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Das EU-Parlament ist besorgt. Es sieht die Grundrechte der Bürger in Gefahr. Und zwar, weil Firmen und öffentliche Stellen Social Scoring betreiben könnten. Um so einen Score zu erhalten, wird das alltägliche Verhalten von Menschen beobachtet, bewertet und in eine Zahl zusammengerechnet. Anhand dieses Wertes wird der Mensch dann beurteilt. In die Berechnung der Scores können verschiedene Informationen einfließen: Alter, Geschlecht, Vermögen, Schulnoten, Körpergröße, Wohnort, Zuverlässigkeit bei Zahlungen und so weiter. Je nachdem, zu welchem Zweck die Person beurteilt werden soll. Ein guter Score bringt Vorteile, ein schlechter Nachteile. Mit solchem Bewertungssystemen entscheiden zum Beispiel Onlinehändler automatisch, wer auf Rechnung bestellen darf und wer vorab bezahlen muss. Doch auch das Sozialverhalten der Person kann in die Bewertung miteinfließen. Dann zählt zum Beispiel, ob die Person ehrenamtlich tätig ist, ob sie in der Freizeit Sport treibt oder ob sie sich eher vorsichtig oder risikofreudig verhält.
Komplexe Computerprogramme können enorme Datenmengen über eine Person zu einem Score zusammenrechnen. Dafür muss man sie allerdings auch mit sehr vielen Daten füttern. Daher kommt die Sorge des EU-Parlaments und etlicher Daten- und Verbraucherschützer, die Ende Januar 2021 allesamt forderten, Social Scoring von öffentlichen Stellen zu verbieten und Privatunternehmen zumindest streng zu kontrollieren. Denn theoretisch wäre es möglich, Daten über eine Person aus allen Behörden zusammenzunehmen und daraus einen Score zu errechnen, der den Bürger bewertet. Bonuspunkte könnte es dann für Ehrenämter und Teilnahme an Wahlen geben, negative Bewertungen für begangene Ordnungswidrigkeiten und Schwarzfahren. Ein guter Bürger würde auf dem Amt bevorzugt behandelt. Wer einen schlechten Score hat, müsste länger auf seine Termine warten oder dürfte keinen Reisepass beantragen.
Ein Wert bestimmt über alles
In China wird ein solches Social-Scoring-System bereits erprobt. Angefangen hat es Anfang der 2000er-Jahre mit der Bewertung der Kreditwürdigkeit der Bürger. Ein zentrales staatliches System für alle 1,4 Milliarden Einwohner wollte die Regierung nach einer Testphase einführen. Diese sollte bis 2020 dauern, der Start der umfassenden Scorings verzögert sich aber anscheinend. Inzwischen gibt es etliche Pilotprojekte, jede Region entwickelt eigene Scoring-Systeme. In die verschiedenen Systeme fließen immer mehr Informationen zur Berechnung des Scores für jeden Bürger. Gesetzesverstöße und Ordnungswidrigkeiten werden gespeichert, aber es gibt auch Bonuspunkte für Blutspenden, Zivilcourage und »Anerkennung als vorbildliche(r) Werktätige(r)«. Wird der Score zu niedrig, drohen Strafen: Die Leute dürfen keine Tickets für Flüge und Schnellzüge mehr kaufen, bekommen keine öffentliche Förderung mehr und Medien veröffentlichen ihre Namen als »nicht vertrauenswürdige Personen«. Oft wissen die Betroffenen allerdings gar nicht, dass sie auf schwarzen Listen stehen, bis sie eine der Strafen zu spüren bekommen. Und weil die Bewertungen undurchsichtig sind, können die Menschen sie kaum anfechten.
Das geplante zentral verwaltete Scoring soll verpflichtend für alle Bürger Chinas werden – auch für Parteimitglieder und Politiker. Der Großteil der Informationen soll dann öffentlich einsehbar sein. Indem sie alle überwacht, will die Regierung Offenheit demonstrieren und das Vertrauen der Bürger in den Staat stärken. Scheint auch zu funktionieren. In einer Onlineumfrage unter 2.209 Chinesen bewertete nur ein Prozent der Befragten Scoring-Systeme kritisch. Genauso wenige sind gegen die Einführung des landesweiten Scorings. Allerdings gaben überhaupt nur sieben Prozent an, über die Pilotprojekte der Regierung informiert zu sein. Diese Umfrage war jedoch nicht repräsentativ. Es könnte sein, dass gerade diejenigen mit Bedenken gegen massenhafte Datenauswertung nicht frei ihre Meinung äußerten.
