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Gewaltverbrechen gegen Muslime

„Wer Kühe schlachtet, zerstört Indien“

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Im September 2015 greift ein wütender Mob von 200 mit Stöcken und Steinen bewaffneter Inder im Bundesstaat Uttar Pradesh eine Familie an. Ein 50-Jähriger Mann stirbt, sein Sohn überlebt schwer verletzt. Die Täter hatten zuvor in einem Tempel erfahren, dass jemand im Dorf ein Kalb geschlachtet habe. Im Haus des Opfers wurde jedoch nur Ziegenfleisch gefunden. Wenige Tage später wird im Bundesstaat Jammu und Kaschmir ein 18-Jähriger in seinem LKW mit Molotowcocktails attackiert. Er stirbt, seine zwei Begleiter werden verletzt. Die Angreifer nahmen an, der LKW transportiere Rindfleisch. Tatsächlich hatte er nur Kohle geladen.

Die Täter werden in beiden Fällen als sogenannte »Cow Protection Vigilantes« bezeichnet, also als Mitglieder selbsternannter hinduistisch-fundamentalistischer Bürgerwehren, die sich das Wohlergehen indischer Rinder zur Aufgabe gemacht haben. Premierminister Narendra Modi verurteilt die Verbrechen der Cow Protectors, nennt die Angreifer »Störenfriede«, deren Taten ihn zornig machten. Doch seine Rolle ist wesentlich vielschichtiger. Modi gilt als Anführer des erstarkten Hindu-Nationalismus und seine Partei, die rechtskonservative »Bharatiya Janata Party« (»Indische Volkspartei«, BJP), errang 2014 die absolute Mehrheit im indischen Parlament. Die BJP duldet anscheinend konsequenzlos die Taten der Cow Protectors und befeuert diese mit ihrer aggressiven Rhetorik und repressiven Politikgestaltung sogar noch. Zu diesem Schluss kommt eine 2017 im »Journal of Democracy« erschienene Studie der Religionswissenschaftlerin Juli Gittinger.

Weltweit größter Rindfleischexporteur

Die Kuh nimmt in Indien eine ambivalente Rolle ein. Zum einen ist ihre Sonderstellung eine lange hinduistische Tradition. Mahatma Gandhi bezeichnete die Kuh als »Mutter«. Den Schutz von Kühen sah er als elementaren Teil des Hinduismus und schrieb: »Der Hinduismus wird solange existieren, wie es Hindus gibt, die Kühe schützen.« In den meisten Bundesstaaten ist das Schlachten von Rindern verboten, in den übrigen zum Teil nur unter besonderen Auflagen erlaubt.

Zum anderen ist Indien einer der weltweit größten Exporteure von Rind- und Büffelfleisch – 2018 lag Indien mit einem Anteil von 18,1 Prozent nur knapp hinter dem Weltmarktführer Brasilien. Über 80 Millionen Inder essen Rindfleisch – die meisten davon Muslime, deren Religion den Verzehr von Rindern nicht untersagt. Rindfleisch ist zudem häufig günstiger als Fisch, Hühner- und Lammfleisch und wird daher meist von den ärmeren Teilen der Bevölkerung konsumiert – ganz unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit.

Kühe stehen im Zentrum der religiös aufgeladenen politischen Spannungen in Indien. Viele Hindus beziehen sich in dieser Thematik, wie auch Gandhi, auf das hinduistische Prinzip »Ahisma« (Gewaltlosigkeit). Doch bereits Ende des 19. Jahrhunderts kam es im Zuge des ersten »Cow Protection Movements« zur Gründung von Organisationen, deren Mitglieder auch mit Gewalt beispielsweise Rinder aus Schlachthöfen befreiten und Konsumenten von Rindfleisch denunzierten.

Gewalt im Namen des Kuhschutzes nimmt zu

Lange stand beim Schutz der Kühe die hinduistische Tradition im Vordergrund. Im Laufe des 20. Jahrhunderts instrumentalisierten radikale politische Kräfte das Thema jedoch immer mehr für ihre Zwecke. Dadurch entwickelte sich die Debatte um den Rindfleischkonsum zu einem prägenden Faktor im politischen Streit zwischen Hindus und Muslimen. Die Kuh wurde zunehmend zum Symbolbild der Hindu-Nation und ihr Verzehr als Angriff auf diese begriffen. Gandhis Bild der Kuh als Mutter wurde mit der Hindu-Göttin Bharat Mata gleichgesetzt, die häufig als »Mother India« bezeichnet wird und als Symbol für das Streben nach einem Hindu-Nationalstaat gilt.

Sowohl vor als auch nach der Teilung Britisch-Indiens in einen pakistanischen und einen indischen Nationalstaat im Jahr 1947 kam es in Indien immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus. Häufiger Auslöser war die Schlachtung von Rindern. Der Einfluss der Cow-Protection-Gruppen schwankte während des 20. Jahrhunderts stark, seit 2015 ist er wieder stärker wahrnehmbar.

