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Laienkritiken

“Seufz....so schöööön”

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Lange Zeit war es dem Feuilleton und/oder einem kleinen, eher auserlesenen Zirkel vorbehalten, Literaturkritik zu üben und Rezensionen zu verfassen. Neben der professionellen Literaturrezension hat sich durch das Internet eine geradezu übermäßig betriebene Kritik (nicht nur) an literarischen Erzeugnissen entwickelt, die man als »Demokratisierung im Kulturbetrieb« deuten kann, da sich grundsätzlich alle Konsumenten von Kulturgütern mehr oder weniger kritisch zu Wort melden und sich so aktiv an einem öffentlich geführten Diskurs beteiligen (können).

Dabei spielt es – im Gegensatz zur professionellen Literaturkritik – keine Rolle, wie lange ein Werk bereits auf dem Markt ist und wie oft es besprochen wurde. Erfährt ein Werk erneut mediale Aufmerksamkeit, so nimmt die Zahl an Laienrezensionen wieder zu.

So gab es beispielsweise zum ersten Band von E. L. James' »Fifty Shades of Grey« am 14. September 2013 3.551 Rezensionen auf der Website des Onlineversandhändlers Amazon.de; am 15. August 2014, nachdem der Trailer zum Kinofilm einige Zeit online abrufbar war, 4.220 Rezensionen; und am 10. August 2015, nachdem der Film als DVD erhältlich und ein weiteres »Nachfolgebuch« (»Fifty Shades of Grey von Christian selbst erzählt«) angekündigt wurde, 4.875 Rezensionen.

Es stellt sich also die Frage, wie sich die professionelle Rezension von der Laienrezension unterscheidet und was die besonderen Merkmale von Laienrezensionen sind.

Transparente Bewertungen bei den Profis

Die professionelle Rezension, die von einem Literaturkritiker beziehungsweise einem Journalisten stammt, zeichnet sich dadurch aus, dass über den Rezensionsgegenstand informiert wird, dass er bewertet und dass die Bewertung zugleich begründet wird. Damit soll die Rezension für jeden nachvollziehbar und nachprüfbar gemacht werden.

Zu den Bausteinen einer professionellen Rezension zählen insbesondere Informieren, Orientieren, Argumentieren und Bewerten. Beim Orientieren vergleicht der Rezensent das Werk mit anderen Werken. Er ordnet das Werk in unterschiedliche Zusammenhänge, beispielsweise in das Gesamtwerk des Künstlers, die Tradition des Genres oder die Behandlung des Themas, ein und erklärt unter Umständen einzelne Aspekte des Werks. Außerdem deutet er das Werk, indem er beispielsweise Zusammenhänge zwischen einem beobachteten Sachverhalt und dessen Sinn herstellt, ein Fazit zieht und analysiert. Auf dieser Basis erfolgt dann die Bewertung. Das Rezensieren verbindet sich somit untrennbar mit dem Anspruch, das Bewerten transparent und für jeden überprüfbar zu machen.

Wer liest mehr – »leseratte« oder »vielleser«?

Laienrezensionen3 unterscheiden sich in ihrem Aufbau und in ihren Bausteinen in der Regel deutlich von professionellen Literaturkritiken. Ein erster Unterschied findet sich im Hinblick auf den Rezensionsgegenstand. Denn als rezensionswürdige Produkte werden neben literarischen Erzeugnissen alle Konsumgüter des Alltags angesehen. Rezensiert werden daher auch Koch- oder Malbücher oder Gebrauchsgüter wie elektrische Zahnbürsten oder Toaster. Der Begriff »Rezension« erfährt dadurch einen grundlegenden Wandel in seinem Geltungsbereich.

Auch die Autorschaft unterscheidet sich deutlich. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass die Mehrzahl der Literaturrezensionen auf Plattformen von Onlinehändlern von Laien beziehungsweise nicht-professionellen Literaturkritikern stammt. Dies zeigt sich vor allem daran, dass die Standards der professionellen Literaturkritik in der Regel nicht eingehalten werden.

