Postsozialismus in Zentralasien
Warum die alten Sowjetstaaten nicht demokratisch werden
Von Julius Gabele und Prof. Dr. Matthias Schmidt
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Es war alles ganz anders geplant: Nach dem Zerfall der Sowjetunion sollten sich die ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken rasch den westlichen Demokratie- und Wirtschaftsstandards anpassen. Man sprach von ihrer »Rückkehr nach Europa« oder zumindest einer »Rückkehr zur Normalität«.
Die Vereinten Nation, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank bezeichneten die gerade unabhängig gewordenen Staaten des sozialistischen Ostblocks von nun an pragmatisch als »Countries in Transition« oder »Transformationsländer« – sie erfüllten zwar nicht die Standards der »Ersten Welt«, lagen jedoch im Hinblick auf Industrialisierungsgrad, Alphabetisierungsrate und Lebenserwartung deutlich vor der »Dritten Welt«.
Die allmähliche Annäherung an den Entwicklungsstand der westlichen Staaten sollte gemäß den Vorstellungen eines Transformationsparadigmas erfolgen. Der Begriff der Transformation wird seit dem Ende des sowjetischen Realsozialismus immer wieder als Schlüsselbegriff verwendet, wenn ein beabsichtigter Wandel weg von Diktatur und Planwirtschaft hin zu Demokratie und Marktwirtschaft beschrieben wird.
Dieses Transformationsparadigma baut auf den Ideen der sogenannten Modernisierungstheorie auf. Diese ist heute zwar umstritten, hatte jedoch vor allem in den 1950er- und 1960er-Jahren und wieder nach dem Zerfall der Sowjetunion viel Einfluss auf Forschung und Politik. Die Theorie besagt im Kern, dass alle Gesellschaften im Laufe der Zeit verschiedene Stadien der Entwicklung durchlaufen – unterentwickelte Regionen befinden sich also in Stadien, denen weiterentwickelte Regionen in der Vergangenheit angehört haben.
Das Transformationsparadigma übernimmt diese Idee der linear ablaufenden, stufenartigen Entwicklung. Als letzte Stufe gilt das westliche Demokratieverständnis und die freie Marktwirtschaft. Damit unter- beziehungsweise fehlentwickelte Länder (hier die ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken) diese Stufe erreichen, müssten dort verschiedene wirtschaftspolitische Reformen durchgeführt werden. Als Schlüssel zur demokratischen und gesellschaftlichen Entwicklung wurde die wirtschaftliche Liberalisierung gesehen.
Aufschwung in Osteuropa, aber nicht in Zentralasien
Für einige ehemalige Sowjetrepubliken stellte sich die Umsetzung des Transformationsparadigmas als weitgehend wirksam heraus. Die baltischen Staaten beispielsweise galten bereits vor ihrem EU-Beitritt im Jahr 2004 als erfolgreich transformiert. Auch andere Staaten wie Polen, Tschechien, die Slowakei und Slowenien, die vor 1991 ebenfalls unter sowjetischem Einfluss standen, konnten ähnliche politische und sozioökonomische Erfolge erzielen. Allerdings wird in diesen Fällen vor allem die EU-Angliederung und der damit einhergehende Institutionentransfer als die treibende Kraft des Fortschritts gesehen, und nicht die Liberalisierung der Märkte.
Für die zentralasiatischen Staaten kam es in der Realität – abseits von entwicklungstheoretischen Überlegungen – jedoch deutlich anders. Nach anfänglichem Optimismus folgte die baldige Ernüchterung. Zentralasien musste nach dem Zerfall der Sowjetunion recht schnell mit Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit und massiven Auswanderungswellen kämpfen. Nach wenigen Jahren war absehbar, dass es sich bei der Verbesserung der politischen und sozioökonomischen Ausgangslage Zentralasiens keineswegs um eine lineare, stetige Entwicklung handeln würde, sondern vielmehr um einen langwierigen, nichtlinearen Prozess voller Rückschläge und Hemmnisse.
Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung vieler Regionen Zentralasiens lässt sich nach der Wende deshalb eher als »Thirdworldization« beschreiben: Mit dem Wegfall der innersowjetischen Umverteilung kam es zu einem erheblichen Rückbau der sozialen Sicherungssysteme. In Verbindung mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Wirtschaftssystems führte dies zur Verarmung weiter Bevölkerungsteile. Während die Lebenserwartung seit den 1990er-Jahren weltweit deutlich stieg, erreichte sie in Zentralasien erst 2010 wieder Werte von vor 1991.
