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Dieser Text ist am 10.09.2024 zuerst als Newsletter veröffentlicht worden.
Wir haben vor drei Wochen einen KATAPULT-Buchladen in Chemnitz-Sonnenberg eröffnet. Viele fragen nun, ob das nur ein Pop-up-Shop ist oder ob wir länger bleiben. Antwort: Wir testen bis Ende September, ob sich der Laden wirklich lohnt. Heißt genau: Wenn wir 12.000 Euro Umsatz pro Monat machen, könnten wir bleiben. Das sind 400 Euro oder etwa 19 verkaufte Bücher am Tag.
Der September wird also der Testmonat für unseren Verbleib in Chemnitz. Wir haben uns auf Kinderbücher, Romane und Sachbücher spezialisiert. Wir haben natürlich auch Nicht-KATAPULT-Bücher im Angebot und können alle nicht vorrätigen Bücher innerhalb eines Tages besorgen. (Zietenstr. 32 - Di-Sa 10-18h)
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Nun zum eigentlichen Thema
Wir haben uns einen Stadtteil von Chemnitz ausgewählt, der nicht den besten Ruf hat. Schon im Vorfeld warnten uns Leute vor Raubüberfällen, Messerattacken, Müllbergen und brennenden Mülltonnen. Der Sonnenberg ist das Problemviertel von Chemnitz, sagen hier viele. Besonders rechtsextreme Parteien zeichnen ein falsches Bild von Kriminalität. Nun sind wir bereits seit fünf Wochen hier und ich muss ganz ehrlich sagen, es ist eigentlich ganz schön hier. In unserer Zeit hier ist uns allerdings ein Problem aufgefallen, das sehr zu Herzen geht.
Auf dem Chemnitzer Sonnenberg gibt es unbeaufsichtigte Kleinkinder, die wie Straßenkinder wirken. Sie laufen mit dreckigem Nachthemd und Schnuller im Mund durch die Straßen. Sie betteln und klauen. Diese Kinder werden schon heute ausgegrenzt und wir haben die Befürchtung, dass sie in ihrem späteren Leben keine Chance haben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Wir haben viel Zeit mit ihnen verbracht, wenn sie uns im Laden besuchen. Sie wirken materiell abgehängt, sprechen schlecht und fragen nach Wasser. Man kann hier auf offener Straße sehen, wie Kindeswohlgefährdung aussieht. Das Jugendamt müsste dringend reagieren, davon ist aber nichts zu merken. Denn diese Kinder erfahren keine Fürsorge, sie bekommen falsche Anreize und werden von der Bevölkerung verjagt. Es sind die verlorenen Kinder des Sonnenbergs.
Nachts kommen Drogenabhängige aus ihren Häusern und schreien ihre Nachbarn an. Manchmal kommt die Polizei. Auch während solcher Szenen haben wir beobachtet, dass die Kleinkinder auf der Straße lungern – ohne Betreuung. Die Anwohner, mit denen wir gesprochen haben, kennen das Problem und versuchen zu helfen. Aber sie berichten auch von viel Polizei und wenig Sozialarbeit. Professionelle Hilfe von amtlicher Seite wäre hier unerlässlich. Die Stadt Chemnitz hat sich aber offensichtlich für einen anderen Weg entschieden.
Wir haben auch mit erwachsenen Familienmitgliedern dieser Straßenkinder gesprochen. Leider wird diesen Familien nicht geholfen. Stattdessen nutzen Rechtsextreme die Zustände dafür, einen kausalen Fehlschluss zu verbreiten. Sie hetzen gegen diese eine Volksgruppe. Sie machen eine Minderheit für all das verantwortlich, was auf dem Sonnenberg falschläuft.
Dabei beschweren sich die Sonnenberger nicht nur über Drogenabhängigen und die Straßenkinder– vor allem beschweren sie sich über ihre Stadtverwaltung: Es gibt viel Freiraum, aber nutzen darf man ihn nicht. Es gibt viele junge Leute, die was aufbauen wollen, aber vertraut wird ihnen nicht. Die Klageliste der Leute ist lang.
In ganz Chemnitz stehen Ladenflächen frei – nicht nur ein paar vereinzelte, sondern ganze Straßenzüge. Deshalb haben sich ein paar Chemnitzer um eine Förderung bemüht, die es Geschäftsleuten vereinfacht, einen Laden zu eröffnen. Kreativachse heißt das Projekt. Vier Millionen Euro können eingesetzt werden, um neuen Ladenbetreibern die Miete für den Start zu verringern. So soll die Wiederbelebung der Stadt in Gang gebracht werden. Das funktioniert aber nur schleppend oder gar nicht. Viele Läden bleiben unbesetzt. Die Stadt Chemnitz scheint auch hier eher zu bremsen und lehnt Anträge ab.
