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Neuerdings interessieren sich russische Nachrichten für deutsches Toilettenpapier. Was die Zeitungen wissen wollen, ist, ob auf dem hiesigen Lokus in Zukunft genügend Papier vorrätig sein wird. Der Aufhänger? Diesmal nicht Corona. Stattdessen geht es ums Gas. Die deutsche Papierindustrie ist auf den Rohstoff angewiesen – und der werde knapp. Und damit auch das
Hygieneprodukt! Dutzende russische Zeitungen griffen das Thema auf und titelten beispielsweise: »Deutschland steht wegen Gasmangels vor Toilettenpapierknappheit.«
Die deutsche Sorge ums Gas – sie erreicht auch Russland und bedient dort die Propaganda des Machthabers. In der Bundesrepublik hält sich die Angst vor mangelnden Hygieneartikeln zwar in Grenzen, dennoch ist das Thema Gasversorgung überall präsent. Zahlreiche Überschriften warnen vor einem dramatischen Winter. Angst vorm Frieren. Sorge vor Aufständen. Panik vor dem Gaslieferstopp. Wer sich jedoch mit den dazu veröffentlichten Studien auseinandersetzt, erkennt: Teile der Debatte sind unnötig sensationslüstern.
Deutschland im Vergleich ungenügend vorbereitet
Richtig ist: Kaum ein Land ist für einen möglichen Lieferausfall von russischem Gas so schlecht gerüstet wie Deutschland. Wie schlecht? Das hat kürzlich eine Untersuchung des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung und des Marktforschungsinstituts Calculus Consult herausgearbeitet. Die Forschungsgruppe verglich, wie unsicher die Energieversorgung in verschiedenen Staaten der G7 und der EU ist.
Dazu ermittelten die Wissenschaftler:innen, woher die Länder ihre Energieträger beziehen und wie hoch die Ausfallwahrscheinlichkeit der jeweiligen Quellen ist. Die Versorgung mit Öl, Gas oder Kohle aus Russland und den ehemaligen Sowjetstaaten versahen sie mit einem hohen Risikofaktor, da hier am unsichersten ist, ob die Rohstoffe tatsächlich geliefert werden.
Während die USA, Japan oder Kanada über eine weitgehend gesicherte Versorgung verfügen, stehen europäische Länder im Schnitt schlechter da. Einige sogar sehr schlecht. Unter ihnen sticht ein Land heraus: Deutschland. Es bezieht von allen untersuchten Staaten die mit Abstand höchste Menge an Rohstoffen aus risikoreichen Quellen. Diese entspricht so viel Energie, wie mit 42,4 Millionen Tonnen Öl erzeugt werden könnte. Zum Vergleich: Der gesamte Energieverbrauch des Landes lag 2020 bei 276 Millionen Tonnen Öleinheiten, in den Jahren vor Corona bei rund 320 Millionen Tonnen. Etwa 15 Prozent der deutschen Energieversorgung sind also unsicher. Italien und Polen sind ebenfalls anfällig, etwa halb so viele Energierohstoffe wie Deutschland beziehen sie aus Quellen mit hoher Ausfallwahrscheinlichkeit.
Das Problem für die deutsche Versorgung ist die große Masse an Energieträgern, die das Land benötigt. So gibt es zwar Staaten wie die Slowakei, Finnland oder Ungarn, deren relativer Anteil von risikoreichen Rohstoffen an der Gesamtenergieversorgung wesentlich höher liegt. Doch kleinere Mengen lassen sich schneller durch Ressourcen anderer Quellen ersetzen. Für die große deutsche Nachfrage gilt das nicht. Zumal der größte Teil der deutschen Abhängigkeit auf Gas beruht. Unter den fossilen Energieträgern ist es derjenige, für den sich am schwierigsten neue Lieferanten innerhalb kurzer Zeit finden lassen. Gleichzeitig ist es derjenige Rohstoff, der für die heimische Industrie von entscheidender Bedeutung ist. Die wichtigste Ursache für das schlechte deutsche Abschneiden in der Untersuchung: Die Energieversorgung Deutschlands stützt sich auf nur wenige Einfuhrländer, ist also nicht divers genug. Der Löwenanteil der Energieimporte stammt dabei aus Russland.