Eine Nichtregierungsorganisation in Mumbai sammelt seit 2012 landesweit alle regionalen Berichte über »cow-related violence« – also über Gewaltverbrechen, die im Namen des Kuhschutzes verübt werden. Während es zwischen 2012 und 2014 zu insgesamt sechs dieser Vorfälle kam (alle ohne Todesopfer), stieg die Zahl im Zeitraum von 2015 bis 2017 auf 86 Fälle mit 33 Toten. Mehr als die Hälfte der Opfer sind Muslime.

Präsident Modi ist die Leitfigur der Nationalisten

Juli Gittinger sieht einen direkten Zusammenhang zwischen dem Anstieg von Gewalttaten durch Cow Protection Vigilantes und dem Erstarken des Hindu-Nationalismus unter dem seit fünf Jahren amtierenden Premierminister Narendra Modi. Bis Anfang der Neunzigerjahre spielten in der indischen Politik hindu-nationalistische Parteien, wie die aktuelle Regierungspartei BJP, nur eine Nebenrolle. Bei der Parlamentswahl 2014 erlangte die BJP mit Modi, dem langjährigen Regierungschef des Bundesstaates Gujarat, an der Spitze die absolute Mehrheit im Parlament.

Modi präsentiert sich gerne als weltoffener, technikversierter Modernisierer. Kritiker wie der französische Politikwissenschaftler Christophe Jaffrelot werfen ihm vor, die Leitfigur der gut organisierten Hindu-Nationalisten zu sein. Innerhalb weniger Jahrzehnte gelang es ihnen, eine ethnoreligiöse Massenmobilisierung zu erreichen und den öffentlichen Raum Indiens zu »hinduisieren«. Das säkulare Regierungsmodell des Staatsgründers Jawaharlal Nehru, mit der Betonung auf Religionsfreiheit und Minderheitenschutz, wich einem aggressiven Hindu-Nationalismus, der Minderheiten gezielt ausgrenzt – ohne mit der seit 1949 bestehenden indischen Verfassung zu brechen. Modi ist in der Bevölkerung äußerst beliebt, bei den Parlamentswahlen 2019 gewann seine Partei weitere Sitze hinzu.

Finanziert der Verkauf von Rindfleisch den Dschihad?

Im Wahlkampf 2014 brachte Modi die Kuhsymbolik wieder zurück in die Medien. Er forderte landesweite Schlachtverbote und höhere Strafen bei Zuwiderhandlungen. Nach seinem Amtsantritt verschärften einige Bundesstaaten unter großem Aufsehen nationaler und internationaler Medien ihre Gesetze. Beobachter sprachen von einer »Welle von Rindfleischgesetzen«, die mit Rücksichtnahme auf die religiösen Empfindungen der Hindus begründet wurden.

Seit 2014 professionalisieren sich die Cow-Protection-Gruppen, was in steigenden Mitgliederzahlen, der Organisation in Landesverbänden, hoher Reichweite über ihre Social-Media-Kanäle und einer engeren Zusammenarbeit mit der Polizei Ausdruck findet. Organisationen wie die »Bharatiya Gau Raksha« (»Indischer Kuhschutz«) sind in allen Bundesstaaten vertreten und hatten nach eigenen Angaben 2016 bereits mehr als 6.000 Mitglieder. Sie durchsuchen unter anderem LKW auf Landstraßen nach Rindfleisch und geben Informationen über mögliche Vergehen an die Polizei weiter. Mehr als 11.000 Kühe hätten sie mittlerweile gerettet – so wird zumindest auf ihrer Website geworben.

Gleichzeitig macht die Organisation dort gegen Minderheiten Stimmung – insbesondere gegen Muslime: Mit den Gewinnen aus dem Verkauf von Rinderprodukten werde ausschließlich der Dschihad finanziert. Die Schlachtung von Rindern wird mit dem Mord an Hindus gleichgesetzt – alles als Teil eines »Masterplans«, Indien zu destabilisieren. Die Cow-Protection-Gruppen erzeugen damit eine Hysterie um das von der BJP geförderte Narrativ, die indischen Kühe – und damit die indische Nation – seien in konstanter Gefahr.

Offener Rassismus in der Parteispitze

Oppositionsparteien, Vertreter der muslimischen Nachbarländer und Menschenrechtsaktivisten beschuldigen Modi und die BJP immer wieder, ein Klima des Hasses zu fördern, die Gesellschaft zu spalten und den Cow-Protectors ein Gefühl der Straffreiheit zu vermitteln. Während sich Modi auf innenpolitischen Druck von den Gewalttaten der Cow-Protectors distanziert, duldet seine Partei durch teils offen diskriminierende Aussagen, teils durch unterschwellige Bemerkungen hoher Parteifunktionäre deren Gewalttaten – bis hin zu deren Unterstützung.

