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Gesetzesänderung in Polen

Verfassungsgerichte werden überbewertet

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Großbritannien und die Niederlande sind EU-Staaten. Beide haben kein Verfassungsgericht. Warum stört das niemanden? – Weil es schon immer so war. In diesen Ländern gehört es zur politischen Kultur, dass das Parlament autonom, also ohne starke Kontrollinstanz handelt.

Polen hingegen hat ein Verfassungsgericht. Das polnische Parlament hat nun aber entschieden, die Handlungsfähigkeit der obersten Richter einzuschränken:

Erstens kann das Gericht jetzt neue Gesetze nur noch mit einer Zweidrittelmehrheit der Richter für verfassungswidrig erklären. Das Problem: Die Regierungspartei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) hat bereits über ein Drittel des Verfassungsgerichts mit parteinahen Richtern besetzt und kann sich darauf verlassen, dass sie die Regierungsgesetze nicht als verfassungswidrig interpretieren werden.

Zweitens müssen die Richter Fälle zukünftig nach chronologischer Reihenfolge und nicht nach Priorität behandeln. Auch die Beschlussfähigkeit des Gerichtes wurde erschwert, indem mindestens 13 statt neun Richter (von insgesamt 15) anwesend sein müssen.

Es ist aus diesen Gründen höchst unwahrscheinlich, dass das Verfassungsgericht einem neuen Gesetz widersprechen wird.

Keine Argumente gegen Polen

Der Außenminister Luxemburgs Jean Asselborn und der EU-Kommissar für Bessere Rechtsetzung Frans Timmermans wollten die polnische Verfassungsänderung verhindern. Das ist verständlich, besonders weil sie sich im polnischen Fall um die Renationalisierung des Landes sorgen.

Beide haben der polnischen Regierung mit Konsequenzen gedroht. Leider gibt es aber überhaupt keine rechtliche Grundlage für solche Konsequenzen. Die EU kann keine logischen Argumente aufbauen, warum Polen unzulässig handelt – erst recht nicht, wenn andere Mitgliedsstaaten gar keine Verfassungsgerichte haben. Die Grundwerte der EU kennen zudem keine Gewaltenteilung; die Existenz eines Verfassungsgerichts gehört nicht zu den Richtlinien der EU.

Selbst wenn die EU gute Argumente hätte, fehlten ihr die Sanktionsmittel. Das musste Manuel Barroso im Falle Ungarns erst vor Kurzem erfahren. Auch die ungarische Regierung hat das Verfassungsgericht und die Medien beschränkt. Die EU wollte eingreifen, konnte aber kein geeignetes Mittel finden. Mögliche Sanktionen für abtrünnige Mitgliedsstaaten wären Stimmentzug im Europäischen Rat und Aussetzung der Verträge. Sie wurden noch nie angewandt, weil sie für zu hart oder als »nukleare Option« empfunden werden und einem EU-Austritt gleichkämen.

Welche Reformen verstoßen gegen EU-Grundwerte?

Ob ein Staat seine neuen Gesetze lieber durch die Judikative mit den Grundwerten einer Verfassung abgleicht oder diese Interpretation dem Parlament alleine überlässt, ist eine Grundsatzentscheidung.

Die einzelnen europäischen Staaten unterscheiden sich in dieser Hinsicht sehr voneinander. Viele haben ein extra geschaffenes Gericht, das nur für Verfassungsfragen zuständig ist (eigenständiges Verfassungsgericht: spezialisierte Verfassungskontrolle). In anderen Ländern darf jedes Gericht Verfassungsfragen behandeln, wobei es aber auch immer die Möglichkeit gibt, dass der Kläger den Fall bis vor das oberste Gericht bringt (kein eigenständiges Verfassungsgericht: diffuse Verfassungskontrolle).

Während in Deutschland die richterliche Kontrolle über das Parlament für unverzichtbar gehalten wird, gilt eine derartige Regelung in anderen Ländern als undemokratisch.

Nicht nur Großbritannien und die Niederlande, auch Schweden, Norwegen, Finnland, Griechenland, Dänemark, die Schweiz und Zypern legen mehr Wert darauf, das politische System jederzeit demokratisch ändern zu dürfen. Verfassungsgerichte existieren dort deshalb nicht oder haben viel weniger Befugnisse.

Was aus deutscher Perspektive oft problematisch ist: Solche »freien« Demokratien sind offen für Gesetzesänderungen durch alle demokratischen Bewegungen – auch durch rechtsextreme. Die Deutschen haben damit schlechte Erfahrungen gemacht und sich deshalb für eine verrechtlichte »wehrhafte« Demokratie entschieden, die extreme Positionen verbietet.

Wenn die Polen ihre wehrhafte, verfassungsrechtliche Demokratie in eine radikale Demokratie umwandeln möchten, ist das zunächst nichts Ungewöhnliches. Es wird aber dann problematisch, wenn gleichzeitig auch liberale Grundwerte abgeschafft werden sollen.

Die PiS hat bereits angekündigt, die polnischen Medien stärker regulieren zu wollen, was die Meinungsfreiheit einschränken würde. Erst mit der Umsetzung dieser geplanten Reformen würde Polen die Grundwerte der EU verletzen.

Fußnoten

  1. Amt für »Bessere Rechtssetzung, interinstitutionelle Beziehungen, Rechtstaatlichkeit und Grundrechtecharta«.
  2. Artikel 2 EUV: »Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.«- Vgl. URL: http://www.europarl.europa.eu/brussels/website/media/Basis/Vertragsartikel/Pdf/Art_2_EUV.pdf, 28.12.2015.
  3. José Manuel Durão Barroso war Präsident der Europäischen Kommission.
  4. Artikel 7 EUV, Abs. 3: »Wurde die Feststellung nach Absatz 2 getroffen, so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat. Dabei berücksichtigt er die möglichen Auswirkungen einer solchen Aussetzung auf die Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer Personen.«- Vgl. URL: http://www.europarl.europa.eu/brussels/website/media/Basis/Vertragsartikel/Pdf/Art_7_EUV.pdf, 28.12.2015.
  5. Zitat Barroso.- Vgl. bspw. URL: http://www.zeit.de/2013/13/Ungarn-Orban-Europa-Kommentar, 28.12.2015.

Autor:innen

Der Herausgeber von KATAPULT und Chefredakteur von KATAPULTU ist einsprachig in Wusterhusen bei Lubmin in der Nähe von Spandowerhagen aufgewachsen, studierte Politikwissenschaft und gründete während seines Studiums das KATAPULT-Magazin.

Aktuell pausiert er erfolgreich eine Promotion im Bereich der Politischen Theorie zum Thema »Die Theorie der radikalen Demokratie und die Potentiale ihrer Instrumentalisierung durch Rechtspopulisten«.

Veröffentlichungen:
Die Redaktion (Roman)

Pressebilder:

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