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Laut Umfragen befürworten über 70 Prozent der Deutschen die direkte Demokratie. Direktdemokratische Beteiligung gilt als geeignetes Mittel, um Politik- und Parteienverdrossenheit zu überwinden. Im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2017 forderte die Alternative für Deutschland die Einführung von Volksentscheiden nach »Schweizer Vorbild“ für Deutschland.
Die Schweiz gilt als »Spitzenreiter der Direktdemokratie«, kaum ein Land bietet mehr Beteiligungsmöglichkeiten. 2018 durften die Schweizer Bürgerinnen und Bürger unter anderem über Rundfunkgebühren abstimmen oder ob es mehr Kühe mit Hörnern geben soll. Auch wenn manche Abstimmungsthemen abstrus erscheinen, die Schweiz wird oft als Paradebeispiel der direkten Demokratie angeführt. Aber wie funktioniert direkte Demokratie in der Schweiz eigentlich genau? Und kann das System der Eidgenossenschaft als Vorbild für Deutschland dienen?
Neue Gesetze erfordern frühzeitig eine breite gesellschaftliche Unterstützung, sonst werden sie gekippt
Zunächst ist festzuhalten, dass die sprachliche, ethnische und religiöse Vielfalt der Schweiz das politische System des Landes maßgeblich geprägt hat. Der eidgenössische Zusammenschluss von französischsprachigen Protestanten und deutschsprachigen Katholiken ist nur auf Grundlage einer politischen Kultur von Verhandlungen und Kompromissen möglich. Politikwissenschaftlich kann das politische System der Schweiz – im Gegensatz zu Konkurrenzdemokratien – als nahezu idealtypische Konsensdemokratie klassifiziert werden. Das politische System der Schweiz unterscheidet sich durch mindestens drei Merkmale von demjenigen Deutschlands.
Erstens die Exekutive: In der Schweiz ist die Regierungsgewalt geteilt und deshalb auf Koalitionen und Kompromisse angewiesen. Der siebenköpfige Bundesrat wird nach der sogenannten Zauberformel besetzt und ist nicht mit dem deutschen Regierungskabinett vergleichbar. Zweitens die föderale Struktur: Die Kantone besitzen auf Bundesebene mehr Mitspracherechte als die deutschen Bundesländer. In der Schweiz steht dem bundesweit gewählten Nationalrat der von den Kantonen besetzte Ständerat als gleichberechtigte zweite Parlamentskammer gegenüber. Drittens die Parteienlandschaft: Die Schweiz zeichnet sich durch kleine und regionale Parteien aus, im aktuellen Nationalrat sind beispielsweise elf Parteien vertreten. Daneben wirken diverse Interessenverbände verstärkt im politischen Prozess mit.
Im Schweizer Konsensmodell läuft die politische Entscheidungsfindung somit in einem sehr weiten Rahmen ab. Um zu einer mehrheitsfähigen Entscheidung zu gelangen, müssen verschiedene Akteure auf unterschiedlichen Ebenen zusammenarbeiten und Kompromisse finden. Es ist nötig, Interessen von Minderheiten und abweichende Positionen frühzeitig und außerparlamentarisch in den politischen Prozess zu integrieren. Das politische System der Schweiz unterscheidet sich somit deutlich vom deutschen und es ist irreführend, die Eidgenossenschaft als potentielles Vorbild für die Bundesrepublik anzuführen.
Dennoch lohnt sich ein Blick auf die Elemente der direkten Demokratie, die ins Schweizer Konsenssystem eingebettet sind. Den Schweizerinnen und Schweizern stehen auf Bundesebene plebiszitäre und populistische Elemente zur Verfügung.
In der plebiszitären Variante werden Referenden angewandt. Dies bedeutet, Beschlüsse werden vom Parlament oder der Regierung ausgearbeitet und dann dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. Die Referenden besitzen somit Veto-Charakter und üben großen Einfluss auf die Gesetzgebung aus: Da Gesetze durch Volksabstimmung verhindert werden können, muss frühzeitig für breite Unterstützung durch die Integration abweichender Positionen gesorgt werden. Die plebiszitären Referenden führen folglich zu einer Korrektur und zusätzlichen Legitimation parlamentarischer Entscheidungen.