Auch der KATAPULT-Buchladen wurde von der Stadt Chemnitz abgelehnt. Weil KATAPULT „politisch nicht neutral“ sei. Wer sich gegen Rechtsextremismus und Faschismus einsetzt, ist in Augen der SPD-geführten Stadt nicht mehr neutral. Die Rechtsextremen haben es hier schon so weit gebracht, dass die SPD ihre Narrative übernimmt. Falls jemand fragt, die AfD Sachsen wird vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft.
Der Buchladen ist nur ein Beispiel. Auch andere Projekte werden von der Stadt abgelehnt. Geht nicht! Dürft ihr nicht! Denkmalschutz! Haben wir noch nie so gemacht! – Wenn man einen Chemnitzer trifft, bekommt man zuerst zu hören, wie oft die Stadtverwaltung im Weg steht. Die Bilanz: Bahnanschluss katastrophal, Müllentsorgung mangelhaft, Kultur-kreativzsene unterentwickelt, neue Projekte abgelehnt. Es sind oft aktive Entscheidungen für den Stillstand.
Warum hauen wir nicht direkt wieder ab aus Chemnitz?
Weil es hier Menschen gibt, die noch was bewegen wollen. Weil wir hier Leute kennengelernt haben, die mit uns KATAPULT-Pullover besticken, einen inklusiven Fußballverein gründen, ein liebevolles Theater betreiben, auf dem Sonnenberg Müll sammeln und sich wünschen, dass der Stadtteil aufgewertet wird. Die Sonnenberger Bevölkerung bringt uns Kuchen und hilft beim Verpacken. Sonnenberg scheint eigentlich verloren, aber die Leute hier sind herzlich und einige auch noch optimistisch.
2025 wird Chemnitz europäische Kulturhauptstadt. Dann kommen Menschen aus ganz Europa in die Stadt. Im derzeitigen Zustand werden sie aber auch schnell wieder gehen. Die Straßenkinder vom Sonnenberg haben diese Möglichkeit nicht. Sie werden bleiben. Ohne Perspektive, jemals einen sicheren Platz in unserer Gesellschaft zu finden. Es sei denn, die Stadtverwaltung kümmert sich ernsthaft (Jugendamt! Sozialarbeit! Sportverein! Kirche!) um ihre Straßenkinder, belebt die Stadt und zeigt sich offen für neue Wege, die ihre Bürger schon lange gehen wollen.
In Chemnitz steht der größte Schornstein, den ich je gesehen habe. Er leuchtet einen nachts in bunten Farben an. Dieser „Lulatsch“ begrüßt einen strahlend und farbenfroh, sobald man sich der Stadt nähert. Manchmal sehe ich ihn und denke, wenn der nicht so bunt wäre, das könnte auch der Mittelfinger der Chemnitzer Stadtverwaltung sein.
Ich wünsche mir, dass sich die Mitarbeitenden der Stadtverwaltung Chemnitz diesen bunten Koloss angucken und darüber nachdenken, wie ihre Stadt 2025 eigentlich auf Fremde wirken soll – rechtsextrem, neinsagend und ausgrenzend oder weltoffen, fürsorglich und inklusiv – wie ein grauer Mittelfinger oder wie ein bunter Lulatsch.
EDIT 12.09.2024 - 0:40 Uhr
Ich habe den Artikel nach einem Gespräch mit dem KATAPULT-Team sprachlich etwas angepasst. Der Inhalt hat sich nicht verändert. Danke für die wichtigen Hinweise.
Autor:innen
Der Herausgeber von KATAPULT und Chefredakteur von KATAPULTU ist einsprachig in Wusterhusen bei Lubmin in der Nähe von Spandowerhagen aufgewachsen, studierte Politikwissenschaft und gründete während seines Studiums das KATAPULT-Magazin.
Aktuell pausiert er erfolgreich eine Promotion im Bereich der Politischen Theorie zum Thema »Die Theorie der radikalen Demokratie und die Potentiale ihrer Instrumentalisierung durch Rechtspopulisten«.
Veröffentlichungen:
Die Redaktion (Roman)
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