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Sicherheit

Sind Atomkraftwerke in Kriegszeiten geschützt?

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Als es zu Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine zu Gefechten erst beim stillgelegten Kernkraftwerk Tschornobyl und später in Saporischschja kam, beschäftigte viele die Sorge, dass dabei radioaktive Strahlung austreten könnte. Nein, sagt das Bundesamt für Strahlenschutz, es gehe bislang keine Gefahr aus. Für dessen Präsidentin Inge Paulini bedeutet das allerdings keine Entwarnung, denn es sei in »kein[er] Weise vorgesehen, dass sich um ein Atomkraftwerk herum Kriegshandlungen abspielen«. So stellt sich der KNICKER-Redaktion die Frage: Wie sind deutsche Atomkraftwerke gegen militärische Kampfhandlungen, Sabotage oder eine beschädigte Infrastruktur geschützt?

Laut Wolfram König, dem Präsidenten des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), sind Nuklearanlagen erstmals Ziel von Angriffen und die Anlagen seien »weder bei uns noch in der Ukraine vollständig [dafür] ausgelegt«. Unter Wissenschaftler:innen ist die Überlegung jedoch nicht ganz neu. 2017 untersuchte das Öko-Institut, inwieweit Angriffe auf Kernkraftwerke in Krisengebieten den Reaktor, die Stromversorgung und die Sicherheitssysteme beschädigen können. Die Folge: ein steigendes Risiko schwerer Unfälle, schlimmstenfalls der Austritt von Radioaktivität. Außerdem sei das technische Personal ein Risikofaktor. Das ist derzeit auch in Tschornobyl zu beobachten: Aufgrund der Besatzung gab es erst nach fast vier Wochen den ersten und bislang einzigen Schichtwechsel, was das Potenzial für menschliches Versagen erhöht.

Kriegsangriffe nicht einkalkuliert

Die Forschenden des Öko-Instituts wählten schon 2017 die Ukraine als Beispiel für ein Krisengebiet, wo der unweit eines Kernkraftwerks zwischengelagerte Atommüll zum militärischen Ziel werden könnte. Zum Zeitpunkt der Studie stellten die Forschenden fest, dass in der Öffentlichkeit vergleichsweise wenig über die mögliche Gefahr von Atomanlagen in instabilen Regionen diskutiert und berichtet werde – dass ein gezielter Angriff auf Kernreaktoren ähnlich dem Einsatz von Atomwaffen sogar eher ein Tabuthema sei. Solche Anlagen dürfen nämlich nach internationalem Recht nicht militärisch angegriffen werden. Die aktuelle Situation in der Ukraine belegt jedoch, dass das nicht immer etwas zu bedeuten hat.

Grundsätzlich ist kein einziges Kernkraftwerk auf der Welt vor kriegerischen Handlungen geschützt. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 – die ursprünglich auch ein Atomkraftwerk zum Ziel hatten – gibt es aber Untersuchungen zur Gefahr, die von abstürzenden Flugzeugen ausgehen kann. Aus diesem Wissen ist ableitbar, wie gut oder schlecht deutsche Atomkraftwerke und deren Zwischenlager bei kriegerischen Auseinandersetzungen gesichert wären.

Die Betreiber von Zwischenlagern für radioaktive Abfälle sind verpflichtet, regelmäßige Nachweise über Schutzmaßnahmen vor Angriffen, zum Beispiel durch Terrorismus, vorzulegen. Zwischenlager sind Hallen, die vorübergehend als Aufbewahrungsorte für Atommüll dienen. Bei Sicherheitsmängeln muss entsprechend nachgerüstet werden. Diese Nachrüstungen werden geheimgehalten, damit die Informationen nicht für Anschläge oder Ähnliches missbraucht werden können. Das BASE gibt an, dass die Zwischenlager in Deutschland zu einem gewissen Grad auf den Kriegsfall vorbereitet seien: »Einen vollständigen Schutz gegen jeglichen denkbaren Angriff mit Kriegswaffen durch die Armee eines anderen Staates können allerdings weder ein Staat noch ein Betreiber einer atomaren Anlage vornehmen oder gewährleisten.«

Was passiert, wenn größere Flugzeuge abstürzen?

Die Physikerin Oda Becker besprach in einer Studie von 2018 die Gefahren für Atomkraftwerke in kriegerischen Zuständen zumindest indirekt – in Bezug auf Terroranschläge. Nach dem 11. September simulierte die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) den Absturz von Passagierflugzeugen und stellte fest, dass die Gefahr einer Kernschmelze bestehe. Denn: Durch Erschütterungen können im Reaktor Schäden an den Kühlsystemen entstehen.

Gegenüber dem KNICKER äußerte Becker, dass es Ideen gegeben habe, Stahltürme rund um die Atomkraftwerke zu bauen und Netze zu spannen, sodass etwa keine Hubschrauber auf den Gebäuden landen könnten. Dies hätte allerdings ein Vermögen gekostet und wurde nicht umgesetzt. Als Maßnahme zum Schutz vor gezielt herbeigeführten Flugzeugabstürzen verständigten sich die deutschen Energieversorger mit den entsprechenden Behörden schließlich auf Nebelgranaten. Angreifer sollen das Atomkraftwerk so nicht anvisieren können. Allerdings wurde diese Vorkehrung aufgrund eher geringer Wirksamkeit nur an zwei Standorten getroffen. Ebenfalls möglich wäre der Einsatz von militärischen Abfangjägern, die Becker zufolge aber vermutlich zu spät kämen.