Während das Referendum am Ende des Entscheidungsprozesses steht, kann dieser durch die Volksinitiative – dem populistischen Element der Direktdemokratie – von den Bürgerinnen und Bürgern in Gang gesetzt werden. Dieses Instrument ist speziell darauf ausgelegt, den Repräsentanten eine außerparlamentarische Alternative entgegenzusetzen, und besitzt damit den Charakter unmittelbarer Herrschaft. Wird die Initiative in der Volksabstimmung angenommen, stellt das Abstimmungsergebnis eine bindende Entscheidung dar und muss in ein Gesetz gegossen werden.
Im Durchschnitt nur 45 Prozent Abstimmungsbeteiligung
Die direkte Demokratie der Schweiz ist somit kein Gegensatz, sondern eine Ergänzung der repräsentativen Strukturen. Die Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger gelten nicht unmittelbar, sie sind stets mit Parlamentsbeschlüssen verschränkt und Teil des konsensualen Gesamtsystems. Dies zeigt sich in der Praxis: Die Mehrzahl der Referenden werden angenommen, was darauf hinweist, dass ein mehrheitsfähiger Kompromiss gefunden wurde.
Davon profitiert die Schweizer Bevölkerung: Es kann belegt werden, dass die Möglichkeit zur direktdemokratischen Beteiligung zu höherer Zufriedenheit mit dem jeweiligen politischen System führt. Allerdings zeigen sich in der Schweiz auch Probleme: Erstens ist die Beteiligung an den Abstimmungen gering, zweitens ist der Einfluss von politischen Parteien hoch und drittens rücken politische Sachfragen leicht in den Hintergrund.
Direktdemokratische Verfahren haben in der Schweiz in den letzten Jahren stark zugenommen, gleichzeitig hat sich die Beteiligung an den Abstimmungen bei etwa 45 Prozent eingependelt. Die bisher höchste Beteiligung mit 78,2 Prozent wurde am 6. Dezember 1992 erreicht, als in einem Referendum der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum knapp abgelehnt wurde. Einen der niedrigsten Werte der letzten Jahre erzielte am 21. Mai 2006 mit nur 27,8 Prozent Abstimmungsbeteiligung ein Referendum über die Neuordnung der Verfassungsbestimmungen zur Bildung.
Dies eröffnet Fragen über die Legitimität der Abstimmungen, vor allem vor dem Hintergrund der Frage, wer sich beteiligt: Grundsätzlich nehmen Männer mittleren Alters, Personen mit höherer Bildung, höherem Einkommen und Berufsstatus überdurchschnittlich häufiger an Abstimmungen teil als Frauen, Personen mit geringerer Bildung, niedrigerem Einkommen und Berufsstatus sowie junge, alleinstehende und weniger sesshafte Personen.
Neben der geringen Abstimmungsbeteiligung fällt bei den Volksinitiativen der letzten zehn Jahre auf, dass nur zwei von Einzelpersonen lanciert wurden: Die »Hornkuh-Initiative« des Bergbauern Armin Capaul 2018 und die Initiative »gegen die Abzockerei« des Unternehmers Thomas Minder 2013. Alle weiteren Volksinitiativen gehen entweder auf Vorschläge von politischen Parteien oder verschiedenen Interessenverbänden, Gewerkschaften und Vereinen zurück. Das »Volk« greift somit nicht direkt und unmittelbar in den politischen Prozess ein. Vielmehr nehmen Parteien, Interessenverbände und andere Organisationen eine vermittelnde Funktion ein. Die Volksinitiativen dienen als bewährtes Mittel, um politische Themen zu setzen und vernachlässigte Inhalte in den Politikbetrieb zu bringen.