Social Scoring seit den Römern
Ein Scoring-System dieses Ausmaßes gibt es in Europa nicht. Trotzdem fordert das EU-Parlament vorsorglich ein Verbot und warnt auch vor der Ausbreitung kommerzieller Anbieter von Scoring. Dabei sind Scoring-Systeme nicht ganz unbekannt. Seit Jahrtausenden mustern Staaten beispielsweise ihre Bevölkerung für die Armee, schon die alten Römer machten das. 55 Jahre lang untersuchte die Bundeswehr jeden jungen Mann in Deutschland, bewertete Größe, Gewicht, Sehvermögen, vorhandene Krankheiten und weitere Merkmale und errechnete daraus einen Tauglichkeitsgrad. Dieser Score bestimmte, ob der Mann als Soldat geeignet war. Eigentlich ein normaler Vorgang, Eignung aufgrund von Zahlen und Fakten zu bewerten.
Kompliziert wird es allerdings, wenn die Bewertung geheim oder nicht nachvollziehbar ist. Das ist zum Beispiel bei der Beurteilung der Kreditwürdigkeit häufig ein Problem. Auch diese Form von Scoring gibt es schon lange. Sogenannte Auskunfteien betreiben Finanz-Scoring als Geschäft. Die bekannteste Auskunftei in Deutschland ist die Schufa, sie gibt es schon seit 94 Jahren. Das Privatunternehmen sammelt Informationen über das Zahlungsverhalten von Verbrauchern und rechnet sie in einen Wert zusammen. Die Geschäftsidee: Potenzielle Vertragspartner können den Wert ihres Gegenübers gegen Gebühr einsehen. Er soll ihnen verraten, ob die Person zuverlässig Rechnungen, Miete oder Kreditraten bezahlt, also ein vertrauenswürdiger Geschäftspartner ist. Wie genau die Scores zustande kommen, verrät die Schufa nicht – das ist ihr Geschäftsgeheimnis.
Frauen fahren besser
So scheint die Schufa nur aufseiten von Firmen Sicherheit zu schaffen. Privatpersonen haben kein gutes Bild von dem Unternehmen. Die Hälfte der Deutschen vertraut der Schufa nicht, zeigt eine aktuelle Befragung. Jeder Fünfte hatte schon Probleme mit falschen oder veralteten Schufa-Einträgen. Immer wieder berichten Menschen von nicht nachvollziehbaren Bewertungen. Längst abbezahlte Schulden können den Schufa-Score noch lange verschlechtern. Außerdem basieren die Bewertungen anscheinend oft auf sehr wenigen Informationen. Zu fast einem Viertel der Personen in ihrer Kartei hat die Schufa maximal drei Einträge gespeichert – und gibt trotzdem eine Bewertung über deren Kreditwürdigkeit ab.
Scores sind jedoch sinnlos, wenn sie auf falschen oder alten Daten basieren. Der vom Bundesjustizministerium gegründete Sachverständigenrat für Verbraucherfragen (SVRV) formulierte 2018 in einem Gutachten Empfehlungen für verbrauchergerechtes Scoring. Die Scores sollten demnach auf korrekten, aktuellen Daten beruhen und sinnvoll berechnet werden. Die Berechnung sollte für den Verbraucher nachvollziehbar sein. Außerdem sollten Scores nicht diskriminierend sein und die Teilnahme an Scoring-Verfahren muss für Bürger freiwillig sein. Ähnliche Kriterien für faires Scoring nennen auch Sozialwissenschaftler. Demnach wird Scoring zum Problem, wenn man ihm nicht ausweichen kann oder wenn es auf Merkmalen beruht, die man nicht oder nur sehr schwer beeinflussen kann, etwa Alter und Geschlecht. Dann kann das Scoring schnell diskriminierend werden. Ein Beispiel: Versicherungen boten günstigere Kfz-Versicherungen für Frauen an. Das hat der Europäische Gerichtshof 2011 verboten. Ein Mann kann nur schwer sein Geschlecht wechseln, um seinen Score zu verbessern und ebenfalls den Vorteil zu bekommen. Allein nach Geschlecht zu beurteilen, ist also unfair, da dies keine direkten Auswirkungen auf den Fahrstil der Person hat. Und weil sich das Merkmal Geschlecht nur schwer ändern lässt.