Gasmangel als Folge politischer Entscheidungen
Verantwortlich dafür ist die Energiestrategie deutscher Politik der letzten Jahre. Sie setzte auf billiges russisches Gas statt auf Investitionen in Energieeffizienz und geopolitische Unabhängigkeit. Das änderte sich auch nicht, als Russland 2014 die Krym annektierte. Als Reaktion auf den russischen Landraub schlug etwa der damalige polnische Ministerpräsident Donald Tusk vor, eine gemeinsame europäische Energieunion zu gründen. Die Partnerländer sollten sich dadurch unter anderem von Russland als Rohstofflieferanten lösen, indem sie gemeinsam Gas einkaufen, Verträge mit weiteren Lieferländern schließen,
eine entsprechende Infrastruktur und so einen gemeinsamen Energiemarkt schaffen sollten.
Die Regierung Merkel hingegen bestand darauf, dass die Energieversorgung eine nationale Aufgabe bleiben solle. Sie forcierte den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 – ein Projekt, vor dessen geopolitischen Gefahren deutsche Nachbarländer wie etwa Polen von Beginn an warnten. Statt seine Energiequellen zu diversifizieren, band sich die Bundesrepublik noch enger an Russland. Die Risiken einer Gasknappheit – sie sind auch das Resultat bewusster politischer Entscheidungen.
Müssen jetzt alle frieren?
Die EU einigte sich im Juli darauf, 15 Prozent Gas einsparen zu wollen – auf freiwilliger Basis. Für Deutschland hat die Bundesnetzagentur die Zielmarke sogar auf 20 Prozent gesetzt. Was heißt das für die Verbraucher:innen?
»Frieren wir im Winter wie zuletzt im Krieg?«, titelte die Augsburger Allgemeine, mit solchen reißerischen Mutmaßungen ist sie nicht allein, ähnliche Artikel finden sich auch bei anderen Zeitungen. Das Problem: Solche Beiträge folgen lediglich einer Medienlogik, die durch dramatische Formulierungen versucht, Aufmerksamkeit zu bekommen. Der Realität folgen sie nicht.
Auch wenn wissenschaftliche Prognosen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich der Folgen einer möglichen Gaslücke kommen: Sämtliche Forschende sind sich darin einig, dass es genügend Gas geben wird, um alle Wohnungen in Deutschland beheizen zu können. Das hat auch damit zu tun, dass Privathaushalte ähnlich wie Krankenhäuser und bestimmte öffentliche Einrichtungen zum Kreis der geschützten Kunden gehören. Im Fall eines Mangels müssen sie zuerst versorgt werden, Unternehmen hingegen zurückstehen.
Wer weniger zahlen will, muss weniger verbrauchen
Aus zwei Gründen ist Sparen für Privatpersonen trotzdem ratsam. Der erste hängt damit zusammen, wie die Preise entstehen. Gasimporteure wie Uniper oder EnBW können nicht mehr auf preiswertes russisches Gas aus langfristigen Verträgen setzen. Sie müssen stattdessen versuchen, Gas aus anderen Quellen auf sogenannten Kurzfristmärkten zu beschaffen. Dort sind die Preise weitaus höher – und sie steigen umso stärker, je größer die Nachfrage ist. Ein geringerer Verbrauch sorgt also für einen geringeren Preisanstieg. Auch ohne eine Gasumlage.
Der andere Grund: Wenngleich die Versorgung der Haushalte sicher sein dürfte, ist unklar, ob das auch für Unternehmen gilt. Die Sparvorgaben sollen sicherstellen, dass die Gasversorgung sowohl für Verbraucher:innen als auch für die Industrie gesichert ist. Die gute Nachricht: Das scheint verschiedenen Berechnungen zufolge möglich – wenn Verbraucher:innen und Industrie sparen. Genau daran aber entzündet sich vielfach Kritik. Viele finden es falsch, die Verantwortung nun auch auf Familien und wirtschaftlich schwächere Haushalte abzuwälzen. Sollten nicht einfach die Unternehmen weniger verbrauchen? Solche Debatten über eine faire Lastenverteilung sind wichtig.
Und dennoch: In der nüchternen Sprache der Statistik ist die Gasversorgung zunächst keine Gerechtigkeitsfrage, sondern ein mathematisches Problem. Deutschland muss Gas einsparen. Alles, was signifikant dazu beitragen kann, ist recht. Dabei werden die privaten Haushalte einen erheblichen Anteil schultern müssen.