Ähnlich drastisch ging das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Region zurück. Erst ab der Jahrtausendwende befand es sich wieder auf dem Niveau der Sowjetzeit. Allerdings öffnet sich seitdem auch die wirtschaftliche Schere zwischen den rohstoffreichen Staaten wie Kasachstan und den rohstoffarmen Staaten wie Kirgisistan und Tadschikistan immer weiter. Die BIP beider Länder lagen im Jahr 2017 mit 1.220 US-Dollar pro Kopf (Kirgisistan) und 801 US-Dollar pro Kopf (Tadschikistan) beispielsweise unter jenen von Ghana, Kamerun und Kenia – klassischen Entwicklungsländern.
Alter Parteisekretär wird zum exzentrischen Autokraten
Auch die politische Realität weicht stark von den Vorstellungen der westlichen Ratgeber ab: In Tadschikistan löste der Zerfall der Sowjetunion unmittelbar einen sechsjährigen Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Clans und islamischen Fundamentalisten aus. Diese müssen seit dem Friedensvertrag im Jahr 1997 verfassungsrechtlich an der instabilen Regierung beteiligt werden. Sowohl sicherheitspolitisch als auch wirtschaftlich ist das Land von Russland abhängig – im Jahr 2013 stammten 43 Prozent des tadschikischen BIPs aus Überweisungen tadschikischer Gastarbeiter aus Russland. Tadschikistan gilt als einer der repressivsten Staaten weltweit. Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung wurden über die Jahre die Menschenrechte und die demokratischen Institutionen gravierend eingeschränkt und Oppositionelle verfolgt.
Kasachstan und Usbekistan verfügen zwar aufgrund ihrer Rohstoffvorkommen über eine relativ stabile Wirtschaft. Jedoch gelang es den ehemaligen Parteisekretären beider Länder, direkt nach der Wende die alleinige Macht zu übernehmen – mitsamt dem sowjetischen Repressionsapparat. Sie unterdrückten gewaltsam Forderungen nach demokratischen Reformen. Mittels Korruption und Vetternwirtschaft bauten die beiden Diktatoren Familienimperien auf.
Während in Kasachstan seit der Unabhängigkeit 1991 ununterbrochen Nursultan Nasarbajew regiert, übernahm in Usbekistan im Jahr 2016 Shavkat Mirziyoyev die Nachfolge des verstorbenen Islom Karimov, der das Land 25 Jahre lang geführt hatte. Zwar gibt es unter dem neuen Präsidenten Anzeichen einer Lockerung des autoritären Systems, allerdings könnten diese Maßnahmen auch nur der kurzfristigen Machtsicherung dienen und die Hoffnungen auf Demokratisierungsprozesse im Land einen ähnlichen Verlauf nehmen wie die in Turkmenistan.
Dort übernahm 2006 Gurbanguly Berdimuhamedow das Präsidentenamt von Saparmyrat Nyýazow. Letzterer hatte während seiner 15 Jahre dauernden Diktatur einen aberwitzigen Kult um seine Person etabliert: Er ließ sich zum Propheten ausrufen und als »Führer der Turkmenen« (»Türkmenbaşy«) ansprechen. Er veröffentlichte Bücher und machte sie zur Pflichtlektüre. Zudem ließ er goldene Statuen von sich errichten, die sich mit dem Stand der Sonne drehen.
Sein Nachfolger Berdimuhamedow reduzierte zunächst einige der exzentrischen Dekrete seines Vorgängers und erließ Reformen zur Lockerung der Militärdiktatur. Nach wenigen Jahren begann er jedoch, einen ähnlichen, eigenen Personenkult zu etablieren und führt nun den international isolierten Staat mit Hilfe des mächtigen Geheimdienstapparats vergleichbar autoritär wie sein Vorgänger.
Anders als die genannten zentralasiatischen Staaten, die am ehesten als »konsolidierte Autokratien«, »semi-autoritäre« oder »sultanistische Regime« bezeichnet werden können, kann Kirgisistan zumindest einer demokratischen Grauzone zugeordnet werden. Denn trotz einer Reihe von Staatsstreichen und gewaltsamen Unruhen verfügt Kirgisistan als einziger Staat Zentralasiens über halbwegs gefestigte demokratische Institutionen und eine weitgehende Pressefreiheit. Die wirtschaftliche Entwicklung des rohstoffarmen Landes verläuft jedoch äußerst schleppend und ein Großteil der Bevölkerung lebt in Armut.
