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Staaten, die es nicht gibt

Wann ist ein Staat ein Staat?

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Was ist ein Staat? Aus juristischer Sicht spielen Wertungen zum Charakter des Staates eine untergeordnete Rolle. Ob es sich bei einem Gebiet um einen Staat handelt, richtet sich vielmehr nach dem Faktischen. Georg Jellinek bezeichnete ihn daher relativ lapidar als »eine mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit sesshafter Menschen.« Man spricht demgemäß von der Drei-Elemente-Lehre: Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt.

In den 1960er Jahren hatte ein Major der britischen Armee eine im Zuge des Zweiten Weltkriegs errichtete Militärplattform in Beschlag genommen, um darauf einen illegalen Radiosender zu errichten. 1967 rief er dort einen Staat aus, inklusive Flagge und Nationalhymne

Grenziehung ist nebensächlich
Für das Vorhandensein eines Staatsgebiets braucht es keine allgemein oder von den Nachbarstaaten anerkannten Grenzziehungen. Zentral ist das Vorliegen eines Kerngebiets, Grenzstreitigkeiten ändern nichts an der Eigenschaft als Staat. Zugleich muss das Staatsgebiet allerdings natürlichen Ursprungs sein. Ein damit zusammenhängender und in der Lehre des Völkerrechts beliebter Fall betrifft das »Fürstentum Sealand«: In den 1960er Jahren hatte ein Major der britischen Armee eine im Zuge des Zweiten Weltkriegs errichtete Militärplattform in Beschlag genommen, um darauf einen illegalen Radiosender zu errichten. 1967 rief er dort einen Staat aus, inklusive Flagge und Nationalhymne.

Die tatsächliche Staatseigenschaft beschäftigte 1978 das Verwaltungsgericht Köln, nachdem ein deutscher Staatsbürger aufgrund seiner Eigenschaft als Staatsbürger und Außenminister Sealands die Befreiung von Sozialabgaben und Steuern gefordert hatte. Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab, da es sich bei Sealand unter anderem allein deshalb nicht um einen Staat handle, weil es sich auf einer künstlich errichteten Plattform befindet.

Wer ist das Volk?
Das Kriterium des Staatsvolks ist freilich ein oft emotionalisierter Begriff. Es verlangt zumindest die dauerhafte Präsenz von Menschen innerhalb des Staatsgebiets, um den Staat von Nomadenvölkern abzugrenzen. Darüber hinaus äußerte sich das Verwaltungsgericht Köln im Sealand-Fall auch zu diesem Kriterium. Es sprach davon, dass das Staatsvolk »nicht nur ein loser Zusammenschluss zwecks Förderung gemeinsamer Hobbies und Interessen«, sondern vielmehr »eine im wesentlichen ständige Form des Zusammenlebens im Sinne einer Schicksalsgemeinschaft« sei.

Die genaue Festlegung der Regeln zum Erwerb der Staatsangehörigkeit – und damit zusammenhängend auch heikle Fragen wie jene der Nation oder gar einer etwaigen Leitkultur – liegt aber im Ermessen des jeweiligen Staates. Bei der Ausbürgerung von Staatsbürgern sind jedoch die völkerrechtlichen Regeln zur Vermeidung von Staatenlosigkeit zu bedenken.

Souveränität – ein großes Wort
Die Staatsgewalt meint wiederum den Staatsapparat, also sämtliche für den Staat hoheitlich tätigen Organe, Institutionen und sonstigen Einrichtungen. Dabei braucht es Souveränität, die wiederum zwei Dimensionen aufweist:

Nach innen braucht es im Sinne Max Webers das Gewaltmonopol. Sofern andere bewaffnete Gruppen Teile des Staatsgebiets kontrollieren oder überhaupt keine einigermaßen effektive Zentralregierung besteht, spricht man von einem »failed state« oder einem »fragile state«. Solche Staaten existieren nur im formaljuristischen, aufgrund ihrer fehlenden Handlungsfähigkeit jedoch nicht im faktischen Sinne. Ein typisches Beispiel ist Somalia seit dem Ausbruch des dortigen Konflikts in den frühen 1990er Jahren.

Nach außen hin meint Souveränität die weitgehende Unabhängigkeit von anderen Staaten. Sogenannte Marionettenstaaten, wie etwa das nach der Invasion der Mandschurei von Japan geschaffene Mandschukuo, sind daher keine Staaten.


Gleichzeitig hat sich das Konzept der Souveränität aufgrund der Globalisierung und der Herausbildung internationaler Organisationen wie der Europäischen Union maßgeblich verändert. Sie ist jedoch trotz wechselseitiger Abhängigkeiten und neueren Ansätzen zu »global governance« – also der Erkenntnis, dass weltumspannende Probleme eine gemeinsame Lösung verlangen – alles andere als überflüssig. Hinzu kommt, dass zahlreiche Staaten, wie insbesondere die USA, China oder Russland, nach wie vor ein restriktives Souveränitätsverständnis vertreten.

