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Am 15. März 2019 erschoss Brenton Tarrant in zwei Moscheen der neuseeländischen Stadt Christchurch mehr als 50 Menschen. Kurz vor dem Angriff veröffentlichte der Täter im Netz ein Manifest. Allein der Titel »Der große Austausch« geht auf einen rechtsextremen Verschwörungsglauben zurück, wonach die Regierung oder eine vermeintliche politische Elite plane, die weiße Bevölkerung auf lange Sicht gegen Migranten auszutauschen. Diese Erzählung vom »großen Austausch« ist unter Rechtsextremen weitverbreitet. Der Anschlag von Christchurch inspirierte weitere Nachahmungstäter in den US-Städten Poway und El Paso sowie im deutschen Halle. Jeder dieser Täter radikalisierte sich auf Onlineforen wie 8chan (seit November 2019 8kun) oder 4chan und bezog sich auf dasselbe rechtsextreme Narrativ vom großen Austausch.
Narrative sind Erzählungen. Menschen nutzen sie, um Erlebtem einen Sinn zu geben und ihre eigene Weltanschauung zu bilden. Narrative beeinflussen also, wie Menschen ihre Welt wahrnehmen. Sie wirken auf alle Menschen jeglicher politischer Einstellung. Problematisch werden Narrative, wenn Personen oder Gruppen sie für falsche Zwecke missbrauchen. Zunehmend instrumentalisieren Rechtsradikale beispielsweise die Legende der »Trümmerfrauen«. Damit bezwecken sie, Deutschland als Opfer des Zweiten Weltkrieges darzustellen. Linke, aber auch Konservative glauben bis heute an diese Geschichte: Fotos mit Frauen in Arbeitskleidung, die selbstlos zerstörte Städte in Deutschland wieder aufbauten, entlarvten Studien aber als Mythos. Nur wenige Frauen taten das, Trümmerräumung war nach dem Krieg nämlich geächtet und viele der Fotos waren gestellt. Einen Großteil der Trümmer räumten Männer und Maschinen.
Rechtsextreme Filterblasen
In sozialen Netzwerken, Videoportalen, Blogs und Foren verbreiten viele extremistische Gruppen Narrative. Zum Beispiel die völkische Identitäre Bewegung oder das rechtsextreme Netzwerk Reconquista Germanica. Diese Narrative dienen dazu, rechtsextreme Ideologien bei den Nutzern der Plattformen zu festigen, etwa in Form eines Artikels, Videos oder Songs, um weitere Anhänger zu finden. Sie sind teils sehr aufwendig produziert und verbreiten sich im Netz besonders schnell. Häufig getarnt als politische Aufklärung, ahmen solche Narrative einen jugendlichen Lifestyle nach, um gezielt ein junges Publikum anzusprechen. Bestes Beispiel dafür ist der Onlineauftritt der Identitären Bewegung. Allein die junge Aufmachung ihrer Social-Media-Kanäle, die jungen Leute in ihren Youtube-Videos und die Sprache, die sie verwenden, legen nahe: Wir sind wie du, wir sind viele, wir sind körperlich fit, wir sind wütend und wir haben etwas zu sagen. Mach doch auch mit!
Doch wie groß und wie stark ideologisch gefestigt sind rechte Gemeinschaften in den sozialen Medien? Das haben Forscher des Instituts für strategischen Dialog erforscht. Sie untersuchten dabei zehn deutschsprachige alternative Social-Media-Plattformen mit 379 rechtsextremen und rechtspopulistischen Kanälen, auf denen zwischen 10.000 und 50.000 Personen aktiv sind – also 4chan, 8chan, Reddit und so weiter. Von den 379 Gruppen und Kanälen richteten sich deren Inhalte bei mehr als 100 gegen Islam, Muslime, Einwanderung und Geflüchtete. 92 Kanäle unterstützen offen den Nationalsozialismus. 46 Prozent der Nutzer des politischen Diskussionsforums /pol/ auf 4chan etwa geben an, aufgrund des Hasses gegenüber Minderheiten auf der Plattform zu sein. In der Gruppe Reconquista Germanica des Messengers Discord strebten 40 Prozent der Nutzer nach politischen Veränderungen und der Suche nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit. 12 Prozent aller Beiträge über Einwanderung beziehen sich explizit auf die Verschwörungserzählung vom großen Austausch.
