Abschiebung nach Afghanistan
Was passiert mit Flüchtlingen, die wieder zurück müssen?
Von Cornelia Schimek
Artikel teilen
Nur wenige Afghanen werden in Deutschland als Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt. Bei vielen Schutzsuchenden wird das Asylgesuch abgelehnt. Trotzdem flogen vom Zeitpunkt der ersten Sammelabschiebung nach Afghanistan im Dezember 2016 bis April 2018 nur ungefähr 200 Afghanen aus Deutschland zurück in ihr Heimatland. Der Grund für die relativ geringe Rückführungsrate war ein Anschlag im Mai 2017, bei dem Teile der deutschen Botschaft zerstört wurden und insgesamt 160 Menschen starben. Arbeitet die Botschaft nicht, finden keine Abschiebungen statt. Denn die diplomatische Vertretung übernimmt die mit einer Abschiebung verbundenen bürokratischen Prozesse.
Mittlerweile arbeitet die Botschaft teilweise wieder und das Auswärtige Amt kommt in einem neuen Lagebericht vom Mai 2018 zu dem Ergebnis, dass sich die Situation in Afghanistan etwas gebessert habe, beispielsweise in Bezug auf die Menschenrechte. In dem Bericht wird jedoch auch darauf hingewiesen, dass die Sicherheitslage große regionale Unterschiede aufweise und insgesamt weiterhin wechselhaft sei.
Nach Bekanntgabe des Lageberichtes äußerte sich Angela Merkel zum Umgang mit afghanischen Schutzsuchenden: »Nach unserer Auffassung können die bisher geltenden Beschränkungen für Abschiebungen nach Afghanistan aufgrund des neuen Lageberichtes nun entfallen.« Seitdem stieg die Zahl der aus Deutschland abgeschobenen Afghanen. In regelmäßigen Abständen starten von deutschen Flughäfen Sammelflüge in die afghanische Hauptstadt Kabul.
Bekommen abgeschobene Flüchtlinge Geld oder Unterstützung?
Ob ein Rückkehrer finanzielle Unterstützung erhält, hängt davon ab, ob er freiwillig oder unfreiwillig in sein Land zurückgekommen ist und aus welchem Staat er zurückkehrt. Seit 2017 unterstützt die Bundesregierung Flüchtlinge, die freiwillig noch vor der Entscheidung ihres Antrags aus Deutschland zurückkehren, mit einer Summe 1.200 Euro – das Programm nennt sich »Starthilfe Plus«.
Reisen Flüchtlinge nach Ablehnung ihres Antrags innerhalb der gesetzten Frist ab, erhalten sie 800 Euro. Sie gelten dann als »freiwillige Rückkehrer«. Geht ein Schutzberechtigter, obwohl er einen positiven Bescheid bekommen hat, werden ebenfalls 800 Euro gezahlt. Die Auszahlung des Betrags erfolgt in zwei Schritten. Eine Hälfte erhalten die Rückkehrer bei der Ausreise am Flughafen. Den Rest bekommen sie sechs bis acht Monate später. Die Bundesregierung arbeitet dabei mit der zwischenstaatlichen Internationalen Organisation für Migration (IOM) zusammen, die als eine Art Dienstleister für Migrationsbelange Hilfsprogramme und Rückführungen seiner 172 Mitglieder koordiniert.
Auch bei unfreiwilligen Rückkehrern werden der Transport und ein zweiwöchiger Aufenthalt in einer Kabuler Unterkunft von der IOM übernommen. Auch Hilfsorganisationen und die afghanische Regierung unterstützen die Rückkehrer beim Aufbau einer Existenz in Afghanistan. Das »Afghanistan Analysts Network«, eine in Deutschland registrierte Nichtregierungsorganisation (NGO), erklärte, dass es allerdings noch an einer zentralen koordinierenden Institution fehle.
Laut einem Bericht der Organisation erhalten viele der Rückkehrer aufgrund der undurchsichtigen Bürokratie nicht die Hilfe, die ihnen zusteht. Die IOM beispielsweise bietet freiwilligen und unfreiwilligen Rückkehrern eine Reintegrationshilfe an. Im Jahr 2016 nahm dieses Angebot allerding nur knapp ein Sechstel (1.094 von 6.800) der infrage kommenden Rückkehrer wahr. Etwa 80 Prozent (874) von ihnen wurden beim Aufbau eines eigenen Geschäftes unterstützt, einigen wurde dabei geholfen, sich häuslich niederzulassen (131), andere erhielten Haushaltsgegenstände (76), acht Menschen wurde bei der Arbeitsintegration geholfen, jeweils zwei nutzten die Unterstützung für Weiterbildung und Hausrenovierungen. Einem Rückkehrer wurden lebenswichtige Medikamente bezahlt.