Faule zahlen mehr
Der Einfluss des Einzelnen auf seinen Score ist wichtig dafür, ob Menschen das Scoring akzeptieren. Der SVRV führte 2018 eine Studie zur Akzeptanz von Scoring-Systemen durch und betrachtete dafür drei Bereiche: Kreditwürdigkeit, Kfz-Versicherung und Krankenversicherung. In allen drei Bereichen ist Scoring jetzt schon realistisch. In den Fragen ging es um Versicherungstarife, deren Preis an das persönliche Verhalten gekoppelt ist. Daten – übertragen aus dem Auto – sollen das Fahrverhalten einer Person und damit das Unfallrisiko messen. Vorsichtige Fahrer können sich günstiger versichern. Ein ähnliches Muster gab es bei der Krankenversicherung: Der Tarif für die Krankenkasse würde günstiger für Personen, die sich besonders gesundheitsbewusst verhalten. Belohnt werden zum Beispiel regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen und viel Bewegung. Die Daten für den Score zu gesundem Verhalten können aus Fitnesstrackern und ärztlichen Untersuchungen stammen. Von den Befragten konnten sich 36 Prozent vorstellen, einen solchen Tarif für ihre Kfz-Versicherung zu nutzen. Eine Krankenversicherung, die das persönliche Verhalten bewertet, würde über ein Drittel abschließen.
Der häufigste Grund für die Ablehnung eines Krankenversicherungstarifs waren Bedenken wegen zu viel Überwachung. Der zweithäufigste war, dass der Tarif unfair sei und man für seine Krankheiten nichts könne. Wer Gesundheit als unbeeinflussbar wahrnimmt, akzeptierte das Scoring nicht. Wer das Gefühl hat, durch gutes Verhalten eine gute Bewertung zu erlangen, machte eher mit. Das zeigt einen weiteren Mechanismus von Social Scoring: Menschen passen ihr Verhalten an, um gut bewertet zu werden. Wenn der gute Score Vorteile bringt, könnten Leute deshalb vorsichtiger fahren und gesünder leben. Auf diesem Gedanken beruht auch das chinesische Scoring. Um eine gute Bewertung zu erhalten, müssen die Bürger ihr Verhalten so anpassen, wie der Staat es gerne hätte.
Kein Baukredit für Ossis?
In Deutschland sind Versicherungstarife mit persönlichen Scores dagegen freiwillig. Verbraucherschützer wollen, dass das auch so bleibt. Denn schon bei der Schufa sagen Kritiker, dass sie unausweichlich ist und zu viel Macht hat. Eine Mietwohnung ist ohne Schufa-Auskunft kaum zu bekommen. Und viele Kaufverträge enthalten Klauseln, die es dem Unternehmen erlauben, die Daten über ihren Kunden an die Schufa weiterzugeben. Im Gegenzug bekommt das Unternehmen von der Schufa Informationen über den Kunden. So sammelt die Schufa riesige Mengen an Daten.
Die Verarbeitung großer Datenmengen wird immer einfacher und Computerprogramme werden immer intelligenter. Der SVRV erwartet deshalb, dass kommerzielle Anbieter Daten aus unterschiedlichen Lebensbereichen zu einem Super-Score zusammenfassen
könnten. Er warnt, dass solche Verfahren von privaten Anbietern in Deutschland eingeführt werden könnten, und spricht sich wie das EU-Parlament für eine strenge Kontrolle aus. Damit nicht irgendwann Rauchen und Im-Osten-Wohnen die Chance auf einen Kredit zunichtemachen.
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Autor:innen
Seit 2020 als Redakteurin bei KATAPULT vor allem für aktuelle Berichterstattung zuständig. Sie ist ausgebildete Fotografin und studierte Technikjournalismus an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg.