Internationale Strafverfolgung
Nürnberger Prozesse für IS-Kämpfer
Von Julius Gabele und Cornelia Schimek
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Die islamistische Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) kontrolliert seit März 2019 keine Gebiete mehr, weder im Irak noch in Syrien. Die siegreichen »Demokratischen Kräfte Syriens« (DKS) stehen nun jedoch vor neuen Herausforderungen: Rund 57.000 mutmaßliche IS-Anhänger befinden sich aktuell in ihren Gefangenenlagern – darunter Ausländer aus 48 Nationen. Zwar haben die DKS innerhalb weniger Jahre halbwegs funktionierende demokratische Institutionen auf syrischem Staatsgebiet geschaffen. Sie sind jedoch keineswegs in der Lage, ordnungsgemäße Gerichtsverfahren in solch großem Ausmaß durchzuführen. Die DKS fordern von der internationalen Staatengemeinschaft deshalb, ihre Bürger wieder aufzunehmen und in ihren Heimatländern vor Gericht zu stellen.
Die irakische Justiz unterscheidet nicht zwischen IS-Köchen und IS-Soldaten
Bisher weigern sich die westlichen Staaten, mutmaßliche IS-Anhänger – mit Ausnahme einiger Kinder und Frauen – wieder aufzunehmen und sie in ihren Heimatländern anzuklagen. Stattdessen werden sie größtenteils an die nationalen Gerichte des Irak überwiesen. Die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch berichtet, dass zwischen 2014 und 2017 7.374 Kämpfer von der irakischen Justiz verurteilt wurden – 92 von ihnen wurden hingerichtet. Drei Dinge sind daran problematisch:
(1) Verglichen mit der Zahl der Inhaftierten musste sich bisher nur ein kleiner Teil der IS-Kämpfer vor Gericht verantworten. Der irakischen Justiz fehlen die Kapazitäten, um alle Prozesse in einem angemessenen Zeitraum durchzuführen.
(2) Den irakischen Behörden wird mangelnde Rechtsstaatlichkeit vorgeworfen: In Schauprozessen werden mutmaßliche IS-Kämpfer zum Tode verurteilt, ohne Anhörung von Zeugen und mit unter Folter erzwungenen Geständnissen. Dies führt zum Teil zu der paradoxen Situation, dass westliche Staaten abgelehnte Asylbewerber nicht in den Irak abschieben, da ihnen dort Folter oder die Todesstrafe droht. Eigene Staatsangehörige, die der IS-Mitgliedschaft verdächtigt werden, werden jedoch bewusst genau diesem Risiko ausgesetzt.
(3) Die irakische Justiz verurteilt mutmaßliche IS-Kämpfer auf Basis von Anti-Terror-Gesetzen. Die Personen werden nicht wegen konkreter Verbrechen angeklagt, sondern aufgrund jeglicher Verbindung und Unterstützung des IS. Köche und Ärzte, die im Gebiet des IS gearbeitet haben, werden demnach mit der gleichen Härte verurteilt wie IS-Kämpfer, die am Genozid an der jesidischen Minderheit beteiligt waren. Hintergrund: Im August 2014 fielen IS-Kämpfer in das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden im Nordirak ein und ermordeten rund 5.000 Männer. Sie verschleppten mehr als 7.000 Frauen und Kinder, die zum Teil zwangsverheiratet und als Sexsklaven verkauft wurden.
Es gibt drei Möglichkeiten, IS-Kämpfer vor internationalen Gerichten zu verurteilen
Politiker und Wissenschaftler diskutieren gleichermaßen über eine internationale Lösung im strafrechtlichen Umgang mit mutmaßlichen IS-Anhängern. Innerhalb der internationalen Gemeinschaft besteht Uneinigkeit darüber, in wessen Geltungsbereich die IS-Verbrechen fallen und welche strafrechtliche Institution über genug internationale Anerkennung und ausreichend Mittel verfügt, um über mehrere Tausend Angeklagte zu urteilen. Der Rechtswissenschaftler Andrew Solis veröffentlichte 2015 im »Southern Illinois Law Journal« eine Studie, in der er drei Alternativen beschreibt, wie auf internationaler Ebene Prozesse gegen IS-Kämpfer geführt werden könnten und so die überforderte irakische Justiz entlastet würde: durch den Internationalen Strafgerichtshof, durch ein UN-Kriegsverbrechertribunal oder mit einem hybriden Gerichtshof.
