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Ein Mann wird entführt und zwei Wochen lang in einen Schrank gesperrt. Lösegeldforderung von sieben Millionen D-Mark. So eine hohe Summe? Ja, denn der Mann heißt Theo Albrecht und hat mit seinem Bruder den größten Lebensmittelhandel Deutschlands aufgebaut: Aldi. Weil sie nach dem Zweiten Weltkrieg den Tante-Emma-Laden ihrer Eltern übernommen und in deutschen Supermärkten das Discount-Prinzip eingeführt hatten, wurden die beiden zu den reichsten Menschen Deutschlands. Karl soll zum Zeitpunkt seines Todes über ein Vermögen von 19, 25 oder 37 Milliarden Dollar verfügt haben – die Schätzungen gehen da weit auseinander. Auch Theo soll laut »Business Magazin« zu den reichsten Deutschen gehört haben. Beide sind mittlerweile tot, ihre Nachfahren erben sich immer noch reich.
Das ist bei vielen Superreichen so, auch bei Lidl-Gründer Dieter Schwarz oder BMW-Anteilseignerin Susanne Klatten. Weil Deutschland ein Land mit sehr vielen alten Familienbetrieben ist, liest man die Namen der Erben weiterhin jährlich auf den Reichenlisten des US-amerikanischen Wirtschaftsmagazins »Forbes« oder des deutschen »Manager Magazins«. Ähnliche Listen gibt es auch für deutsche Nachbarländer: In der Schweiz besitzen die 300 Reichsten insgesamt 702 Milliarden Franken, 55 davon gehen auf das Konto der Ikea-Erben, der Gebrüder Kamprad. Seit 18 Jahren stehen sie auf der dortigen Reichenliste ganz oben. In Liechtenstein sitzt die Fürstenfamilie auf geschätzt zehn Milliarden Franken, danach kommt der Bautechnikkonzern Hilti mit ungefähr der Hälfte. Und in Österreich? Red-Bull-Boss Dietrich Mateschitz steht auf Platz eins, danach kommen Glücksspiel-Guru Johann Graf und Immobilienunternehmer René Benko.
Tatsächlich ist es aber fraglich, ob die gelisteten Milliarden- und Millionenbeträge überhaupt stimmen. Denn sicher sind sich selbst die Leute in den Redaktionen nicht. Das »Manager Magazin« schreibt: »Die Zahlen sind Schätzungen, die auf öffentlich zugänglichen Registern, Archiven und Aktienbewertungen beruhen, auf eigenen Recherchen und Befragungen von Anwälten, Vermögensverwaltern oder der Protagonisten selbst.« – Also alles, aber nicht statistisch belegt. Auch international gibt es dieses Erhebungsproblem. Zu den Reichsten gehörten laut »Forbes«-Liste im Jahr 2019 Amazon-Gründer Jeff Bezos, Microsoft-Gründer Bill Gates und der französische Unternehmer Bernard Arnault, der Mehrheitseigner verschiedener Luxusmarken ist. Zur Erhebungsmethode schreibt die Redaktion: »We don’t pretend to know each billionaire’s private balance sheet (though some provide it).« Übersetzt heißt das so viel wie: Eigentlich haben wir keine Ahnung.
Das eigentliche Problem dahinter: Wenn zuverlässige Daten über die reichsten Menschen fehlen, sind Einschätzungen des Gesamtvermögens eines Landes wenig aussagekräftig. Ist das auch in Deutschland ein Problem? Klar. Hierzulande wissen wir zwar fast alles über Armut. Das Statistische Bundesamt erhebt regelmäßig Daten, wo die Armutsgefährdung am stärksten gestiegen ist, dass rund 15,3 Millionen Menschen von Armut bedroht waren7 oder dass sich etwa 29 Prozent der Bevölkerung unerwartete Ausgaben in Höhe von über 1.000 Euro nicht leisten können. Über Reichtum wissen wir aber fast nichts. Fragt sich also, was Reichsein überhaupt bedeutet.