Sparende Haushalte sollen Versorgungssicherheit sicherstellen
Etwa 30 Prozent des bundesweiten Gasverbrauchs entfallen auf Haushalte, 37 Prozent hingegen auf die Industrie. Beide Gruppen haben bereits in den letzten Monaten Gas eingespart. So verbrauchten Haushalte im März und April – bereinigt um Temperatureffekte – etwa sechs Prozent weniger Gas als im Vorjahr. Da die Gaspreise für die Endverbraucher nicht monatlich angepasst werden, sondern auf den Energiepreisen des Vorjahres beruhen – die russische Invasion sich preislich also noch nicht niedergeschlagen hat –, dürfte der Sparkurs keine ökonomische, sondern eine moralische Entscheidung gewesen<br>sein. Schon zu Beginn des Krieges wurde da für geworben, weniger Gas zu verbrauchen, um Russlands Einnahmen zu mindern.
Anders bei den Unternehmen: Sie reduzierten ihren Gasverbrauch zwar ebenfalls um etwa elf Prozent. Dabei handelt es sich jedoch um einen Prozess, der bereits im Herbst 2021 begonnen hatte, da die Preise für den Rohstoff stark gestiegen waren.
Einigen von ihnen fällt es leichter, sich von Gas unabhängig zu machen – etwa solchen, die ihre Anlagen auch mit Öl oder Kohle befeuern können. Andere jedoch haben es deutlich schwerer, hochspezialisierte Prozesse zu ersetzen. Zu den besonders anfälligen Produktionszweigen gehören beispielsweise die Chemieindustrie, die Gas als Werkstoff benötigt, sowie die Glas-, Ziegel- und Keramikherstellung.
Wirtschaftswissenschaft ist sich uneinig
Doch wie gefährdet ist die Wirtschaft tatsächlich? Was passiert, wenn russische Gaslieferungen ausbleiben? Verfolgt man die wissenschaftlichen Veröffentlichungen der vergangenen Monate, fällt vor allem auf, wie uneinig sich die Forschenden sind. Einige gehen von einem immensen volkswirtschaftlichen Schaden in Höhe von Hunderten Milliarden Euro aus, den Deutschland aufgrund von Gasengpässen verkraften müsse. Andere gaben bereits vor Monaten Entwarnung und hielten selbst einen Gasboykott von deutscher Seite für möglich.
In Zahlen sieht das so aus: Der Sachverständigenrat – auch bekannt als die »fünf Wirtschaftsweisen« – geht von einem Rückgang der deutschen Wirtschaftsleistung von mindestens zwei Prozent im Falle einer Gaslücke aus. Die Bundesbank errechnete bis zu fünf Prozent. Das arbeitnehmernahe Institut IMK prognostiziert für einen solchen Fall ein bis zu sechs Prozent niedrigeres Bruttoinlandsprodukt. Der Mann heimer Ökonom Tom Krebs befürchtet hingegen, die deutsche Wirtschaft könnte um acht bis zwölf Prozent schrumpfen. Die Schwankungsbreite der Expert:innenmeinung reicht demnach von »halb so wild« bis »absolute Katastrophe«.
Streit um die richtige Methode
Wie kann es sein, dass Forschende zu so unterschiedlichen Ergebnissen kommen? Dafür gibt es mehrere Gründe. Zunächst bestehen grundlegende methodische Unterschiede zwischen den Studien; das Studiendesign beeinflusst das Ergebnis. Dabei gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen, welche Methoden am besten geeignet sind.
So ergab eine im Juli veröffentlichte Studie führender Wirtschaftsinstitute, dass voraussichtlich keine Gaslücke auftreten werde. Dafür nutzten sie ein Simulationsmodell mit verschiedenen Wahrscheinlichkeiten. Mithilfe Tausender verschiedener Berechnungen versuchten sie zu prognostizieren, wie sich Angebot und Nachfrage entwickeln könnten. Ausschlaggebend dabei ist unter anderem, wie viel Erdgas eingespart und wie viel durch andere Optionen ersetzt werden kann, etwa durch LNG (verflüssigtes Gas). Danach haben sich die Gasspeicher im Sommer schnell genug gefüllt, um mögliche Lieferengpässe abzufedern. Dies sei das wahrscheinlichste Szenario.
