölf EU-Mitgliedstaaten verringert. Ein großer Teil der Impfskepsis hat seinen Ursprung in religiösen Überzeugungen. In Polen können nur 59,3 Prozent der Befragten Impfungen mit ihrem Glauben vereinbaren, weitaus weniger als beispielsweise in Deutschland (79,1) oder Österreich (85,1). Beide Länder liegen über dem EU-Durchschnitt von 77,9 Prozent.
Verständnis für Impfgegner
Ein rechtliches Vorgehen gegen Impfgegner hat nur geringe Erfolgsaussichten, denn Menschen vorzuschreiben, woran sie zu glauben haben, ist problematisch. Daher empfehlen Psychologen, Skeptikern mit Verständnis zu begegnen, um Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit leisten zu können. Es müsse akzeptiert werden, dass Menschen ihre eigenen Überzeugungen über das Wohl der Gemeinschaft stellen. Erst dann könne zielführend über das Thema debattiert werden.
Die Immunisierungsraten werden ohne flächendeckende Aufklärung weiterhin schwanken – abhängig von der Angst der Öffentlichkeit vor einer Krankheit. Die Überlegung, eine Impfpflicht, wie sie in Frankreich besteht, auch in Deutschland einzuführen, ist daher nicht unberechtigt. Allerdings sind Strafen für eine Missachtung dieser Pflicht eventuell kontraproduktiv. Menschen, die ohnehin schon eine eher negative Einstellung zum Impfen haben, könnten sich den Positionen von Impfgegnern annähern. Anreizsysteme wie verringerte Krankenkassenbeiträge für Personen mit vollständigem Impfpass könnten hingegen positive Effekte haben. Wichtig ist es, den sozialen Aspekt zu beleuchten und herauszustellen, dass die Impfung des Individuums auch der Gemeinschaft nützt.
Dieser Text erschien in der 14. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr.
Autor:innen
Ehemaliger Praktikant bei KATAPULT.