Reiche müssen nicht knechten. Außer manchmal
In der Forschung gibt es für die Definition verschiedene Ansätze – auch wenn dieser Wissenschaftszweig nicht besonders ausgeprägt ist. Vereinzelt lassen sich ein paar Schwerpunkte finden, um die es im akademischen Kontext in den letzten Jahren ging. Es gibt beispielsweise die spezielle Forschung zum Reichtum in der DDR, der sich nicht an Immobilien, Aktien oder Fabriken messen lässt. Ein Grund hierfür war, dass es im Staatssozialismus keine besonderen Anreize gab, Vermögen anzuhäufen – die Einkommens- und Vermögensverteilung war ziemlich gleich. Der Soziologe Thomas Druyen von der Wiener Sigmund-Freud-Privatuniversität forscht vor allem zur Psychologie und Lebenswelt von Vermögenden – konkret könnte man sagen, wie sich etwa Millionengehälter auf Fußballstars auswirken. Der emeritierte Soziologieprofessor Michael Hartmann geht davon aus, dass Herkunft maßgeblich über den Erfolg entscheidet. Immerhin seien die meisten reichen Deutschen Erben. Und die wenigsten Self-made-Millionäre stammen aus den unteren Bevölkerungsschichten. Und dann wollte mal ein Statistiker namens Gerd Bosbach einen Nachmittag lang recherchieren, wie viele Reiche es in Deutschland gibt und über wie viel Reichtum diese verfügen. Leider unmöglich, an der Aufgabe dürfte er noch immer sitzen.
Einer der bekanntesten Reichenforscher hierzulande ist Wolfgang Lauterbach. Er hat sogenannte Hochvermögende vor drei Jahren dazu befragt, wie sie zu ihrem Wohlstand gekommen seien. Antwort von zwei Dritteln der Befragten: geschenkt oder geerbt. Nach Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) wird jährlich ein Betrag von 400 Milliarden Euro vererbt. Verschenken und Vererben sind die sichersten Methoden, um auch im Alter reich zu bleiben – vor allem, da es in Deutschland besonders viele Familienbetriebe gibt, die steuerfreies Vererben großer Unternehmensvermögen gesetzlich erlauben. Lauterbachs Befragung zufolge ist bei 60 Prozent der Befragten das eigene Unternehmertum aber genauso wichtig gewesen.
Wenn Bill Gates nach Greifswald zieht
Lauterbachs Definition von Reichtum, grob zusammengefasst: Reich ist, wer nicht arbeiten muss und so hohe Kapitalerträge aus dem eigenen Vermögen erzielt, dass sie völlig frei einzusetzen sind. In anderen Bereichen ist Reichtum anders definiert. Für die Finanzindustrie sind Reiche Menschen mit einem investierbaren Vermögen von mindestens einer Million US-Dollar – sogenannte »high-net-worth individuals« – und die Bundesregierung arbeitet in ihrem »Armuts- und Reichtumsbericht« vor allem mit dem Medianwert des mittleren Einkommens. Der steht aber häufig in der Kritik.
Zuallererst muss man wissen, was der Median überhaupt ist. Man könnte ihn so erklären: Würde Bill Gates mit seinem 98-Milliarden-Euro-Vermögen nach Greifswald ziehen, stiege das Durchschnittsvermögen der Greifswalder unglaublich an. Tatsächlich jedoch besäßen alle genauso viel wie vorher, auch wenn der Durchschnitt etwas anderes vermuten ließe. Über reale Umstände der einzelnen Bürger sagt der Wert nämlich überhaupt nichts aus. Der Median soll das Problem lösen, wenn solche Superreichen den Schnitt verzerren. Er ist genau der Wert in der Mitte zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Vermögen – also der Betrag, von dem aus gesehen 50 Prozent der Greifswalder mehr haben und 50 Prozent weniger. Kommt Bill Gates nach Greifswald, registriert der Median also nur ein weiteres hohes Einkommen, verändert sich aber praktisch kaum. Genau diese Vorgehensweise verwendet auch die Bundesregierung. Als einkommensreich gilt aus deren Perspektive, wer das Doppelte des deutschen Medianwerts verdient. Singles mit 3.892 Euro netto monatlich gehören bereits zu den sieben reichsten Prozent der Bevölkerung. Um mich wohlhabend nennen zu können, fehlen mir als KATAPULT-Redakteurin monatlich noch 1.930 Euro.