Diese alternativen sozialen Medienplattformen haben weniger strenge Nutzerrichtlinien als die großen Mainstream-Plattformen wie Facebook oder Twitter. Die großen Betreiber müssen gemäß dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz illegale Inhalte innerhalb von 24 Stunden entfernen, ansonsten drohen hohe Strafzahlungen. Facebook, Twitter und Tiktok legen mittlerweile regelmäßig Berichte darüber offen, was sie alles gelöscht haben. Telegram aber hält sich quasi nicht an das Gesetz. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz richtet sich jedoch nicht an alternative Foren wie 8chan. Das heißt, dass gegen die Betreiber solcher Foren trotz rechtswidriger Inhalte keine hohen Geldstrafen verhängt werden können. Accounts der alternativen Plattformen werden also nur selten gesperrt, daher verbreiten sich dort weiter rechtsextreme Narrative. Was kann man dagegen tun?
Eine Methode: extremistische Narrative entweder mit sogenannten Gegenerzählungen oder mit alternativen Narrativen aushebeln. Forscher versprechen sich von beiden Ansätzen, Radikalisierung vorzubeugen oder sie sogar rückgängig zu machen. Eine Gegenerzählung möchte extremistische Inhalte direkt dort, wo sie gepostet werden, als Propaganda entlarven, indem sie etwa Fehlinformationen widerlegt. Ein kriegsverherrlichendes Narrativ könnte man zum Beispiel mit einer Gegenerzählung angehen, die die negativen Folgen eines Krieges aufzeigt. Alternative Erzählungen wiederum haben einen anderen Fokus: Sie transportieren positive Botschaften gegen das rechte Narrativ, beispielsweise indem sie friedliches Zusammenleben in einem demokratischen System in ihre Erzählung mit aufnehmen.
Wissenschaftler diskutieren die Ansätze bislang allerdings weitgehend theoretisch. Zudem nehmen sie an, dass Gegenerzählungen oder alternative Narrative gegenüber ideologisch gefestigten Personen kaum wirksam sind. Denn je länger sich jemand mit einer Ideologie auseinandergesetzt hat, desto schwieriger ist es, die Weltanschauung dieser Person umzukehren oder zu verändern. Forscher halten aber diese Ansätze für Personen, die sich noch in einer Anfangsphase oder an der Schwelle zu einer Radikalisierung befinden, für vielversprechend.
Weniger Gegenrede, mehr positive Botschaften
Die Ansätze für Gegenerzählungen im Netz sind teilweise sehr kreativ: Das Google-Unternehmen Jigsaw etwa setzte gezielt Videos mit Gegenerzählungen ein. Wenn sich Personen Videos mit dschihadistischen Inhalten auf Youtube ansahen, wurden sie anschließend auf Anti-IS-Videos umgeleitet. Aber wer sitzt eigentlich vor der Suchmaschine? Und falls es sich dabei tatsächlich um einen Extremisten handelt: Haben die Videos ihn zum Umdenken bewogen?
