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Ewigkeitsklauseln

Sag niemals nie!

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Verfassungen sind das rechtliche Basisdokument nahezu aller heutigen Staatsordnungen. Sie richten die Kerninstitutionen des Staates ein (das Staatsoberhaupt, die Regierung, das Parlament, die Gerichte usw.) und legen deren Zuständigkeiten fest. Zu den wichtigsten Grundprinzipien gehören dabei Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Darüber hinaus begrenzen Verfassungen den Staat. Durch Grundrechte werden weite Bereiche der Gesellschaft seinem Zugriff entzogen beziehungsweise staatliche Eingriffe werden streng reglementiert und an das Ziel gebunden, ihrerseits dem Schutz von Grundrechten zu dienen.

Moderne Staatsverfassungen in diesem Sinne haben sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, ausgehend von Nordamerika und Europa, weltweit verbreitet. Als älteste Verfassungen gelten dabei die von 1776 bis 1784 entstandenen Konstitutionen der 13 britischen Ex-Kolonien in Nordamerika, die mit der Verabschiedung einer Bundesverfassung 1787 die Vereinigten Staaten von Amerika gründeten. Die ersten europäischen Verfassungen folgten 1791 in Polen und Frankreich. Im Laufe des 18. Jahrhunderts verbreiteten sich Verfassungen dann schrittweise über alle Kontinente aus. Heute verfügen nur drei Staaten über kein geschlossenes Verfassungsdokument: das Vereinigte Königreich, Israel und Neuseeland.

Die tatsächliche Relevanz und Wirkungskraft von Verfassungen variieren jedoch sehr stark. In zahlreichen konsolidierten demokratischen Rechtsstaaten formen Verfassungen die politische und rechtliche Wirklichkeit in erheblichem Maße. Demgegenüber gelten Verfassungen in »defekten« Demokratien und Diktaturen zwar formalrechtlich, kommen praktisch aber nur eingeschränkt zur Anwendung. Im Besonderen steht dort die Durchsetzung des konstitutionellen Rechts unter ständigem politischen Vorbehalt. In »gescheiterten« Staaten schließlich, in denen die staatlichen Institutionen über keine oder nur lokale Wirksamkeit verfügen (wie beispielsweise in Somalia oder Afghanistan), bestehen Verfassungen kaum mehr als auf dem Papier.

Umso interessanter ist der Befund, dass Staatsverfassungen heute als »globaler Standard« gelten können: Seit vielen Jahrzehnten geht die Gründung neuer Staaten oder die Etablierung neuer politischer Ordnungen praktisch ausnahmslos mit der Einsetzung einer neuen oder reformierten Verfassung einher. Globaler Standard sind dabei auch die eingangs genannten konstitutionellen Grundprinzipien. Selbst in Nordkorea gehören Demokratie und (sozialistische) Rechtsstaatlichkeit zu den zentralen Verfassungsprinzipien (was auch immer das in der Praxis bedeuten mag).

Von erschwerter Änderbarkeit bis zu Ewigkeitsklauseln

Eine weitere Gemeinsamkeit nahezu aller modernen Verfassungen besteht darin, dass sie im Vergleich zu den sonstigen Rechtsnormen schwerer zu ändern sind. In der Regel werden erhöhte Mehrheiten im Parlament verlangt (etwa Zweidrittel- oder Dreiviertelmehrheiten), oftmals auch die Bestätigung in einem Referendum oder durch das folgende, neu gewählte Parlament. Ziel dieser Regelungen ist es, die rechtliche Basis der Staatsordnung dem einfachen Gesetzgeber und damit dem politischen Alltagsgeschäft zu entziehen. Damit geraten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einerseits in ein eigentümliches, nicht auflösbares Spannungsverhältnis. Andererseits versucht man die Demokratie gerade dadurch zu schützen, dass sie sich nicht durch einen einfachen Mehrheitsbeschluss abgeschafft werden kann.

Zahlreiche Verfassungen gehen jedoch noch einen oder zwei Schritte weiter: Sie sehen für einzelne Normen oder Normengruppen entweder nochmals erhöhte Änderungshürden vor oder erklären sie gar für unveränderbar. Die erste Variante, die »Änderungserschwernis« (oder »Erschwernisklausel«) findet sich etwa in der bulgarischen Verfassung von 1991. Grundsätzlich kann diese mit einer parlamentarischen Dreiviertelmehrheit geändert werden. Bestimmte konstitutionelle Regelungen wie beispielsweise die Form des Staatsaufbaus oder die Uneinschränkbarkeit zentraler Grundrechte können jedoch nur von einer eigens zu wählenden Verfassungsversammlung, der sogenannten »Großen Volksversammlung«, modifiziert werden. Die zweite Variante, das »Änderungsverbot« (oder »Ewigkeitsklausel«), ist zum Beispiel in der französischen Verfassung von 1958 vorhanden. Diese erklärt die »republikanische Regierungsform« für unveränderbar.