Außerdem gilt es zu berücksichtigen, dass mehrere Angriffsszenarien denkbar sind: etwa Attacken mit Sprengstoffen von Hubschraubern oder vom Boden aus. Gegen die Detonation von großen Mengen seien die Kernkraftwerke nicht gewappnet. Die Reaktorkühlung könnte unterbrochen werden, was eine Kernschmelze sehr wahrscheinlich mache, so Becker. Zusätzlich bezweifelt sie, dass das Personal in den Kernkraftwerken gut genug vorbereitet sei, um einen geplanten und gezielten Anschlag abzuwenden. Die US-amerikanische Nuclear Threat Initiative bewertete 2020 Sicherungsmaßnahmen der Regierung und die gesetzlichen Anforderungen zum Schutz vor Terrorangriffen und Sabotage durch Insider. Deutschland erhielt 72 von 100 möglichen Punkten. Beim Schutz vor möglichen Cyberangriffen waren es nur 63 von 100 Punkten.

Für weitere Nachrüstungen ist es in Deutschland zu spät

2009 und 2010 legte ein Cyberangriff eine iranische Anlage zur Urananreicherung lahm. Dabei zeigte sich, dass auch Systeme betroffen sein können, die nicht direkt mit dem Internet verbunden sind. Auch in Kernkraftwerken ist an bestimmten Stellen Steuerungssoftware im Einsatz. Eine direkte Verbindung zum Internet besteht allerdings nicht, und ein separates System zum Schutz des Reaktors ist rein analog, also ohne Software aufgebaut. Der Pressesprecher der GRS, Sven Dokter, erklärte das im Gespräch mit dem KNICKER anhand der Schichten einer Zwiebel: Der schützenswerte Kern wird von unterschiedlichen Systemen ummantelt, die voneinander insoweit isoliert sind, dass etwa ein Computervirus nicht so einfach von einem System zum nächsten durchdringen kann. Zudem würden die Bedrohungslage durch Schadsoftware täglich aktualisiert und die Systeme bei Bedarf kurzfristig mit Updates versorgt. Gezielte Angriffe könnten einen Reaktor in einen instabilen Zustand bringen und Unfälle auslösen. Auch hier unterliegen Schutzmaßnahmen der Geheimhaltung.

Immerhin entschied sich Deutschland 2011 in Reaktion auf die Nuklearkatastrophe von Fukushima für den Atomausstieg – bis Ende 2022 läuft der Betrieb der letzten drei Kernkraftwerke hierzulande aus. Der Kernphysiker Heinz Smital von der Umweltorganisation Greenpeace hält es für ausgeschlossen, dass es bis zum Laufzeitende noch weitere bauliche Schutzmaßnahmen an den drei verbliebenen AKW geben wird. Auch wenn das Thema bei den eigenen Anlagen für nicht mehr relevant erachtet wird, bleibe durch die gekühlten und zwischengelagerten Brennstäbe ein Risiko für Deutschland bestehen. Es hätte auch Folgen für die Bundesrepublik, wenn radioaktive Stoffe in nahegelegenen europäischen Atomkraftwerken freigesetzt würden. Frankreich bezieht über 70 Prozent seines Stroms aus Kernenergie, hat so viele Reaktoren wie kein anderes Land in Europa und baut weiter aus. Abschalten kommt dort also kaum infrage. Als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine lässt auch Belgien aus Angst vor Engpässen in der Energieversorgung seine Kernkraftwerke zehn Jahre länger laufen.

Auch stillgelegt noch gefährlich

Auch wenn nach 2022 keine Reaktoren in Deutschland mehr betrieben werden, ist das noch keine Entwarnung. Abschalten heißt nämlich nicht automatisch, dass keine Gefahr mehr von den stillgelegten Atomanlagen ausgeht. Zwar wird dann für die Kühlung der Brennelemente viel weniger Energie benötigt, das Atomkraftwerk geht aber in eine Nachbetriebsphase. Auch wenn sich keine Brennelemente mehr im Reaktor befinden, lagern die abgebrannten Brennstäbe für etwa fünf Jahre in Abklingbecken. In dieser Zeit kann es noch immer infolge eines Angriffes zu einer radioaktiven Freisetzung kommen – beispielsweise wenn die Stromversorgung der Kühlung unterbrochen wird. Allerdings hat man Tage bis sogar Wochen Zeit, die Kühlung wieder in Gang zu bringen, anders als bei einem aktiven Kernkraftwerk – dort zählt jede Stunde. Oda Becker hält einen Sabotageakt in Form eines Cyberangriffs in diesem sensiblen Bereich nicht für ausgeschlossen. Innentäter:innen könnten etwa Ventile manipulieren, sodass Kühlwasser nicht mehr umläuft oder ausläuft.