Die Datenlage, wie wirksam Gegenerzählungen sind, ist noch sehr dünn. Im deutschsprachigen Raum gibt es dazu bislang lediglich vier Fallstudien von Forschern der Universität Köln. Sie untersuchten, wie Videos gegen Rechtsextremismus und islamistischen Extremismus inszeniert und verbreitet sind und wie sie wirksam sein können. Je nach Erhebungsmethode unterschied sich dabei die Teilnehmerzahl – zwischen 70 und 338 Personen. Benutzt wurden Fragebögen, Gruppengespräche und Einzelinterviews. Die Forscher analysierten beispielsweise 337 Videos unterschiedlicher Art: informative Vorträge, aber auch unterhaltsame Formate wie aufwendige Filme oder Musikvideos. Besonders einprägsam für die befragten Personen waren die Videos, wenn sie eine emotional berührende Geschichte erzählten, so zum Beispiel Aussteigerberichte der Neonaziszene. In dem Fall regten sie die Betrachter der Videos dazu an, den eigenen Standpunkt zu reflektieren. Ebenfalls sehr wirksam waren die Videos mit einer verständlichen und klaren Sprache und wenn sie die Zuschauer direkt ansprachen. Als weniger zugänglich empfanden die Teilnehmer Videos mit Humor oder satirische Beiträge. Wenn die Videos lediglich anhand von Fakten die extremistische Propaganda konfrontierten, war die Wirkung der Videos nicht so stark. Deshalb sind alternative Narrative hervorzuheben, die Demokratie und Toleranz attraktiv machen und in den Vordergrund stellen. Kurz: weniger Gegenrede, mehr positive Botschaften.
Die Fallstudien haben jedoch ein Manko: Die Studienteilnehmer waren nicht dabei, sich zu radikalisieren. Wie die Videos auf Personen wirken, die von rechten Ideologien bereits überzeugt sind, lässt sich daher nicht sagen. Einer Metastudie von 2020 zufolge gibt es noch keine Belege, ob Gegenerzählungen bei Personen wirken, die extremistische Züge zeigen. Dennoch: Forscher der Irischen Nationaluniversität in Galway schätzen, dass der Effekt von Gegenerzählungen auf extremistische Narrative zwar gering ist, aber zumindest existiert.
Mehr Demokratie und Pluralismus im Netz
Was also tun, um rechtsextreme Narrative zu brechen oder zu berichtigen? Die Psychologin Lena Frischlich vom Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster erklärt, dass die Schlussfolgerung zu kurz greife, Ansätzen wie Gegenerzählungen und alternativen Narrativen wegen unzureichender Belege keine Chance zu geben. Die Forschung zu Prävention habe immer schon mit einer dünnen Beweislage zu tun. Wenn die Überzeugungen schon fester Bestandteil der Identität sind, reichen allerdings keine Gegenerzählungen mehr. Sondern dort müsse Frischlich zufolge konkrete Deradikalisierungsarbeit geleistet werden, um die Identität dieser Person völlig neu zu konstruieren – online wie offline. Ein Pilotprojekt versucht etwa, Personen mit extremistischen Tendenzen privat zu kontaktieren und dann Gespräche mit Aussteigern der Szene zu ermöglichen.
Es gibt aber auch andere Methoden. Mit jeder Teilung oder jedem Like von Netzbeiträgen ist es dem Einzelnen möglich, mitzuentscheiden, wem oder was Aufmerksamkeit gegeben und mit den Followern geteilt wird. Die Aussteigerinitiative Exit produziert einen Podcast, in dem Personen von ihren Ausstiegserfahrungen berichten. Oder: Junge Menschen erstellten im Rahmen des Rise-Projektes selbst Beiträge fürs Netz zu Identität, Zugehörigkeit und Politik. Dort kann man sich engagieren und zu mehr demokratischen und pluralistischen Inhalten im Netz beitragen. Eine weitere Möglichkeit: Harry Potter lesen. Studien zufolge seien auch die Romane in der Lage, Vorurteile abzubauen. Leser könnten besser verstehen, wie absurd Diskriminierung ist. Sie übertragen nämlich die Emotionen gegenüber den Charakteren auf diskriminierte Gruppen in der realen Welt. In den Büchern wird Harrys beste Freundin Hermine diskriminiert, weil ihre Eltern keine Zauberer sind – sie sei damit ein »Schlammblut«. Harry und seine Freunde wehren sich gegen dieses Narrativ und Hermine wird trotz ihrer Herkunft zu einer der besten Zauberinnen.
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