Änderungserschwernisse und Änderungsverbote finden sich bereits in den ersten modernen Staatsverfassungen. So erklärten die Konstitutionen der beiden späteren US-Bundestaaten Delaware und New Jersey (1776) zentrale Grundrechte, die Grundsätze der Staatsorganisation und das Verbot einer Staatsreligion für unveränderbar. Die erste europäische Ewigkeitsklausel ist sogar bis heute gültig (und hält damit auch den weltweiten Rekord): Laut der norwegischen Verfassung von 1814 dürfen Verfassungsänderungen »[...] nie den Grundsätzen dieser Verfassung widersprechen, sondern lediglich Modifikationen in einzelnen Bestimmungen betreffen, die nicht den Geist dieser Verfassung verändern«. Auch die weltweit erste Erschwernisklausel hat bis heute Bestand: Die US-Verfassung von 1787 legt fest, »[...] daß keinem Staat ohne seine Zustimmung das gleiche Stimmrecht im Senat entzogen werden soll«, während sonstige Verfassungsänderungen bereits mit der Zustimmung von drei Vierteln aller Bundesstaaten möglich sind.

Heute finden sich Änderungserschwernisse und Änderungsverbote in der überwiegenden Mehrheit der Verfassungen von Nationalstaaten (vgl. Abbildung). Von den aktuell geltenden 193 Verfassungen weisen 71 Erschwernisklauseln auf (36,8 Prozent) und 59 Ewigkeitsklauseln (30,6 Prozent). Zwölf verfügen gar über beides (6,2 Prozent). Lediglich 51 Verfassungen enthalten weder eine Änderungserschwernis noch ein Änderungsverbot (26,4 Prozent). Dabei zeigen sich auch einige regionale Muster: Nahezu alle früheren französischen Kolonialstaaten in Afrika weisen ein Änderungsverbot der republikanischen Staatsform auf, das der französischen Verfassung nachgebildet wurde. Demgegenüber verfügen weltweit fast alle ehemaligen britischen Kolonien über ähnlich aufgebaute, relativ komplex strukturierte Änderungserschwernisse. Diese Muster spiegeln offenbar gleichförmige Entstehungszusammenhänge der postkolonialen Verfassungsordnungen wider.

Sind Erschwernis- und Ewigkeitsklauseln praktisch relevant?

Obwohl Änderungserschwernisse und Änderungsverbote sich schon in den frühesten modernen Staatsverfassungen finden, haben sie sich jedoch deutlich langsamer verbreitet als Verfassungen selbst. So enthielten von den 119 bis einschließlich 1840 erlassenen Konstitutionen lediglich sieben Änderungserschwernisse und neun Änderungsverbote (zusammen: 13,4 Prozent). Diese waren zudem mit der bereits genannten Ausnahme Norwegens ausschließlich auf dem amerikanischen Doppelkontinent zu finden. Heute dagegen sind Erschwernis- und Ewigkeitsklauseln typische Elemente neuer Verfassungen. Von den seit dem Jahr 2000 neu in Kraft getretenen 52 Verfassungen verfügten 24 über Änderungsverbote, 13 über Änderungserschwernisse und zwei über beides (zusammen: 75,0 Prozent).

Trotz dieser weiten Verbreitung lässt sich fragen, welche praktische Relevanz solche Regelungen haben. Diese Frage lässt sich auf mindestens zwei Ebenen beantworten: Auf der »symbolischen Ebene« versuchen Änderungserschwernisse und Änderungsverbote einen Wechsel der konstitutionellen Identität einer Staatsordnung zu erschweren beziehungsweise rechtlich unmöglich zu machen. So erklärt beispielsweise das deutsche Grundgesetz Änderungen für unzulässig, »[...] durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 [Menschenwürde und Menschenrechte] und 20 [Demokratie-, Sozialstaats-, Rechtsstaats- und Bundesstaatsprinzip] niedergelegten Grundsätze berührt werden«

