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Eine wesentliche Eigenschaft, die die moderne westliche Gesellschaft ausmacht, ist der Säkularismus. In seinem gut 1.300 Seiten langen Alterswerk rekonstruierte der Philosoph und Politikwissenschaftler Charles Taylor dessen europäische Geschichte.
Für seine Erzählung über den Säkularismus bekam Taylor Beachtung und Lob, andererseits wurde dem kanadischen Philosophen vorgeworfen, einer ethnozentrischen Sichtweise verfallen zu sein. Zu einfach mache er es sich, seinen beschriebenen europäischen Säkularismus als universalistisch gelten zu lassen. Mit dem Aufsatz »Can Secularism Travel?« antwortet Taylor nun auf diese Vorwürfe.
»Wir denken, dass sich hinter Prozessen der Säkularisierung ein Gedanke verberge, der in jedem Erdteil repliziert werden könne«, so Taylor. Jede Gesellschaft könne sich zwischen einem säkularen und nichtsäkularen Regime entscheiden. Westliche Beobachter unterliegen bei politischen Umbrüchen im nichtwestlichen Raum voreiligen Schlüssen. Sie betrachten »säkular« als einen festen Begriff, dessen Bedeutung sich von Kultur zu Kultur nicht verändere. Schließlich handelt es sich um einen Begriff, der auch in anderen Kulturen stets wiederkehrend ist. Ein solcher Gebrauch führe, laut Taylor, unweigerlich zu Missverständnissen. Dass es beispielsweise anstelle einer westlichen Säkularisierung Arabiens unter dem gleichen Schlagwort zu einer Renaissance des politischen Islams kommen sollte, kam für viele überraschend. Dieser Umstand wirft die Frage auf: Was passiert, wenn das Wort »säkular« in einen anderen kulturellen Kontext übertragen wird? Meinen also indische und deutsche Bürger dasselbe, wenn sie »säkular« sagen?
Die Entzauberung des Westens
In der christlichen Neuzeit sollte der Begriff »säkular« zwischen zwei Dimensionen unterscheiden. Die eine Dimension bezog sich auf die vergängliche irdische Welt; diese galt als säkular. Die andere benannte die ewige, göttliche Welt. Sie gab den Regeln und Prinzipien der säkularen Welt ihren Sinn. Für sich alleine konnte der säkulare Raum nicht bestehen.
Diese Unterscheidung setzte den Grundstein für Europas Säkularisierungsschübe. Im Zuge der Reformation kam es zu einer Aufgabenumverteilung von der Kirche hin zum Staat; der Zuständigkeitsbereich des Staates nahm zu. Im 17. Jahrhundert deckten die Naturwissenschaften dann auf, dass die Natur strikten Gesetzen unterliegt. Unter dem sogenannten Deismus konnte die säkulare Welt auch ohne das Eingreifen von Gott verstanden werden. Schließlich sollte die Französische Revolution im Jahr 1789 den europäischen Säkularismus entscheidend vorantreiben. Die Jakobiner verneinten die Möglichkeit einer nichtirdischen Welt. Gott sei vom Menschen erschaffen, die höhere Sphäre folglich auch ein Phantasiegebilde. Damit wurde nur noch der säkularen Welt eingeräumt, Teil der Wirklichkeit zu sein. Die Revolutionäre verdrängten die Religion aus dem öffentlichen Raum in die private Sphäre. Mit anderen Worten: Religion wurde Privatsache.
Die Welt des Westens ist entzaubert. Götter existieren in dieser Umgebung nicht mehr, stattdessen dominiert die Wissenschaft als Weltanschauung. Der moderne Mensch ist selbstdiszipliniert. Er erscheint pünktlich zur Arbeit, erfüllt seine Pflichten als Bürger und beteiligt sich an Wahlen. Löste sich dieser Mensch aus dem sozialen Gefüge der Kirche, des Staates oder gar der Familie, er hätte keinen Verlust seiner Identität mehr zu befürchten. Er bliebe, wie er ist. Nach Taylor stellen aus westlicher Sicht Entzauberung, Selbstdisziplinierung und soziale Loslösung die Voraussetzungen für den demokratischen Nationalstaat dar. Ohne Säkularisierung keine Demokratie.
Monsterkasten statt Trennung von Kirche und Staat – Indiens Säkularisierung
Die Unterscheidung und Trennung von Kirche und Staat sowie die Verabschiedung der Religion aus dem öffentlichen Raum sind historische Entwicklungen, die so nur im Westen vorzufinden sind. Eine mögliche Schlussfolgerung wäre jetzt, anderen Kulturen die Fähigkeit abzusprechen, sich zu säkularisieren. Folgte man den westlichen Maßstäben, wäre dies auch richtig.
Am Beispiel Indiens zeigt Taylor jedoch, dass es noch andere Wege gibt, Säkularisierung zu verstehen. Der Gründer des modernen Indiens, Jawaharlal Nehru, wollte das ehemalige Kolonialgebiet zum demokratischen Nationalstaat formen. Dafür erschien es ihm erforderlich, die Gesellschaft – im europäischen Sinne – zu säkularisieren. Die Religiosität der Inder und das damit einhergehende unterdrückende Kastensystem, nach dem jeder Inder von Geburt an einer unveränderlichen Hierarchie unterliegt, sah er als Hindernis. Die indische Bevölkerung sollte also ihre irrationalen Ketten ablegen und die Welt entzaubern.
Im heutigen Indien ist die Demokratie erfolgreich etabliert. Jedoch mussten Nehrus Forderungen dafür nicht umgesetzt werden. Der Großteil der Inder nimmt die Welt trotz Demokratie noch als von Göttern bewohnt wahr, und auch die Kasten sind noch immer vorhanden. Jedoch hat sich das Kastensystem verändert. Für politische Zwecke können zwischen den Kasten Koalitionen gebildet werden. Getrennte Lebensräume werden zusammengeführt. Diese »Monsterkasten«, wie Taylor sie nennt, repräsentieren den religiösen Pluralismus im öffentlichen Raum. Weder wurden Staat und Kirche getrennt, noch die Religion aus der öffentlichen Sphäre verbannt. Trotzdem verwenden die Inder, um dieses System zu beschreiben, den westlichen Begriff »säkular«.
Mit der europäischen Bedeutung von Säkularisierung hat dieser Gebrauch nur noch eine Gemeinsamkeit: Sie ist die Stütze einer demokratischen Gesellschaft. Damit formuliert Taylor ein erhellendes Plädoyer dafür, Säkularismus als wandelbaren Begriff zu verstehen. »Säkular« kann also in jeder Kultur eine andere Bedeutung annehmen; allein schon deswegen, weil jeder Raum seine eigene Geschichte hat. So braucht die islamische Welt nicht auf einen europäischen Säkularismus zu hoffen. Aufbauend auf ihre eigenen kulturellen Gegebenheiten wird die islamische Gemeinschaft ihre eigene Version der Säkularisierung und Demokratie erschaffen. Von dieser und anderen säkularen Gesellschaftsentwürfen könne laut Taylor auch der Westen neue Lehren ziehen.
Dieser Beitrag erschien in der fünften Ausgabe von KATAPULT. Abonnieren Sie das gedruckte Magazin und unterstützen damit unsere Arbeit.
Autor:innen
Schwerpunkte
Sprachphilosophie
Friedens- und Konfliktforschung