So schreibt der BJP-Abgeordnete Tarun Vijay 2015 in einer Kolumne für die Tageszeitung »The Indian Express«, dass das Lynchen von Menschen auf bloßen Verdacht absolut falsch sei. Damit impliziert er, dass Selbstjustiz mit ausreichenden Beweisen gerechtfertigt sei. Im selben Artikel führt er aus, wieso Muslime das »nationale Projekt« Modis behinderten und beschuldigt sie, bei Angriffen muslimischer Extremisten gegen Hindus auffallend ruhig zu sein.

Der langjähriger Vertraute Modis und aktuelle Innenminister Amit Shah bezeichnete im Wahlkampf 2018 die mehrheitlich muslimischen Migranten aus Bangladesch als »Termiten«, die im Fall des Wahlsiegs der BJP vertrieben würden. Im April 2019 drohte er zudem, dass die BJP-Regierung »jeden einzelnen Eindringling aufgreifen und in den Golf von Bengalen werfen wird«. All das zeigt, dass der Kuhschutz den Hindu-Nationalisten oft als Vorwand für ihren Kampf gegen Muslime dient.

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Fußnoten

  1. Vgl. o.A.: Dadri: Outrage after mob lynches man for allegedly consuming beef, auf: indianexpress.com (25.12.2015).
  2. Human Rights Watch (Hg.): India: ›Cow Protection‹ Spurs Vigilante Violence, auf: hrw.org (27.4.2017).
  3. Eig. Übers., engl. Orig.: »troublemakers«.- Gittinger, Juli: The Rhetoric of Violence, Religion, and the Purity in India’s Cow Protection Movement, in: Journal of Reli­gion and Violence, (5)2017, Nr. 2, S. 131-149, hier: S. 145.
  4. Vgl. NDTV (Hg.): PM hits out at cow vigilantes, says ›gau rakshak business makes me angry‹, auf: youtube.com (6.8.2016).
  5. Als Hindu-­Nationalismus, auch Hindutva, wird das Konzept bezeichnet, das die politische und kulturelle Ausrichtung des indischen Nationalstaats nach hinduistischen Regeln und Traditionen zum Ziel hat.
  6. Vgl. Gittinger 2017.
  7. Vgl. ebd.
  8. Eig. Übers., engl. Orig.: »And Hinduism will exist as long there are Hindus to protect the cow...«. Gandhi, Mahatma: India of My Dreams, Neu-Delhi 2008, S. 123.
  9. Vgl. Raghavan, Sharad: India on top in exporting beef, auf: thehindu.com (1.6.2016).
  10. Vgl. Gittinger 2017, S. 141.
  11. Vgl. Kidambi, Prashant: The Making of an Indian Metropolis: Colonial Governance and Public Culture in Bombay, 1890-1920, Hampshire 2007, S. 176.
  12. Vgl. Sarkar, Radha; Sarkar, Amar: Sacred Slaughter: An Analysis of Historical, Communal, and Constitutional Aspects of Beef Bans in India, in: Politics, Religion & Ideology, (17)2016, Nr. 4,
    S. 329-351.
  13. Vgl. Gittinger 2017.
  14. Vgl. ebd., S. 147.
  15. Vgl. Spending & Policy Research Foundation (Hg.): Hate Crime: Cow-related Violence in India, auf: lynch.factchecker.in (Stand: 20.8.2019).
  16. Vgl. Jaffrelot, Christophe: Toward a Hindu State?, in: Journal of Democracy, (28)2017, Nr. 3,
    S. 52-63, hier: S. 52.
  17. Eig. Übers., engl. Orig.: »wave of anti-beef legislation«.- Sarkar/Sarkar 2016, S. 329.
  18. Vgl. Masoodi, Ashwaq: Who is a Gau Rakshak?, auf: livemint.com (26.7.2016).
  19. Vgl. Gittinger 2017, S. 143-144.
  20. Vgl. Bhowmick, Nilanjana: Modi’s party stokes anti-Muslim violence in India, report says, auf: scmp.com (29.6.2017).
  21. Vgl. Gittinger 2017, S. 145.
  22. Vgl. Vijay, Tarun: Why the death in Dadri affects the national project under PM Narendra Modi, auf: indianexpress.com (2.10.2015).
  23. Vgl. o.A.: Bangladeshi migrants are ›termites‹, will be removed from voters’ list: Amit Shah, auf: timesofindia.com (22.9.2018).

Autor:innen

Ehemaliger Redakteur bei KATAPULT. Er ist Chefredakteur von KATAPULT Kultur und für die Produktionsleitung des Magazins verantwortlich. Er hat Geographie an der Universität Augsburg und der Universitat de Barcelona studiert. Er ist zudem als freiberuflicher Fotograf tätig.

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