Ein totalitäres, von einer Einzelperson oder einer kleinen Führungsclique geführtes und unterdrückerisches Regime ist ebenso ein Staat wie eine »Vorzeigedemokratie«

Demokratie und Menschenrechte
Die Staatseigenschaft ist an keine gesonderte Staatsqualität geknüpft – sei es eine bestimmte Verfassungsform oder die Einhaltung der Menschenrechte. Ein totalitäres, von einer Einzelperson oder einer kleinen Führungsclique geführtes und unterdrückerisches Regime ist ebenso ein Staat wie eine »Vorzeigedemokratie«. Mehr noch, aufgrund des Prinzips der souveränen Gleichheit stehen alle Staaten grundsätzlich auf derselben Stufe. Die in den klassischen Völkerrechtslehrbüchern des 19. Jahrhunderts vorgenommene Unterscheidung in zivilisierte, semizivilisierte und nicht zivilisierte Staaten beziehungsweise Völker ist heute nicht mehr gültig. Es handelt sich vielmehr primär um eine politische, keine juristische Kategorie.

Anerkennung?
Solange man den Staat als Fakt versteht, braucht es für seine Existenz keine Anerkennung durch andere Staaten. Die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen ist insofern keine Grundbedingung für die Staatsqualität. Vielmehr kann man sie als eine Art Gütesiegel verstehen – alle UN-Mitglieder sind Staaten, aber nicht alle Staaten sind notwendigerweise UN-Mitglieder. Die Schweiz etwa ist erst 2002 beigetreten.

Allerdings verlangt die Staatseigenschaft zumindest die Fähigkeit, mit anderen Staaten Beziehungen zu unterhalten. Außerdem kann die Anerkennung bei der Bestimmung der Staatseigenschaften von erschreckenden Sonderfällen wie dem »Islamischen Staat« eine Rolle spielen. Demgemäß lässt sich argumentieren, dass ohne die Anerkennung durch zumindest einige andere Staaten – eine genaue Zahl lässt sich freilich allgemein nur schwer festlegen – kein Staat vorliegt.

Kriterien wie die Menschenrechtssituation können somit über den Umweg der Anerkennung in die Staatseigenschaft einfließen. Sie spielen allerdings nur bei der Entstehung von Staaten eine Rolle. Einem bereits existierenden Staat wird selbst im Falle schwerwiegendster Menschenrechtsverstöße die Anerkennung nicht wieder entzogen. Allenfalls ließe sich die Anerkennung der Regierung verweigern. So wurden etwa die Taliban von lediglich drei Staaten – Pakistan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten – als Regierung Afghanistans angesehen, was jedoch nichts an der Staatsqualität Afghanistans änderte.

Rechte und Pflichten
Staaten genießen eine Reihe von Rechten und Pflichten. Zum einen sind sie durch das Gewalt- und Interventionsverbot vor militärischen und sonstigen schweren Einmischungen von außen durch das Völkerrecht geschützt. Außerdem können sie Verträge schließen und Diplomaten senden und empfangen (das »ius legationis«). Umgekehrt sind sie an das Völkerrecht gebunden, ein Staat kann sich bei einem Völkerrechtsverstoß daher nicht auf seine Verfassung berufen. Bei Völkerrechtsverstößen können sie dementsprechend zur Verantwortung gezogen werden, beispielsweise durch Wirtschaftssanktionen, die politische Isolation, das Aufkündigen von Verträgen oder die Vorenthaltung von finanziellen Förderungen.

Grundsätzlich haben Völker das Recht auf Selbstbestimmung. In der Praxis gestaltet sich das allerdings höchst schwierig

Autonomie?
Aufgrund der zumeist willkürlichen Grenzziehungen werden unzählige Staaten von unterschiedlichen Volksgruppen bewohnt. Grundsätzlich haben Völker das Recht auf Selbstbestimmung. Das legen die jeweiligen ersten Artikel der beiden Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen fest. In der Praxis gestaltet sich seine Anwendung allerdings höchst schwierig. Schon als sich die USA unter Woodrow Wilson nach dem Ersten Weltkrieg auf das Selbstbestimmungsrecht als Leitfaden zur Neubestimmung der politischen Landkarte beriefen, waren die Sorgen groß: Der damalige US-Außenminister Robert Lansing sprach gar von einem »mit Dynamit beladenen« Gedanken.