Politische Akteure in der Region und westliche Interessengruppen befürworten ebenfalls ein verstärktes internationales Eingreifen im Rechtskonflikt – aus zum Teil unterschiedlichen Beweggründen: Jesidenverbände befürchten, dass IS-Kämpfer für ihre Verbrechen am jesidischen Volk nicht oder zumindest nicht ausreichend bestraft werden. Menschenrechtsgruppen kritisieren die mangelnde Rechtsstaatlichkeit der irakischen Behörden. Und Vertreter westlicher Staaten wollen durch eine internationale Lösung verhindern, dass ehemalige IS-Kämpfer zurück in ihre Heimatländer dürfen. So forderte beispielsweise der deutsche Innenminister Horst Seehofer im April 2019 eine »internationale Strafgerichtsbarkeit«, da ihm das »allemal lieber« sei, »als alle IS-Kämpfer deutscher Staatsangehörigkeit nach Deutschland zu holen«.
Die vermeintlich naheliegendste Möglichkeit besteht darin, die IS-Kämpfer vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag anzuklagen. Seit 2002 ist es seine Aufgabe, gegenüber Personen – nicht jedoch Staaten – in Fällen von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Verbrechen der Aggression die Strafgerichtsbarkeit auszuüben. Der IStGH wird tätig, wenn nationale Gerichte nicht fähig oder willens sind, die Prozesse zu führen. Zwar beschlossen die Vereinten Nationen die Gründung des IStGH, er ist aber selbst nicht Teil der UN. Nach den Kriegsverbrechertribunalen, die der UN-Sicherheitsrat in den 1990er-Jahren für die Verfolgung der Verbrechen in Jugoslawien und in Ruanda eingerichtet hatte, einigten sich Teile der internationalen Staatengemeinschaft auf die Etablierung einer ständigen rechtlichen Institution außerhalb der UN. Nicht alle UN-Mitgliedstaaten haben die vertragliche Grundlage des IStGH, das Römische Statut, ratifiziert. Zur Zeit gehören nur 122 der 193 UN-Mitglieder zu den Vertragsstaaten und erkennen die Zuständigkeit des IStGH für die Verfolgung bestimmter Straftaten an. Das Römische Statut regelt, wann der IStGH aktiv werden darf. Das ist unter anderem der Fall, wenn (1) die Verbrechen auf dem Staatsgebiet eines Vertragsstaates verübt wurden, (2) der Täter Bürger eines Vertragsstaates ist oder (3) ein Land, das formal nicht Mitglied ist, für ein bestimmtes Verbrechen die Zuständigkeit des IStGH anerkennt.
Weder Syrien noch der Irak haben das Römische Statut ratifiziert. Es besteht zwar die Möglichkeit, IS-Kämpfer zu verurteilen, wenn diese aus Vertragsstaaten kommen. Hierfür müssten jedoch deren Identitäten geklärt werden, was in vielen Fällen unmöglich ist. Ein weiteres Problem des IStGH ist, dass er vor allem auf die Verurteilung von Diktatoren oder Milizenführer ausgerichtet ist, nicht aber auf die Verfolgung einzelner Soldaten.
Nürnberger Prozesse als Vorbild
Eine andere Möglichkeit ist es daher, ein UN-Kriegsverbrechertribunal zu bilden – auch Ad-hoc-Strafgerichtshof genannt –, wie es sie in Jugoslawien und Ruanda gab. Beide Gerichte wurden durch Resolutionen des UN-Sicherheitsrats legitimiert – insbesondere im Fall Jugoslawiens gegen den Willen der lokalen Akteure. Sie fanden unter Aufsicht der Vereinten Nationen und im juristischen Rahmen des Völkerrechts statt. Die Ad-hoc-Gerichte gelten als Nachfolger der Internationalen Militärgerichtshöfe in Nürnberg beziehungsweise Berlin (»Nürnberger Prozesse«) und Tokio, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den alliierten Siegermächten eingerichtet wurden.
Die DKS forderten die UN bereits auf, ein ähnliches Strafgericht zu schaffen. Während eine Mitarbeit von syrischer Seite als unwahrscheinlich gilt, zeigte sich der irakische Staatspräsident offen für dessen Errichtung. Der Vorschlag wurde von einigen weiteren Staaten unterstützt. Die USA, Frankreich und Deutschland verwiesen dagegen auf die politischen, völkerrechtlichen und logistischen Barrieren. Momentan wird die Bildung eines Ad-hoc-Gerichts von China und Russland im UN-Sicherheitsrat blockiert. Russland unterstützt sowohl diplomatisch als auch militärisch das Regime des syrischen Machthabers Bashar al-Assad. Diesem werden von den UN im Syrischen Bürgerkrieg und im Kampf gegen den IS ebenfalls Kriegsverbrechen vorgeworfen, die von einem Ad-hoc-Gericht verfolgt werden könnten.