Strategie gegen Eurozentrismus
Das Transformationsparadigma hat sich insgesamt also als weitgehend unangemessen zur Beschreibung der Situation in Zentralasien erwiesen: Die radikalen Privatisierungsprogramme dienten als »Haupteinfallstor für Korruption und [...] Hebel für eine Aneignung des Staats«. Die Korruptionsanfälligkeit der staatstragenden Institutionen gilt als Hauptgrund für das Ausbleiben der erwarteten Übertragungseffekte (Spill-over-Effekte) aus der Marktliberalisierung. Somit seien weniger die Bürokraten des alten Systems, sondern viel eher die Kapitalisten des neuen Systems ein Hemmnis für demokratische Reformen – oft sind das aber auch dieselben Personen.
Für Zentralasien könnte sich damit die vom polnisch-amerikanischen Politikwissenschaftler Adam Przeworski prognostizierte Befürchtung bewahrheiten, dass der Osten zum Süden abdriften und die vertrauten Charakteristika des Armutskapitalismus annehmen könnte.
Die Grundproblematik des Transformationsparadigmas ist, dass Forderungen einer eurozentrischen Theorie einer Region aufgezwungen werden, ohne sie an die Eigenschaften der zentralasiatischen Länder anzupassen. Die Transformation verläuft in diesen Ländern nach nichtlinearen, unvorhersehbaren Mustern, die die Anwendung allgemeingültiger Schemata erschweren. Deshalb bedarf es einer Erweiterung und Anpassung der Entwicklungsziele und Lösungsvorschläge jenseits des Transformationsparadigmas. Daher konzentriert sich die Forschung in den letzten Jahren verstärkt auf das Konzept des Postsozialismus als alternativen Blickwinkel.
Der Postsozialismus greift Erfahrungen aus der Postkolonialismus-Forschung auf. Diese beschäftigt sich vor allem mit den Folgen kolonialer Praktiken und ihrer nachwirkenden Dominanz in den formal dekolonialisierten Gebieten.
Die zentralasiatischen Länder wurden Ende des 19. Jahrhunderts vom russischen Zarenreich und später von der Sowjetunion einverleibt und weisen eindeutige Parallelen zu den kolonialisierten Ländern Afrikas auf: Im westlichen Kolonialismus wurde die Herrschaftsübernahme mit ihrem angeblich modernisierenden Einfluss auf die traditionellen, »rückständigen« Gesellschaften gerechtfertigt. Auf ähnliche Weise begründeten auch die Sowjets ihre Vorherrschaft. Neben der »Befreiung der unterdrückten Arbeiterklasse« wurde die Fortschrittlichkeit des sowjetischen Systems betont, die kulturelle russische Überlegenheit festgeschrieben und eine loyale nationale Elite geschaffen.
Der wichtigste Unterschied zwischen dem westlichen und dem sowjetischen Kolonialismus ist aber, dass es in den postsowjetischen Gebieten eine widersprüchlichere Haltung gegenüber den ehemaligen »Kolonialherren« gibt, als dies etwa im dekolonialisierten Afrika der Fall ist. Zudem überschneiden sich häufig die Eliten der Sowjetzeit personell mit den heutigen Eliten Zentralasiens. Aufgrund dieser Unterschiede kann der postkoloniale Ansatz die Situation Zentralasiens nicht exakt beschreiben, liefert jedoch wichtige Erkenntnisse für einen passenderen Postsozialismus-Diskurs.
Im Gegensatz zum Transformationsparadigma beinhaltet der Postsozialismus-Diskurs weder ein festes Ziel noch ein Paket mit geforderten Maßnahmen. Vielmehr dient er als alternativer Ausgangspunkt für weitere Forschungen zu Zentralasien. Bei der Anwendung des Transformationsparadigmas gilt die Umformung Zentralasiens solange als unabgeschlossen, bis die Länder erfolgreich transformiert sind – also westliche Wirtschafts- und Demokratiestandards erreicht haben. Dagegen bleibt die postsozialistische Perspektive in Zentralasien angemessen, solange der sozialistische Alltag den betroffenen Menschen noch als Bezugspunkt dient und Auswirkungen auf deren Handeln hat.
Nur wenn die Forschung den nachhaltigen Einfluss des real existierenden Sozialismus, die Folgen des Wandels auf die zentralasiatischen Länder und deren regionale Eigenheiten berücksichtigt, lassen sich eurozentrische Verallgemeinerungen vermeiden. Dadurch verhindert sie unangemessene wirtschaftspolitische Ratschläge und liefern passende Lösungsvorschläge – anders als dies in den letzten 25 Jahren nach dem Ende der Sowjetunion der Fall war.