Warum wird das Angebot so selten genutzt?
Anicee van Engeland, die als Beraterin für internationale Sicherheit regelmäßig für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) arbeitet, gibt vier Antworten auf diese Frage: (1) Viele der Rückkehrer kennen die Angebote nicht. Die IOM versucht aus diesem Grund, an Flughäfen präsent zu sein, an denen die Rückkehrer ankommen. (2) Viele Afghanen haben kein Vertrauen in ihre Regierung und NGOs. (3) Einige der Flüchtlinge können die Frist von drei Monaten nach ihrer Rückkehr, innerhalb der sie die Unterstützung beantragen müssen, nicht einhalten. Ihnen fehlt das nötige Geld für den Transport zu den Büros. (4) Ähnlich »banale« Probleme, wie das Fehlen einer afghanischen SIM-Karte oder eines Telefons, verhindern, dass weiterführende Hilfsangebote angenommen werden.
Für eine Studie des Refugee Support Network wurden 25 aus Großbritannien abgeschobene Afghanen über einen Zeitraum von 18 Monaten begleitet. In Interviews berichteten die jungen Männer über ihre Lebenslage nach der Rückkehr. Bei Fragen zur finanziellen Situation und Reintegration gaben 16 der 25 Rückkehrer an, große finanzielle Probleme zu haben und von ihren Familien und Freunden finanziell abhängig zu sein.
Trotz verschiedener Hilfspakete bleiben die finanzielle Unterstützung und das Reintegrationsangebot laut Afghanistan Analysts Network »lückenhaft und in vielen Fällen nicht ausreichend, um eine realistische Chance auf ein neues Leben in Afghanistan zu bieten«.
Rückkehrer gelten als Ungläubige
Neben diesen finanziellen Problemen haben Rückkehrer in einigen Fällen auch mit gesellschaftlichen Hindernissen zu kämpfen. Häufig werden sie stigmatisiert, zum einen, weil sie in einem westlichen Land waren, zum anderen, weil sie aus diesem Land wieder abgeschoben wurden. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie durch den Aufenthalt im Westen einen anderen Lebensstil mit anderen Normen und Werten angenommen hätten. In Einzelfällen werden die Rückkehrer von streng religiösen Freunden oder Familienmitgliedern deshalb als »Kafir«, zu Deutsch »Ungläubige«, bezeichnet. Gleichzeitig glauben viele Afghanen, dass nur Versager, Kriminelle und Faule abgeschoben werden.
Besonders bemerkenswert ist, dass die Art der Stigmatisierung davon abhängt, aus welchem Land die Afghanen zurückkehren. Rückkehrer aus Europa werden beschuldigt, Versager zu sein, wohingegen Abgeschobenen aus den USA vorgeworfen wird, dass sie im Ausland kriminell geworden seien. Eine Rückkehr geht daher mit einem großen sozialen Statusverlust einher, der sich auch auf die Chancen auf dem Arbeitsmarkt auswirkt. Einige abgeschobene Afghanen verheimlichen deshalb ihre Rückkehr und nehmen keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie auf. Da Afghanistan außer kostenloser Bildung und Gesundheitsversorgung keine weiteren Sozialleistungen bereitstellt, ist die Familie jedoch die einzige soziale Absicherung.
Nur über soziale Netzwerke kommen die Rückkehrer an Wohnungen und Arbeit
Kabul, Ankunftspunkt aller aus Deutschland abgeschobenen Rückkehrer, ist seit 2001 von 500.000 auf fünf bis sieben Millionen Einwohner angewachsen. Zu erklären ist dieses rasante Wachstum insbesondere durch Kriegshandlungen, die die Menschen vom afghanischen Land in die Großstadt getrieben haben. Außerdem stören die kriegerischen Auseinandersetzungen immer wieder die landwirtschaftliche Produktion. Aufgrund der Ernteausfälle sind die Bauern gezwungen, ihr Land zu verkaufen. Der Auf- und Ausbau der Infrastruktur konnte mit dieser rasanten Entwicklung Kabuls nicht mithalten. Eine Wohnung kostet kalt zwischen 400 und 600 Dollar im Monat. Der durchschnittliche Lohn liegt bei 80 bis 120 Dollar, sodass 74 Prozent der städtischen Bevölkerung in Slums leben.