KATAPULT-Redakteure sind reiche Ossis, aber arme Akademiker
Seit August verdiene ich bei KATAPULT 3.000 Euro brutto pro Monat. Abzüglich Abgaben wie Renten- (279 Euro), Arbeitslosen- (36 Euro), Pflege- (53 Euro) und Krankenversicherung (232 Euro) sowie Steuerabzügen in Höhe von 438 Euro ergibt das ein Nettogehalt von rund 1.962 Euro monatlich. Bin ich reich? Kommt darauf an. Ohne Kind und alleinlebend bin ich mit diesem Nettogehalt reicher als zwei Drittel der Leute in Ostdeutschland und reicher als die meisten Alleinlebenden. Aber im Vergleich zu Leuten mit Hochschulabschluss stehe ich schlechter da. Das ist das Ergebnis eines Rechentools des Instituts der Deutschen Wirtschaft. Allerdings verdeutlichen diese Zahlen nur das gegenwärtige Einkommen. Über Vermögen – ob ich zum Beispiel gut geerbt habe – sagen sie nichts aus. Genau das ist auch die häufigste Kritik am Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Anscheinend wissen die Autorinnen und Autoren auch selbst davon: »Für höchste Einkommen und Vermögen liegen kaum belastbare Daten vor«, heißt es in der letzten Ausgabe.
Dieses Manko wollte eine Studie des DIW nun beheben. Die Ökonominnen haben untersucht, wie das Vermögen in Deutschland verteilt ist. Die kurze Antwort wäre: ungleich. Sehr wenige haben sehr viel, sehr viele haben sehr wenig. Das reichste Prozent der Bevölkerung – also das oberste Hundertstel – besitzt 35 Prozent des individuellen Nettovermögens, bei den oberen zehn Prozent sind es rund zwei Drittel. Vorher war man von rund 22 Prozent ausgegangen. Heißt: Die Reichen sind noch reicher als bisher angenommen. Meist befindet sich ihr Vermögen wie bei den Aldi-Patriarchen in Firmen. Danach kommen Immobilien und selbst genutztes Wohneigentum. Sie investieren also in Anlagen, die wieder Ertrag bringen. Oder anders formuliert: Sie lassen ihr Geld für sich arbeiten.
Mit zwei Tricks die Superreichen erwischt
Um an diese Zahlen zu kommen, mussten die Ökonomen des DIW tricksen. Denn es gibt in Deutschland nur eine Handvoll extrem vermögender Menschen. Deswegen ist die Wahrscheinlichkeit, sie aus einer Stichprobe zu ziehen, sehr gering. Hinzu kommt, dass die Angaben ja nicht verpflichtend sind, sondern auf Freiwilligkeit beruhen. Wollen Leute also keine Aussage tätigen, kommen sie in der Statistik auch nicht vor. Wie also herausfinden, wer die reichen Menschen sind? Dafür haben die Forscherinnen mithilfe einer Datenbank namens Orbis nach Personen gesucht, die erstens einen Wohnsitz in Deutschland haben und zweitens international nennenswerte Anteile an Firmen halten. Diese Informationen über Eigentümerstrukturen müssen Unternehmen veröffentlichen. Immerhin 1,7 Millionen Menschen konnten die Forscherinnen so aufspüren. Aus denen haben sie insgesamt 1.956 Haushalte zufällig ausgewählt, deren Daten zum jeweiligen individuellen Vermögen also im Datensatz verarbeitet wurden. Das war Trick eins.