Prof. Dr. Matthias Schmidt, Leiter des Lehrstuhls für Humangeographie an der Universität Augsburg, beschäftigt sich vor Ort mit der sozioökonomischen Entwicklung Zentralasiens. Er kennt die unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausgangslagen und hat die Veränderung der Forschungsperspektive mitgeprägt – vom Transformationsparadigma hin zum Postsozialismus-Diskurs.
Professor Schmidt, die baltischen Länder und die Visegrád-Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei) gelten in der Forschung – im Gegensatz zu den zentralasiatischen Staaten – seit Längerem als erfolgreich transformiert. Mit diesem Erfolg wird häufig die Gültigkeit des Transformationsparadigmas verteidigt. Lassen sich die Gründe für die unterschiedliche Entwicklung auf die Rolle der EU als neuer »externer Anker« beschränken?
Die EU oder besser das Ziel, Mitglied der EU zu werden, spielen sicherlich eine erhebliche Rolle bei der Transformation von Staaten. Allerdings müssen hier auch die sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Ausgangsbedingungen 1991 hervorgehoben werden: Die Staaten der Visegrád-Gruppe oder des Baltikums waren im Laufe ihrer Geschichte bereits für kurze oder auch längere Zeiträume unabhängige Staaten gewesen und verfügten entsprechend über eigenstaatliche Erfahrungen. Zudem gab es 1991 dort ein Bürgertum, und das Bildungsniveau, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, aber auch der Industrialisierungs- und Verstädterungsgrad waren deutlich höher als in Zentralasien.
Wie viel Einfluss besitzen beziehungsweise besaßen westliche Organisationen, Thinktanks und Politikberatungen auf die Entwicklung Zentralasiens nach der Wende?
Dies variiert von Land zu Land: In Kirgisistan spielten westliche Thinktanks zweifellos eine große Rolle bei der Reformierung und Restrukturierung von Staat und Wirtschaft. Das Land galt dementsprechend als Musterland Zentralasiens, das die Vorgaben des Washington-Konsenses in vielen Bereichen umgesetzt hat. Dagegen blieb der Einfluss westlicher Berater in Usbekistan und Turkmenistan deutlich geringer.
Es wurde schon nach einigen Jahren klar, dass beispielsweise die radikale Marktliberalisierung als Anwendung des Transformationsparadigmas nicht die ideale Lösung für die Entwicklung der zentralasiatischen Staaten war. Teilweise war sie sogar kontraproduktiv. Wieso dauert es so lange, bis alternative Lösungsansätze überhaupt diskutiert, geschweige denn realisiert werden?
Das ist gar nicht so klar zu beantworten. Tatsächlich ist beispielsweise Kirgisistan – ökonomisch betrachtet – zunächst tiefer gefallen als das weniger reformfreudige Usbekistan, erzielte jedoch nach einigen Jahren deutlich höhere Wachstumsraten. Heute steht der Kapitalismus in allen Staaten nicht mehr wirklich zur Disposition, wenngleich die staatliche Einmischung und Kontrolle insbesondere in Usbekistan und Turkmenistan nach wie vor sehr hoch ist. Viel deutlicher wird das Scheitern des Transformationsparadigmas dagegen im Hinblick auf die politische Transformation. Demokratie und Pressefreiheit sind – mit Abstrichen – nur in Kirgisistan wirklich realisiert worden.
Nach der Unabhängigkeit und einer kurzen Phase der Neuorientierung haben es die bisherigen Herrschenden sehr schnell vermocht, weiterhin an der Macht zu bleiben. Aus strengen Kommunisten wurden fast über Nacht überzeugte Nationalisten und Kapitalisten. Wer dann an den Fleischtöpfen sitzt, möchte nicht viel ändern, weshalb alternative Lösungsansätze wenig Chancen auf Realisierung haben.
Wie lässt sich Russlands heutiger Einfluss auf die zentralasiatischen Länder beschreiben? Was sind die russischen Ambitionen in der Region?
Russland sieht sich in Zentralasien als legitime Schutzmacht und betrachtet die Region als seinen »Hinterhof«. Umso schmerzlicher war es für Russland, zu sehen, wie die USA und Europa Russlands Schwäche in den 1990er und beginnenden 2000er Jahren genutzt und auf vielen Gebieten, einschließlich des Militärs, enge Verbindungen geknüpft und Einfluss genommen haben. Die USA unterhielten viele Jahre lang Militärbasen in Kirgisistan und Usbekistan.
Auch die Bundeswehr nutzte einen Stützpunkt in Usbekistan. Russland hat in jüngster Zeit seinen politischen und ökonomischen Einfluss in Zentralasien deutlich verstärkt, trifft aber insbesondere mit Kasachstan und Usbekistan inzwischen auf selbstbewusste Staaten, die solchen Einfluss nur bedingt dulden. Die beiden ärmsten Republiken Tadschikistan und Kirgisistan hingegen sind heute zu einem gewissen Grad von der Unterstützung Russlands abhängig.