Der Rezensent bleibt meist anonym, auch wenn beispielsweise Amazon mit der »Real Name Plakette« die Kunden für den echten Namen »auszeichnet«. Wählt er einen »sprechenden« Nickname (Spitznamen), kann er auf persönliche (literarische) Vorlieben (»Vampirjunkie«, »FantasyFan«) verweisen oder eine Selbsteinschätzung bezüglich des Lesepensums (»leseratte«, »vielleser«) geben. Beide Namengebungsverfahren dienen der (vermeintlich) positiven Selbstdarstellung und der Selbstprofilierung.

Das wichtigste Kriterium zur Bewertung in Laienrezensionen ist das »subjektive Erleben«.

Bewertungen sind keine Frage des Geschmacks

Ein ganz wesentlicher Unterschied zwischen professioneller Literaturkritik und Laienrezension findet sich im Aufbau der Rezensionen. Im Gegensatz zur professionellen Rezension sind für die Laienrezension lediglich die Handlungen »Informieren« und »Bewerten« bestimmend.

Auffällig ist, dass die Handlung »Informieren« in vielen Fällen gleichzeitig dazu dient, eine Bewertung abzugeben. Beim Informieren kann der Rezensent zum einen über den Inhalt des Werkes, über die Protagonisten oder (in der Regel chronologisch) über den Handlungsverlauf berichten. Das wird allerdings bei Laienrezensionen oftmals nicht mehr realisiert, wenn für das jeweilige Buch bereits viele Rezensionen vorliegen. Denn dadurch müssen die inhaltlichen Aspekte nicht mehr unbedingt thematisiert werden:

Beispiel 1

Zum anderen erfolgt »Informieren« auch dadurch, dass der Rezensent sein eigenes Erleben im Leseprozess thematisiert. Dazu zählen sowohl die Dauer des Leseprozesses – die Lesegeschwindigkeit ist unmittelbar mit der Gesamteinschätzung verbunden, denn je kürzer die Lesezeit, desto positiver wird das Werk bewertet – (Beispiel 2) als auch der Beweggrund für die Lektürewahl sowie die Orte, an denen der Rezensent das Werk gelesen hat. Diese dienen ebenfalls als positive oder negative Bewertungsgrundlage (Beispiel 3).

Beispiel 2
Beispiel 3

Das Bewerten ist eine obligatorische Handlung für die Laienrezensionen. Die Bewertung erfolgt dabei sowohl graphisch mittels der »Sternvergabe« als auch sprachlich. Die Bewertungsmaßstäbe unterscheiden sich grundlegend von denen der professionellen Rezension. Das wichtigste Kriterium zur Bewertung in Laienrezensionen ist das »subjektive Erleben«.

Als Bewertungsmaßstab zieht der Rezensent dabei seine eigenen Lektürevorlieben, -erwartungen und -erfahrungen heran, sodass die »individuelle[n] Bewertungsaspekte« überwiegen und emotionale Bestandteile in den Vordergrund treten. Das bedeutet, dass die eigene Gefallenskundgabe in Laienrezensionen deutlich ausgedrückt wird und das eigene Empfinden (Gefallen oder Nicht-Gefallen) das wichtigste Kriterium für die Rezensenten ist. Dass wirkungspsychologische Bewertungsaspekte vorherrschen, zeigt sich außer im eigenen Leseerleben und den damit verbundenen Emotionen (Beispiele 2 und 3) in den folgenden Bewertungsaspekten:

? Nachvollziehbarkeit der Handlung:

Beispiel 4

? Glaubwürdigkeit und »Echtheit« der Protagonisten:

Beispiel 5

? Empfinden von Sympathie oder Antipathie gegenüber den Protagonisten:

Beispiel 6

? Spannung sowie Konzeption und Originalität / Unterhaltungswert und das Einschätzen stilistischer Qualitäten (siehe auch Beispiel 3):

Beispiel 7

Die Laienrezensenten orientieren sich oft nicht oder kaum an literaturkritischen Standards. Maßgebend für ihre Rezensionsweise sind auf das individuelle Leseerleben bezogene wirkungspsychologische Bewertungskriterien. Die durch den Leseprozess ausgelösten Emotionen und die sich daraus ergebenden Bewertungen dienen dann in der Regel lediglich dazu, eine Leseempfehlung bzw. -warnung abzugeben. Dabei rückt zum Teil das eigene (Lese-)Erleben so in den Vordergrund, dass es nur noch zu einer reinen Geschmackskundgabe kommt:

Beispiel 8

Wer profitiert von Laienkritiken?