Trick zwei ging so: Zu diesem Datensatz haben die Forscher 700 Reiche hinzugefügt, die 2017 im »Manager Magazin« gelistet wurden und mehr als 250 Millionen Euro besaßen. Denn um einen Eindruck zu bekommen, wie groß das Vermögen in Deutschland überhaupt ist, ist es wichtig, diese Daten in den Satz zu integrieren. Auf diese Weise haben es die Forscherinnen geschafft, einen Datensatz zu erstellen, der erahnen lässt, wie ungerecht das Vermögen verteilt ist. Das belegt auch eine weitere statistische Größe: der Gini-Koeffizient. Er kommt aus der Wirtschaftswissenschaft und gibt an, wie es um die Einkommensverteilung in einem Land bestellt ist. Bei einem Wert von 0 herrscht absolute Gleichheit, bei einem Wert von 1 absolute Ungleichheit, das bedeutet, einer besitzt alles, alle anderen nichts. Für Privatvermögen in Deutschland liegt der Wert bei 0,83 – sie sind also ziemlich ungleichmäßig verteilt. Woher kommt das? Es gibt bestimmte Faktoren, die den Koeffizienten beeinflussen – beispielsweise, wie wohlhabend ein Land ist oder wie stark abgesichert die Bürgerinnen und Bürger sind.
Neben konkreten individuellen Vermögenswerten hat die DIW-Studie zusätzlich aber auch persönliche Informationen abgefragt, um besser zu verstehen, wer hinter den Beträgen steckt. Einige der Erkenntnisse sind nicht besonders überraschend: Die meisten Millionäre sind westdeutsche Männer ohne Migrationshintergrund. Je höher das Vermögen, desto älter sind die Personen meist auch – und desto weniger Frauen gibt es unter ihnen. Meistens sind die Reichen selbständig, nur zwei Prozent unter ihnen sind ArbeiterInnen.
Welche Möglichkeiten gibt es, damit Reichtum zukünftig weniger ungleich verteilt ist? Der erste Schritt wäre, überhaupt erst einmal Zahlen zu erheben, um die tatsächliche Vermögenskonzentration sichtbar zu machen. Diese Daten können dann als Grundlage für Debatten über Umverteilung oder Gerechtigkeit dienen. Manche verlangen individuelle Verantwortung. Das gefällt sogar einigen Reichen selbst, wie sie dieses Jahr in einem offenen Brief des Projekts »Millionaires for Humanity« schreiben. Dort heißt es: »Anders als Millionen Menschen weltweit müssen wir keine Angst davor haben, unseren Job oder unsere Wohnung zu verlieren oder unsere Familie nicht mehr versorgen zu können. Wir kämpfen während dieser Notlage nicht an vorderster Front und wir haben ein viel geringeres Risiko, ihr zum Opfer zu fallen. [...] Bitte besteuert uns.« Gesellschaftlich wird die Idee der Vermögens- und Erbschaftssteuern weiterhin breit diskutiert. Der bekannte Ökonom Thomas Piketty empfiehlt eine Vermögenssteuer von 90 Prozent für Multimilliardäre. Das DIW schlägt vor, man müsse den Armen beibringen, wie man Vermögen anhäuft. – Ohne Erbschaften ist dies aber quasi unmöglich.
Was allerdings die Leute ganz unabhängig vom vorhandenen Vermögen gemein haben: Sie irren sich, wenn sie sich selbst einer Einkommensklasse zuordnen sollen. Nur ein winziger Bruchteil von Haushalten möchte sich in den obersten 30 Prozent der Vermögensverteilung verortet wissen. Offenbar will kaum jemand zur Oberschicht gehören. Ein prominentes Beispiel ist der CDU-Politiker Friedrich Merz, der sich 2018 noch selbst zur gehobenen Mittelschicht zählte. Mit der Realität hatte das wenig zu tun. Denn im selben Interview gab er an, als Anwalt und Aufsichtsrat etwa eine Million Euro brutto verdient zu haben. Das ist rund das 51-fache Jahresgehalt von jemandem mit einem Mindestlohn in Höhe von 9,35 Euro. Vermögen nicht eingerechnet, versteht sich.
Dieser Text erschien in der 19. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr.
Autor:innen
Seit 2019 bei KATAPULT, seit 2020 Onlinechefin. Vor allem für die Berichterstattung über sozialpolitische Themen zuständig.