Viele Fragen und mögliche Folgen bleiben ungeklärt: Wer ist das Volk als Träger des Selbstbestimmungsrechts, was macht es aus? Welche Völker haben Anspruch auf einen eigenen Staat, welche nicht? Auf welcher Grundlage wird hier entschieden? Hat man dadurch Hoffnungen geweckt und Unabhängigkeitsbestrebungen gefördert, die so nicht vorherzusehen waren?

Der damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali wies die Idee, dass jedes Volk seinen eigenen Staat haben könne, 1992 entschieden zurück

Diese und ähnliche Fragen sollten sich insbesondere seit dem Ende der Kolonialzeit und der zahlreichen Sezessionskonflikte mit neuer Intensität stellen. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde die Aufmerksamkeit verstärkt auf das Innere von Staaten und allfällige Zerfallstendenzen gerichtet.

Der damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali wies die Idee, dass jedes Volk seinen eigenen Staat haben könne, in seinem »An Agenda for Peace«-Bericht aus dem Jahr 1992 jedenfalls entschieden zurück. Daher bedeutet das Selbstbestimmungsrecht heute – von einigen Sonderfällen abgesehen – kein Recht auf einen Staat. Vielmehr verbrieft es den Besonderheiten der Umstände entsprechende Minderheiten- und Autonomierechte. Unterschiedliche Gruppen sollen ihre Kultur und Identität innerhalb eines bestehenden Staats wahren können. Die Komplexität der Errichtung eines eigenen Staats erübrigt sich somit. In vielen Fällen bestehen das allfällige Misstrauen gegenüber der Zentralregierung oder der hohe Stellenwert, den das Ziel eines eigenen Staates bei vielen Völkern einnimmt, freilich weiter fort.

Die Staatenwelt im Wandel
In den letzten Jahrzehnten hat eine Vielzahl neuer Staaten das Licht der Welt erblickt. Zum einen wurden ab den 1960er Jahren zahlreiche ehemalige Kolonien und Protektorate unabhängig. In zahlreichen Fällen besteht hier allerdings bis heute kein funktionierendes Staatswesen. Oft fehlt es an einem nationalen Zugehörigkeitsgefühl, das die Zugehörigkeit zu ethnischen, religiösen oder kulturellen Untergruppen überlagert. Zum anderen entstanden nach dem Untergang der Sowjetunion und dem Zerfall Jugoslawiens neue Staaten beziehungsweise erlangten die annektierten baltischen Staaten Estland, Litauen und Lettland ihre Unabhängigkeit wieder.

Es bleibt die traurige Erkenntnis, dass Staaten geschichtlich vielfach ein Kind des Krieges sind

Heute gibt es eine Reihe von Gebieten und Ländern mit ungeklärtem Status, darunter insbesondere die Türkische Republik Nordzypern, Abchasien, Südossetien, Somaliland, Palästina oder Kosovo. Wie in allen Fällen der Entstehung und des Untergangs von Staaten sind hier die jeweiligen historischen und politischen Umstände entscheidend. Es braucht einen entsprechenden politischen Willen innerhalb der Staatengemeinschaft. Ohne mächtige Fürsprecher werden derartige Gebilde ignoriert. Man denke hier an das durch den tschechischen Politiker Vit Jedlicka ausgerufene »Liberland«. Umgekehrt können die Interessen von Unabhängigkeitsbestrebungen betroffener Staaten Abspaltungen verhindern.

Hierbei bleibt die traurige Erkenntnis, dass Staaten geschichtlich vielfach ein Kind des Krieges sind. Charles Tillys berühmtes Diktum »war made the state, and the state made war« gilt nicht nur für die von ihm beschriebene eminente Bedeutung stehender Heere bei der Herausbildung moderner Nationalstaaten, sondern überhaupt für die Entstehung moderner Staaten als solcher. Die gegenwärtige juristische Landkarte könnte sich in den nächsten Jahrzehnten maßgeblich verändern.


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[1] Jellinek, Georg: Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1914, S. 180f.
[2] S. dazu die Website von Sealand, URL: sealandgov.org.
[3] Arnauld, Andreas von: Völkerrecht, 3. Aufl., Heidelberg 2016, S. 43.
[4] Ebd.
[5] S. dazu Konvention von Montevideo von 1933, Art. 1(d).
[6] Z.B. Aufrufe zum Regierungssturz oder die Finanzierung bewaffneter regierungsfeindlicher Gruppen.
[7] Meyer, Karl E.: Editorial Notebook; Woodrow Wilson's Dynamite, auf: nytimes.com (14.8.1991).
[8] Tilly, Charles: Reflections on the History of European State-Making, in: ders. (Hg.): The Formation of National States in Western Europe, Princeton 1975, S. 42.

Autor:innen

Universität Wien, Webster University Vienna
und Donau-Universität Krems

Forschungsschwerpunkte
Bewaffnete Konflikte
Menschenrechte
Völkerrechtstheorie

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