Wie kann das heutige Russland selbst im Raster des Transformationsparadigmas beziehungsweise im Konzept des Postsozialismus bewertet werden?
Kurz gesagt gilt auch hier: Der Kapitalismus wurde erfolgreich eingeführt, mit all seinen Schattenseiten und postsowjetischen Besonderheiten wie Korruption, Vetternwirtschaft oder engsten Verquickungen zwischen Politik und Kapital, während die westliche Vorstellung von Demokratie nicht umgesetzt wurde. Trotz Ansätzen von Post- und Hypermoderne sind viele Facetten des gesellschaftlichen Lebens weiterhin als postsozialistisch zu betrachten.
Chinas Rolle als Handelspartner in der Region ist in den letzten Jahren konstant gewachsen. So stammen beispielsweise mehr als die Hälfte aller importierten Güter Kirgisistans bereits aus China. Kann China der Region als »externer Anker« dienen und das aktuelle Machtvakuum in der Region füllen?
Die Volksrepublik China hat es schwerer, in der Region als »externer Anker« zu fungieren, weil es – anders als Russland – keine gemeinsame Geschichte mit den zentralasiatischen Staaten teilt. Zudem wird China von Anbeginn mit großem Misstrauen begegnet. Es wird weniger als Schutzmacht denn als Bedrohung aus dem Osten angesehen. Obwohl China in wirtschaftlicher Hinsicht in der Region sehr aktiv ist und durchaus beträchtliche Leistungen – etwa im Bereich der Infrastruktur – erbracht hat, von denen die Gesellschaften Zentralasiens profitieren.
Was bedeutet die neue chinesische Seidenstraße für Zentralasien?
Mit diesem Projekt sind in Zentralasien Befürchtungen, aber vor allem auch große Hoffnungen verbunden. Es ist der Wunsch, wieder eine bedeutende Rolle als Vermittlerregion zu spielen, wie dies zu Zeiten der alten Seidenstraße vermutlich einmal der Fall war. Im Hinblick auf den Ausbau der Infrastruktur wird Zentralasien zweifellos profitieren. Welche Nebenwirkungen damit jedoch verbunden sein werden, ist schwer abzuschätzen. Auch hängt die Entwicklung stark von den Bedingungen ab, die China etwa bei der Kreditvergabe stellt, womit möglicherweise langfristige Abhängigkeiten etabliert werden.
Welche Szenarien lassen sich für die zukünftige Entwicklung der zentralasiatischen Länder konstruieren?
Turkmenistan und Tadschikistan werden auf absehbare Zeit Problemfälle bleiben, in denen das Gros der Bevölkerung nur bedingt von der Unabhängigkeits- oder Transformationsdividende profitiert, während eine schmale Oberschicht zunehmend mehr Wohlstand und Möglichkeiten genießen kann. Auch Kasachstan weist eine beträchtliche Stratifizierung der Bevölkerung auf, doch besteht hier die Hoffnung, dass durch Trickle-down-Effekte ein größerer Anteil der Bevölkerung spürbare Verbesserungen seines Lebensstandards erfährt.
Die große Frage hier ist: Wer und was kommt nach Nasarbajew, dem bisher einzigen und uneingeschränkten Präsidenten Kasachstans? Usbekistan hat sich seit dem Tod Karimovs zweifellos positiv entwickelt: weniger autokratisch, kooperativer im Umgang mit seinen Nachbarn und allgemein liberaler – allerdings nach wie vor noch auf einem für westliche Beobachter unbefriedigend niedrigen Niveau. Für Kirgisistan kann man nur hoffen, dass das Land seinen demokratischen Weg fortsetzt und dafür in ökonomischer Hinsicht auch belohnt wird.
Dieser Text erschien in der zwölften Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr.
Autor:innen
Ehemaliger Redakteur bei KATAPULT. Er ist Chefredakteur von KATAPULT Kultur und für die Produktionsleitung des Magazins verantwortlich. Er hat Geographie an der Universität Augsburg und der Universitat de Barcelona studiert. Er ist zudem als freiberuflicher Fotograf tätig.
Universität Augsburg
Forschungsschwerpunkte
Ressourcennutzung und -management,
Politische Ökologie und Mensch-Umweltforschung,
Hochgebirgsgeographie,
Geographische Entwicklungs- und Transformationsforschung,
Zentralasien, Südasien