In einem deutlich weniger wahrscheinlichen Fall (20-prozentige Eintrittswahrscheinlichkeit) könnte eine Versorgungslücke von etwas über zwei Prozent des Vorjahresverbrauches eintreten. Den möglichen wirtschaftlichen Schaden bezifferten sie mit 46 Milliarden Euro. Nicht wenig, aber verkraftbar.
Das Marktforschungsinstitut Prognos hingegen kommt zu einer anderen Einschätzung. Auch dessen Autor:innen veröffentlichten ihre Ergebnisse im Juli. Statt Szenarien fokussierten sie sich auf eine tiefer branchenbezogene Analyse und wollten wissen, wie sich die weggefallene Produktion eines Industriezweiges auf nachfolgende Lieferketten auswirkt. Denn nichterzeugte Waren fehlen anderen Industriezweigen als Ausgangsstoff für ihre Erzeugnisse.
Die Forscher:innen schlussfolgern, dass es im Falle einer Gaslücke zum Zusammenbruch ganzer Lieferketten kommen könnte. Das würde Schäden nach sich ziehen, bei denen die indirekten Folgen viel dramatischer ausfallen als die Verluste der direkt vom Gasmangel betroffenen Unternehmen. Während diese einen Rückgang von 3,2 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung zu erwarten hätten, summieren sich die Folgeschäden für die gesamte Volkswirtschaft auf bis zu 12,7 Prozent.
Hilfreiche Erfahrungen aus Fukushima
Solche Prognoseberechnungen hängen – das ist das zweite Problem – von Annahmen ab, für die gesicherte Daten fehlen. Wie anpassungsfähig etwa sind Unternehmen und Verbraucher:innen? Lassen sich bestimmte Güter problemlos durch
andere ersetzen? Wie hoch wird die Inflation ausfallen? Wie wirken sich politische Entscheidungen aus?
Gerade diese letzte Frage sorgte für Kritik an der pessimistischen Prognos-Studie. Denn deren Analyse geht rechnerisch davon aus, dass die Bundesregierung auf dem formulierten Ziel beharrt, dass die Gasspeicher im Februar 2023 noch über eine Mindestreserve von 40 Prozent verfügen sollen. Rutschen die Füllstände früher unter diese Marke, würden die Unternehmen demnach auch im kritischen Fall kein Gas mehr aus den Speichern erhalten. Das halten andere Forschende allerdings für unrealistisch. Vielmehr sei damit zu rechnen, dass die Bundesnetzagentur in einem solchen Fall die Speicher eher leeren und das Gas der Industrie zur Verfügung stellen würde.
Ein entscheidendes Problem für die Berechnungen ist drittens, dass Erfahrungswerte fehlen. Es gibt keine historischen Fälle, an denen man sich orientieren könnte. Für die Berechnungen der wirtschaftlichen Folgen griff daher beispielsweise der Mannheimer Volkswirt Tom Krebs auf Erfahrungen aus Fukushima zurück. Nach der Havarie des Kernkraftwerks 2011 kam es zu Produktionsunterbrechungen bei energieintensiven japanischen Unternehmen. Weil daraufhin ganze Lieferketten ausfielen, sei der Schaden für die gesamte Volkswirtschaft damals etwa fünfmal gravierender gewesen als jener für die unmittelbar vom Energiemangel betroffenen Unternehmen. Diese Annahme bezog er in seine Berechnungen ein und kam so auf einen möglichen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von acht bis zwölf Prozent.
Ökonomik kann nicht neutral sein
Zu diesen methodischen Problemen der Ökonomik kommt eine weitere Eigenheit des Wissenschaftsbereiches: Er ist nicht frei von Werturteilen. Einige Forschende gelten etwa als arbeitgeber-, andere als arbeitnehmernah. Das hat Einfluss auf ihre Forschungsansätze. Die Folge: Kaum eine Wissenschaft äußert sich im öffentlichen Diskurs so vielfältig und gegensätzlich
wie die Wirtschaftswissenschaft – und kaum eine wird so stark für politische Kämpfe instrumentalisiert.