So lässt sich »Siegerjustiz« vermeiden
Die pragmatischste Lösung wäre es Andrew Solis zufolge daher, einen sogenannten hybriden Gerichtshof zu bilden, denn dessen Errichtung erfordert nicht zwangsläufig die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats. Hybride Gerichte kombinieren internationale und nationale Komponenten. Das geschieht beispielsweise durch den Einsatz von sowohl ausländischen als auch einheimischen Richtern und Anklägern oder durch die Anwendung internationalen Völkerstrafrechts und nationalen Strafrechts. Solche Gerichte wurden vermehrt Anfang der 2000er-Jahre als Weiterentwicklung der UN-Kriegsverbrechertribunale eingesetzt. Sie entstehen meist entweder durch Eigeninitiative der betroffenen Staaten, unterstützt durch internationale Berater, oder durch bilaterale Verträge zwischen den jeweiligen Staaten und den UN. Finanziert werden die Prozesse dann entweder direkt aus dem Budget der UN oder über freiwillige Beiträge von UN-Mitgliedstaaten.
Die Vorzüge der hybriden Gerichtshöfe sind naheliegend: Die Prozesse finden vor Ort statt, durch das Einbeziehen der nationalen Institutionen gelten sie als deutlich besser »lokal eingebettet«. Anders als die UN-Tribunale werden sie weniger als »Siegerjustiz« wahrgenommen und von der lokalen Bevölkerung stärker akzeptiert. Zudem ist der logistische und finanzielle Aufwand geringer, da mit den bereits bestehenden lokalen Justizbehörden zusammengearbeitet wird.
Entführte und ermordete Strafverteidiger
In der Vergangenheit gab es bei Sondergerichten vermehrt Finanzierungsprobleme und die Dauer ihrer Mandate war zu knapp bemessen. Die Zuständigkeitsbereiche sind immer Kompromisse zwischen internationalem Rechtsverständnis und den Interessen der nationalen politischen Führung. Daher gelten hybride Gerichtshöfe in den meisten Fällen als Eingeständnis dafür, zu keiner für beide Seiten zufriedenstellenden Aufarbeitung der Verbrechen kommen zu können.
Sollte also im Fall des IS das Assad-Regime der Errichtung eines hybriden Gerichtshofs zustimmen, würde es sehr wahrscheinlich als Bedingung ausschließlich zulassen, dass die Verbrechen des IS und anderer Rebellenmilizen untersucht werden. Rechtsbrüche der eigenen Reihen würden also ausgeklammert und somit der umfassende Rechtsanspruch des Gerichts von Beginn an unterwandert werden.
Der Irak hingegen hat bereits negative Erfahrungen mit einem hybriden Gerichtshof gemacht: Nach dem Sturz des langjährigen Diktators Saddam Hussein richtete die irakische Übergangsregierung das sogenannte Iraqi High Tribunal ein, finanziert und unterstützt durch die USA. Zwar gelang es, die Verbrechen Saddam Husseins und einiger Mitangeklagter vor Gericht zu verhandeln, allerdings waren die Prozesse von Skandalen geprägt. Mehrere Anwälte kündigten, Richter wurden während des laufenden Verfahrens ausgetauscht, einige Verteidiger wurden entführt und ermordet, und Saddam Hussein wurde bereits wenige Tage nach der Urteilsverkündung hingerichtet.
Der Nürnberg-Moment
Vor irakischen Gerichten wurde bislang in Verbindung mit dem Völkermord an den Jesiden kein einziger Fall verhandelt. Orte, an denen IS-Verbrechen begangen wurden, wurden nicht ausreichend untersucht, gefundene Massengräber bisher kaum in der Beweisaufnahme berücksichtigt. Der langjährige Chefankläger des IStGH, Luis Moreno Ocampo, fordert gemeinsam mit Jesidenverbänden die UN dazu auf, eine Lösung der aktuellen Unrechtslage zu finden – vor allem angesichts der Warnung der DKS, die gefangenen IS-Kämpfer und ihre Familien freilassen zu müssen. Die Kapazitäten in ihren Gefängnissen reichten nicht aus.
Die Menschenrechtlerin Amal Clooney bezeichnete in einer Rede vor dem UN-Sicherheitsrat im April 2019 die aktuelle Situation als »Nürnberg-Moment«: Die Internationale Staatengemeinschaft – allen voran die UN – habe die Möglichkeit, trotz zwischenstaatlicher Differenzen eine Lösung für den strafrechtlichen Umgang mit den IS-Kämpfern zu finden – ähnlich wie es den alliierten Siegermächten bei der Strafverfolgung der Nationalsozialisten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelang. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass die Anhänger des IS sich »ihre Bärte abrasieren und ein normales Leben führen«.
Dieser Text erschien in der 14. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr.
Autor:innen
Ehemaliger Redakteur bei KATAPULT. Er ist Chefredakteur von KATAPULT Kultur und für die Produktionsleitung des Magazins verantwortlich. Er hat Geographie an der Universität Augsburg und der Universitat de Barcelona studiert. Er ist zudem als freiberuflicher Fotograf tätig.
KATAPULT-Redakteurin