Problematisch wird es dann, wenn die Ebene der Sachpolitik verlassen und die Position als Anwalt des Volkes eingenommen wird. Vor allem die rechtspopulistische Schweizer Volkspartei (SVP) nutzt das populistische Instrument der Volksinitiative aktiv, um mit den Themen Migration und nationale Selbstbestimmung erfolgreich zu sein.In den letzten zehn Jahren wurden sämtliche Initiativen aus dem Themenfeld Migration ausschließlich von der SVP eingebracht, beispielsweise »Gegen den Bau von Minaretten« 2009 oder »Gegen die Masseneinwanderung« 2014.
Missbrauch durch Populisten
Am Beispiel der »Ausschaffungsinitiative« 2010 und der »Durchsetzungsinitiative« 2016 wird deutlich, dass es der SVP kaum um Sachpolitik geht. Die Volksinitiative »Für die Ausschaffung krimineller Ausländer« wurde im November 2010 überraschend mit einer Mehrheit von 52,9 Prozent angenommen.Das Ziel der Volksinitiative war es, Ausländern bei bestimmten Straftaten oder Missbrauch von Sozialleistungen das Aufenthaltsrecht automatisch zu entziehen, um so für Sicherheit zu sorgen.
Der Bundesrat war zur Umsetzung der Volksinitiative verpflichtet und erarbeitete eine Verschärfung des Strafgesetzes. Diese sieht eine Landesausweisung vor; allerdings ist eine Einzelfallprüfung durch ein Gericht möglich, die sogenannte Härtefallklausel. Die Volksinitiative führte zu einer harten Gesetzgebung gegen straffällig gewordene Ausländer. Eine Mehrheit hat über die Abstimmung eine Regelung erwirkt, die von den Repräsentanten anfangs zwar nicht gewollt, später jedoch akzeptiert wurde.
Die Initiatoren der »Ausschaffungsinitiative« sahen dies anders: Da die ursprüngliche Volksinitiative keine Härtefallklausel enthielt, forderten sie die ausnahmslose und konsequente Ausweisung aller, in welcher Form auch immer, straffällig gewordenen Ausländer aus der Schweiz. Unter Federführung der SVP wurde eine »Durchsetzungsinitiative« eingebracht: Das Ziel war es, den vermeintlichen Volkswillen durchzusetzen und den Bundesrat zur konsequenten Umsetzung der »Ausschaffungsinitiative« zu zwingen.
Der »Durchsetzungsinitiative« fehlte ein sachpolitisches Ziel, stattdessen wurde bewusst versucht, rechtsstaatliche Prinzipien und die politische Konsenskultur zu untergraben. Es wird deutlich, wie leicht die direkte Demokratie von Parteien zur Profilierung benutzt werden kann. Die Konsensdemokratie ist in Gefahr, wenn bei kontroversen Themen wie »Migration« ein vermeintlicher Volkswille propagiert und jegliche Sachpolitik verlassen wird. Den Schweizerinnen und Schweizern war dies offenbar bewusst: In der Abstimmung im Februar 2016 stimmte eine eindeutige Mehrheit von 58,8 Prozent gegen die »Durchsetzungsinitiative«, bei einer relativ hohen Abstimmungsbeteiligung von 63,1 Prozent.
Der Blick auf die Schweiz zeigt: Direkte Demokratie ist weit weniger direkt, als es die Bezeichnung vermuten lässt. Vielmehr handelt es sich um einen von vielen Bausteinen in einem sich ergänzenden Gesamtsystem. Direkte Demokratie funktioniert in der Schweiz nur in einem sehr speziellen Rahmen des Konsenses. Dieser wird auf die Probe gestellt: Durch geringe und selektive Partizipation, hohen Einfluss von Parteien und Verbänden sowie die Instrumentalisierbarkeit der Volksinitiativen.
HEUTE AKTIONS-ABO SICHERN Dieser Artikel erschien in der 14. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr.
Autor:innen
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Forschungsschwerpunkte
Vergleich politischer Systeme
Deutsch-deutsches Zusammenwachsen
Grundfragen Politischer Theorie