Dabei gibt es in der Politik die Tendenz, sich derjenigen Ökonom:innen zu bedienen, die die eigene Sichtweise am stärksten stützen. Die FDP setzt auf wirtschaftsliberale Einschätzungen, Grüne und Linke auf gewerkschaftsnahe Wissenschaftler:innen. Die Debatten über die Studienergebnisse werden dabei oft emotional oder entlang von Parteilinien geführt, wichtige methodische Einzelheiten jedoch vernachlässigt.
Politisierte Debatte
Das zeigte sich auch an einer der ersten Studien, die mögliche Folgen eines Gasstopps bereits im März berechneten. Die Autor:innen um den Ökonomen Benjamin Moll von der London School of Economics prognostizierten, dass die deutsche Wirtschaft schrumpfen könnte, aber nur in einem geringen Ausmaß zwischen 0,3 und 2 Prozent. Die Wirtschaft, so folgerten die Forscher:innen, könne sich in weiten Teilen anpassen, und russisches Gas vielfach durch andere Stoffe ersetzt werden. Diese Ergebnisse beruhen auf einer Analyse möglicher Handelsströme und ihrer Veränderungen durch ein Gasembargo.
Die Folge dieser Einschätzung? Massive Kritik. Andere Ökonom:innen hielten die Studie für zu optimistisch. Industrievertreter:innen beklagten, dass die Unternehmen keinesfalls so schnell vom Gas wegkommen würden. In der Folge entwickelte sich ein intensiver Schlagabtausch zwischen Forschenden, aber auch Politik und Wirtschaft mischten mit – im Fernsehen, auf Twitter und in Zeitungen. Selbst Bundeskanzler Scholz warnte Forschende davor, mit viel zu einfachen Modellen unrealistische Einschätzungen zu treffen.
Inzwischen melden viele Betriebe, dass sie erfolgreich von Gas auf andere Quellen umgestellt haben. Auch die Forschungsgruppe hat die Ursprungsstudie aktualisiert und prognostiziert, dass auch ein sofortiger Gaslieferstopp verkraftbar wäre. Unter der Voraussetzung, dass sowohl Haushalte als auch Industrie sparen. Der Ökonom Moll sieht sich und sein Team bestätigt und sagt: »Es wäre noch viel mehr möglich gewesen, wenn die Industrie schon im März [mit] Hochdruck angefangen hätte, anstatt erst mal Lobbyismus zu betreiben.«
Übersetzung von Wissen als Aufgabe der Medien
Angesichts der historischen Herausforderungen mag es unbefriedigend sein, wie unterschiedlich die Einschätzungen von Wirtschaftswissenschaftler:innen ausfallen. Dass sich ihre Ergebnisse mitunter zu widersprechen scheinen, zeigt auch die Grenzen ihrer Disziplin auf. Und dennoch liefern sie etwas Fundamentales: Sie geben einen Korridor an Wissen. Das hilft zu ergründen, wie sich die Probleme in der Realität entwickeln könnten – und welche Maßnahmen dagegen helfen. Dabei kristallisiert sich heraus, dass Deutschland sogar ein vollständiges Aussetzen der Gaslieferungen von russischer Seite verkraften kann – wenn Haushalte und Industrie sparen.
Medien sollten dieses Wissen angemessen übersetzen – und auf eine unnötige Dramatisierung verzichten. Die Debatte über Verantwortung, mögliche Folgen und eine gerechte Lastenverteilung wird ohnehin emotional geführt. Bereits jetzt kursieren im Internet viele Halbwahrheiten und Lügen. Dass sich der Ton verschärft und Populist:innen sowie Extremist:innen versuchen werden, die Unsicherheit zu nutzen, um unzufriedene Menschen zu radikalisieren, ist mehr als wahrscheinlich. Die Corona-Pandemie liefert hierfür die Blaupause. Dazu, dass die Debatte auf Fakten und nicht auf losen Annahmen oder Unwahrheiten basiert, müssen die Medien ihr Bestes beitragen.
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Autor:innen
Geboren 1988, von 2017 bis 2022 bei KATAPULT und Chefredakteur des KNICKER, dem Katapult-Faltmagazin. Er hat Politik- und Musikwissenschaft in Halle und Berlin studiert und lehrt als Dozent für GIS-Analysen. Zu seinen Schwerpunkten zählen Geoinformatik sowie vergleichende Politik- und Medienanalysen.