So wie Verfassungsregeln überhaupt, sind demnach auch Änderungserschwernisse und -verbote darauf angewiesen, praktisch befolgt zu werden. Ist dies der Fall, dann bleibt ihre Wirkung nicht auf das Symbolische beschränkt, sondern entfaltet sich auch auf der »faktischen Ebene«. Dies zeigt sich dann vor allem in Konflikten um Verfassungsreformen. So legte beispielsweise das bulgarische Verfassungsgericht in den Jahren 2003-2005 in mehreren Interpretationsentscheidungen die bereits erwähnte Änderungserschwernis, wonach die Form des Staatsaufbaus nur von einer eigens zu wählenden Großen Volksversammlung geändert werden darf, ausgesprochen extensiv aus. In der Folge wurden zahlreiche Elemente einer Reform des Justizwesens faktisch unerreichbar, obwohl sie von zum Teil breiten Mehrheiten im Parlament getragen wurden. Eine ähnliche Rolle spielte der rumänische Verfassungsgerichtshof 2014, als er zahlreiche von der damaligen Parlamentsmehrheit geplante Verfassungsänderungen mit Blick auf die umfangreiche Ewigkeitsklausel in der Konstitution Rumäniens als verfassungswidrig einstufte und damit verhinderte.

Wie groß der Einfluss von Änderungserschwernissen und Änderungsverboten auf die Stabilität und Dynamik von Verfassungen jedoch im Allgemeinen ist, ist bisher nicht bekannt. Überdies sind sich Politik- wie Rechtswissenschaft derzeit nicht einmal der weiten historischen und aktuellen Verbreitung solcher Klauseln bewusst. So vermerkt etwa Horst Dreier in seiner ansonsten ausgesprochen kenntnisreichen Studie zum Grundgesetz, es habe vor 1949 »[...] nur wenige, zumeist allein auf die Staatsform der Republik bezogene Vorläufer« des deutschen Änderungsverbots gegeben.

Jedoch lassen sich für den genannten Zeitraum mindestens 75 Verfassungen mit Ewigkeitsklauseln belegen. Neben den Fragen nach der historischen Verbreitung und den empirischen Wirkungen von Änderungserschwernissen und Änderungsverboten stellen sich noch zahlreiche weitere Fragen: Wann und in welchem Kontext ist die Idee solcher Regelungen überhaupt entstanden? Welche Inhalte weisen sie auf? Warum werden sie in Verfassunggebungsprozessen kodifiziert? Und nicht zuletzt: Was spricht normativ für oder gegen ihre Einführung?

Früher oder später müssten sich Änderungserschwernisse und Änderungsverbote der „normativen Kraft des Faktischen“ – so eine treffende Formulierung des Rechtswissenschaftlers Georg Jellinek (1851–1911) – beugen.

Können Verfassungen sich selbst »verewigen«?

Man ist versucht, diese Frage mit einem simplen »nein« zu beantworten: Wie soll ein möglicherweise sehr alter Text aktuelle politische Akteure faktisch binden? Wenig überraschend finden sich denn auch Beispiele, in denen Ewigkeitsklauseln nicht nur missachtet, sondern gar auf rechtskonformem Wege geändert wurden (so geschehen beispielsweise in Portugal, wo man 1989 per Verfassungsänderung Teile des Änderungsverbots der Verfassung von 1976 einfach abschaffte). Kurz: Früher oder später müssten sich Änderungserschwernisse und Änderungsverbote der »normativen Kraft des Faktischen« – so eine treffende Formulierung des Rechtswissenschaftlers Georg Jellinek (1851–1911) – beugen.

Wäre es so einfach, bliebe jedoch unklar, wie solche Klauseln in der Geschichte der modernen Verfassungsstaatlichkeit einen solchen »Siegeszug« hinlegen konnten. Sollten die Verfassungsschöpferinnen und -schöpfer im Laufe der Zeit tatsächlich immer naiver geworden sein? Sind Änderungserschwernisse und Änderungsverbote möglicherweise doch nur rein symbolisch zu verstehen? Oder liegt vielleicht in Erschwernis- und Ewigkeitsklauseln eine viel stärkere »faktische Kraft des Normativen«, als man intuitiv annehmen würde? Man sollte jedenfalls niemals nie sagen.

Autor: Dr. Michael Hein, Politikwissenschaftler, erforscht als Humboldt Post-Doc Fellow an der Humboldt-Universität zu Berlin die Rolle von Ewigkeits- und Erschwernisklauseln in modernen Staatsverfassungen.

Autor:innen

Forschungsschwerpunkte
Verfassungspolitik
Verfassungsgerichte
Politische Systeme in Südosteuropa
Systemtheorie

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