Wie schon die wenigen Beispiele veranschaulichen, zeigen sich deutliche Verschiebungen der Bewertungsmaßstäbe hin zur Kundgabe von Gefallensurteilen und Kauf- bzw. Lesehinweisen:

Beispiel 9

Durch die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit Laienkritiken wird deutlich, dass sich durch die – von den Onlinebuchhändlern geförderten – Meinungskundgaben eines Massenpublikums eine neue Textsortenvariante der literarischen Rezension herausbildet. In dieser gibt das subjektive Erleben des Lesers den Ausschlag für eine Kaufempfehlung bzw. -warnung. Dass sich diese Form der Kritik so stark verbreitet hat, lässt vermuten, dass das lesende Massenpublikum in erster Linie schnelle Orientierungshilfen wünscht und sich mit reinen Kaufempfehlungen bzw. -warnungen zufriedengibt.

Fußnoten

  1. Eine Rezension (lat. »recensio« für »Musterung«) ist eine kritische Untersuchung von Veröffentlichungen. Eine Rezension wird für gewöhnlich als Text verfasst.
  2. Bachmann-Stein, Andrea; Stein, Stephan: Demokratisierung der Literaturkritik im World Wide Web? Zum Wandel kommunikativer Praktiken am Beispiel von Laienrezensionen, in: Hauser, Stefan; Kleinberger, Ulla; Roth, Kersten Sven (Hg.): Musterwandel – Sortenwandel. Aktuelle Tendenzen der diachronen Text(sorten)linguistik. Bern 2014, S. 81-120, hier S. 81.
  3. Die folgenden Ausführungen basieren auf Bachmann-Stein/Stein (2014); Bachmann-Stein, Andrea: Zur Praxis des Bewertens in Laienrezensionen, in: Kaulen, Heinrich; Gansel, Christina (Hg.): Literaturkritik heute, Göttingen 2015, S. 77-91; Bachmann-Stein, Andrea: Emotionen in der Jugendliteratur, in: Pohl, Inge; Schellenberg, Wilhelm (Hg.): Linguistische Untersuchungen jugendliterarischer Texte im Rahmen einer relationalen Stilistik, Frankfurt a.M. u.a. 2015, S. 191-221.
  4. Hier werden lediglich Rezensionen zu literarischen Werken betrachtet; die Rezensionen beziehen sich sowohl auf die Buch- und Hörbuch- als auch auf E-Book-Ausgaben. Alle Textausschnitte stammen aus Texten auf amazon.de und sind original (mitsamt Fehlern) übernommen worden (Screenshots); echte Namen sind geschwärzt.
  5. Vgl. dazu auch Bachmann-Stein/Stein 2014, S. 90.
  6. Vgl. URL: https://www.amazon.de/gp/help/customer/display.html?nodeId=200108020, 30.10.2015.
  7. Z.B. durch Superlative (»die absurdesten Situationen«), konnotierte Lexik (»geniale Entspanntheit«), Exklamativsätze und Interpunktion (»ICH LIEBE DIESES BUCH!!!«), Metaphern und Vergleiche (»Der Stil von Mann erscheint mir sehr schwergängig, wie sehr stark gesüßtes, orientalisches Gebäck – sehr lecker, aber schnell füllend und dann ein Krampf, wenn man sich mehr davon reinschiebt.«)
  8. Stein, Stephan: Intermedialer Textsortenvergleich. Grundlagen, Methoden und exemplarische Analyse, in: Lüger, Heinz-Helmut; Lenk, Hartmut E. H. (Hg.): Kontrastive Medienlinguistik. Landau 2008, S. 425-450, hier: S. 442.

Autor:innen

Universität Bayreuth

Forschungsschwerpunkte
Textlinguistik und Medienlinguistik

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