Für Zwischenlager hingegen besteht die Gefahr von Cyberangriffen nicht, da es durch die passive Kühlung der Castoren keine derartige Gefährdung gibt. Laut Becker würde aber eine Panzerfaust die Stahlwand eines Castorbehälters problemlos durchdringen und so zerstäubter Brennstoff aus dem Loch freigesetzt werden. Infolge dieser radioaktiven Staubwolke müssten Anwohner:innen bis in eine Entfernung von rund zwei Kilometern evakuiert werden. Ein Ehepaar aus Brunsbüttel hatte 2004 geklagt, weil das Zwischenlager nicht ausreichend gegen Terroranschläge und andere Angriffe gerüstet sei. Dem dortigen Zwischenlager entzog ein Gericht 2013 die Betriebsgenehmigung.27 Seither fehlen entsprechende Nachweise – die Brennelemente lagern dort trotzdem weiterhin auf unbestimmte Zeit ein. Sicherheit bestehe laut den Expert:innen erst, wenn es ein Endlager gibt, in dem der Müll unter der Erde verschwindet.

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Fußnoten

  1. Wir verwenden die aus dem Ukrainischen übertragene Schreibweise.
  2. Bundesamt für Strahlenschutz (Hg.): Lage in der Ukraine: Bewertung vom 1.4.22, auf: bfs.de (1.4.2022).
  3. ZDF (Hg.): AKW in der Ukraine: Lage weiterhin »ernst«, auf: zdf.de (20.3.2022).
  4. Ustohalova, Veronika; Englert, Matthias: Nukleare Sicherheit in Krisengebieten, Öko-Institut, Darmstadt, 2017, S. 12.
  5. Schwägerl, Christian: Kernkraft und Krieg: »Risikopotenzial, das wir bisher nicht erlebt haben«, auf: riffreporter.de (31.3.2022).
  6. Ustohalova; Englert, 2017, S. 10.
  7. Clasen, Bernhard: Gefahren lange nicht gebannt, auf: taz.de (22.3.2022).
  8. Konradin Medien (Hg.): Wie sicher sind Atomkraftwerke in Krisengebieten?, auf: wissenschaft.de (21.4.2017).
  9. Wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen scheiterte im März die Inbetriebnahme eines zentralen Zwischenlagers für alle radioaktiven Abfälle der Ukraine in Tschornobyl. Fiedler, Mirja: Wie Deutschland gerüstet ist, auf: tagesschau.de (11.3.2022).
  10. Konradin Medien 2017.
  11. Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (Hg.): Ukraine: Behördenübergreifende Informationen zur nuklearen Situation, auf: base.bund.de (15.3.2022a).
  12. Tagesspiegel (Hg.): 11. September: Atta hatte Atomkraftwerk im Visier, auf: tagesspiegel.de (8.3.2005).
  13. Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung 2022a.
  14. Becker, Oda: Atomstrom 2018: Sicher, sauber, alles im Griff?, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, 2018, S. 52-53; 62.
  15. Becker 2018, S. 53-54; 62.
  16. Becker 2018, S. 58-62.
  17. Nuclear Threat Initiative (Hg.): Losing Focus in a Disordered World, 2020, S. 107.
  18. Hansel, Mischa: Stuxnet und die Sabotage des iranischen Atomprogramms: Ein neuer Kriegsschauplatz im Cyberspace?, in: Jäger, Thomas; Beckmann, Rasmus (Hg.): Handbuch Kriegstheorien, Wiesbaden 2011, S. 564.
  19. Röhrlich, Dagmar: Abwehrstrategien sind schwierig zu entwickeln, auf: deutschlandfunk.de (8.7.2016).
  20. Telefonat mit Sven Dokter am 4.4.2022.
  21. Becker 2018, S. 62.
  22. Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (Hg.): Ukraine: Laufzeiten und Elektrizitätsmengen deutscher Atomkraftwerke, auf: base.bund.de (1.3.2022b).
  23. Telefonat mit Heinz Smital am 4.4.2022.
  24. Waschinski, Gregor: Macrons Wette auf Atomkraft: Frankreich will bis zu 14 neue Reaktoren bauen, auf: handelsblatt.com (10.2.2022).
  25. Müllender, Bernd: Kernschmelze der Vernunft, auf: taz.de (21.3.2022).
  26. Telefonat mit Oda Becker am 5.4.2022.
  27. Ebd.
  28. Bauchmüller, Michael: Angriff aufs Zwischenlager, auf: sueddeutsche.de (16.1.2015).
  29. Vorerst sollte der Betreiber Vattenfall eine Lösung bis 2018 finden, später bis 2020 – und aktuell auf unbestimmte Zeit. Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (Hg.): Zur atomrechtlichen Situation des Zwischenlagers Brunsbüttel, auf: base.bund.de (20.1.2020).

Autor:innen

Seit 2020 Redakteur bei KATAPULT.

Geboren 1988 und seit 2019 in der Redaktion bei KATAPULT und KNICKER. Sie hat Kunstgeschichte und Geschichte, mit Schwerpunkt auf den Ostseeraum, in Greifswald studiert.

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