Rückkehrer leiden in besonderer Weise unter dem knappen Wohnraum. Oft können sie nicht in ihre ursprünglichen Wohnungen und Häuser zurück. Ein großer Teil der Rückkehrer zieht deshalb wieder in das Haus der Familie oder kommt bei Freunden unter. Nur sehr wenige Rückkehrer schaffen es, eine eigene Wohnung anzumieten. So kehrten von den 25 oben genannten Afghanen zwölf wieder in das Haus ihrer Familie zurück, vier fanden Unterschlupf bei Freunden. Nur zwei mieteten eine eigene Unterkunft.
Kennen die Rückkehrer niemanden in Kabul, stehen sie daher häufig vor zwei Problemen: Zum einen wird Wohnraum lieber an Familien vermietet, Alleinstehende sind Außenseiter. Zum anderen sind für das Anmieten einer Wohnung in Kabul ein Bürge und eine Vorauszahlung von sechs Monatsmieten notwendig. Friederike Stahlmann vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung beschreibt die Situation so: »Man benötigt also sowohl soziale Netzwerke, als auch außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben.«
Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage sind viele Afghanen arbeitslos. Seit 2012 ist die Wirtschaft Afghanistans sehr schwach, das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes ist von 14,4 (2012) auf 0,8 % (2015) gefallen. Ein Grund für diesen Einbruch ist der Abzug großer Teile internationaler Truppen. Sie waren die größten Auftraggeber und Dienstleistungsempfänger. Aktuell belegt Afghanistan Platz 168 von 189 im Human Development Index und ist stark auf finanzielle Hilfen des Auslands angewiesen. Nur 46 Prozent des Gesamthaushalts werden aus nationalem Einkommen finanziert, 54 Prozent durch externe Geldgeber. Jährlich kommen circa 400.000 junge Männer neu auf den Arbeitsmarkt, für die es nicht genug Arbeitsplätze gibt. Auch die oben erwähnten Rückkehrer aus Großbritannien hatten große Probleme, eine Arbeit zu finden: Nur fünfzehn von ihnen fanden in den 18 Monaten, in denen sie begleitet wurden, eine Arbeit, viele davon über persönliche Beziehungen. Nur wenige schafften es aus eigener Anstrengung.
Durch Korruption und eine landesweit hohe Arbeitslosenquote sind auch auf dem Arbeitsmarkt soziale Beziehungen entscheidend. »Die Stärke der persönlichen Netzwerke erwies sich als der wichtigste Faktor, ob junge Menschen nach der erzwungenen Rückkehr Arbeit finden.« Schulische und berufliche Qualifikationen, auch solche, die im Ausland erworben wurden, sind bei der Arbeitssuche unwichtig.
Ein Siebtel des Landes wird von den Taliban kontrolliert
Das Auswärtige Amt beschreibt die Sicherheitslage als »volatil«. In »Zahlen« heißt das: Zwischen dem 1. Januar und dem 30. September 2018 wurden laut UN bei bewaffneten Konflikten 2.798 Zivilpersonen getötet und 5.252 verletzt. Für die vergangenen Jahre sieht die Statistik ähnlich aus. Allerdings können durch die UN nicht alle Opfer erfasst werden, weshalb von höheren Zahlen ausgegangen werden muss. Die meisten Menschen wurden von den Taliban, die schätzungsweise 15 Prozent des Landes kontrollieren, und dem afghanischen Ableger des Islamischen Staates, dem ISKP, getötet.
Laut Friederike Stahlmann besteht bei Rückkehrern die besondere Gefahr, als »verwestlicht« angesehen zu werden. Sie sind dem Vorwurf der »Kollaboration mit dem Feind oder des Abfalls vom Glauben« ausgesetzt. Dadurch besteht »eine tödliche Gefahr nicht nur von Seiten der Taliban, sondern auch durch die Gesellschaft im Allgemeinen«. Von den 25 Rückkehrern aus Großbritannien erlebten neunzehn bedrohliche Situationen, zwölf waren direkt in Sicherheitsvorfälle verwickelt, darunter Bombenexplosionen, Schießereien und Selbstmordattentate, bei denen sie aber nicht verletzt wurden. Zwölf berichteten von Sicherheitsproblemen, wie Bedrohungen durch die Taliban, aufgrund ihres Status als Rückkehrer.
Besonders problematisch ist, dass auch die afghanische Polizei Rückkehrer oft nicht schützen kann oder in einigen Fällen nicht schützen möchte, um das lokale Sicherheitsgleichgewicht nicht zu stören. Die Rückkehrer werden als Sicherheitsrisiko wahrgenommen und müssen mit Anfeindungen vonseiten des Staates rechnen.
Dieser Text erschien in der zwölften Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr.
Autor:innen
KATAPULT-Redakteurin