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41 Millionen Europäer fühlen sich dauerhaft einsam, doch darüber zu sprechen, empfinden viele als peinlich. Dabei ist das Phänomen weitverbreitet, auch wenn es nicht direkt messbar ist. Wer sich einsam fühlt, ist einsam. Bleibt der Wunsch nach engen Bindungen zu anderen unerfüllt, löst das ein subjektives, negatives Gefühl aus: Einsamkeit. Wird das Gefühl zum Dauerzustand, spricht man von Vereinsamung. Aber wie weitverbreitet ist Einsamkeit eigentlich genau?
In einer Umfrage der Europäischen Kommission wurden über 28.000 Menschen aus ganz Europa gefragt, ob sie sich in der vorangegangenen Woche einsam gefühlt hätten. Das Ergebnis: In Bulgarien waren die meisten Menschen von Einsamkeit betroffen. 20 Prozent der Befragten fühlten sich dort meistens, fast immer oder immer einsam. In sieben weiteren Ländern erging es mindestens 10 Prozent der Befragten ebenso. In den Niederlanden waren es nur drei Prozent. Der Gesamtdurchschnitt derjenigen, die sich meistens oder immer einsam fühlten, lag bei acht Prozent. Auf die Gesamtbevölkerung der EU (2018) hochgerechnet, entspricht das etwa 41 Millionen Menschen. Dabei zeigte sich außerdem, dass Vereinsamung in südosteuropäischen Ländern am weitesten verbreitet ist.
Abzugrenzen ist Einsamkeit vom Alleinsein. Das ist ein eher neutraler, manchmal sogar als positiv empfundener Zustand der Abwesenheit anderer. Die Anzahl und Häufigkeit sozialer Kontakte zu zählen, ist deshalb zur Messung von Einsamkeit wenig hilfreich. Denn einige fühlen sich trotz vieler sozialer Kontakte einsam. Anderen genügen wenige, um nicht einsam zu sein. Daher bleibt der Forschung nur die Befragung.
Acht Millionen Deutsche sind vereinsamt
In keinem EU-Land ist Einsamkeit so gut erforscht wie im ehemaligen Mitgliedstaat Großbritannien. Für die Bekämpfung von Einsamkeit gibt es dort seit zwei Jahren sogar einen eigenen Posten im Ministerium für Kultur, Digitales, Medien und Sport. Damit bekam das Thema deutlich mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Zum Maßnahmenprogramm gehört auch eine jährliche Umfrage darüber, wie verbreitet Einsamkeit in der britischen Bevölkerung ist. Zuletzt zeigte sich, dass fast ein Viertel zumindest manchmal unter Einsamkeit leidet. Mit neun Prozent ist der größte Anteil derer, die dauerhaft einsam sind, nicht älter als 24. Unter den Über-75-Jährigen war der Anteil nur knapp halb so groß. Insgesamt sind von den knapp 68 Millionen Briten rund vier Millionen vereinsamt. Ob es sich bei den Betroffenen um Männer oder Frauen handelt oder ob sie in der Stadt oder auf dem Land wohnen, spielt dabei keine Rolle.
Und die Situation in Deutschland? Laut einer aktuellen Studie des Instituts für deutsche Wirtschaft fühlen sich auch hier über acht Millionen Menschen oft oder immer einsam. Auffällig ist, dass es zwischen den untersuchten Altersgruppen kaum einen Unterschied gibt. Gegenüber der letzten Befragung von 2013 wird jedoch deutlich, dass die Einsamkeit vor allem unter jungen Erwachsenen zugenommen hat.
Einsamkeit ist nicht ansteckend
Aber heißt das auch, dass insgesamt immer mehr Menschen vereinsamen? Spätestens seit Manfred Spitzers 2018 erschienenem Buch über Einsamkeit, in dem der Neurowissenschaftler sie zur »Todesursache Nummer eins« erklärte, taucht der Begriff der »Einsamkeitsepidemie« in der Berichterstattung auf. Immer mehr Menschen litten unter Einsamkeit. Demgegenüber stellt der Soziologe Janosch Schobin von der Universität Kassel klar: Empirische Daten aus Industrieländern liefern dafür keine Belege. Im Gegenteil, in Deutschland und den meisten anderen EU-Staaten hat die Vereinsamung weder deutlich zu- noch abgenommen. Das Problem bleibt: Zu jeder Zeit und überall sind Menschen einsam.
Familiengründung macht einsam
Einsamkeit kann im Laufe des Lebens zu- und wieder abnehmen. Ihre häufigsten Auslöser sind Ereignisse, die die Lebensumstände verändern. Das hat die Überprüfung einer niederländischen Langzeitstudie ergeben. Kurz vor einer Trennung, Scheidung oder Witwer- beziehungsweise Witwenschaft steigt in der Regel das Gefühl von Einsamkeit. Danach erholen sich Betroffene jedoch wieder. Bei einem Jobverlust hingegen nimmt das Gefühl von Einsamkeit meist stetig zu und hält an. Auch die Geburt eines Kindes beeinflusst dieses Gefühl: Das erste Jahr danach nimmt Einsamkeit tendenziell ab, darüber hinaus wieder zu.
Typischerweise erleben Menschen bestimmte lebensverändernde Ereignisse in bestimmten Lebensphasen, wie etwa die Geburt des eigenen Kindes in jüngeren Jahren. Zur Festlegung dieser Phase, wurde in der Studie das Durchschnittsalter der Probanden gewählt, in dem diese eine solche Erfahrung gemacht hatten. Dabei zeigte sich beispielsweise, dass Personen, die bei einer Scheidung jünger waren als der Durchschnitt, in der darauffolgenden Zeit häufiger einsam wurden als diejenigen, die bei ihrer Scheidung älter waren. Am stärksten wirkte sich das Alter bei Pensionierung und Jobverlust aus.
Eine Erklärung dafür könnte sein, dass denjenigen, die über oder unter dem Altersdurchschnitt liegen, sowohl Vorbilder als auch institutionelle Hilfestellungen fehlen. Dieser Mangel erzeuge eher das Gefühl, gesellschaftlich ausgeschlossen zu sein. Neben einschneidenden Ereignissen haben auch verschiedene Phasen innerhalb eines Lebens Einfluss darauf, ob Menschen sich einsam fühlen. Altersspezifische Herausforderungen etwa können bewirken, dass soziale Netzwerke verkümmern – Karriere und Familiengründung bei jüngeren Menschen, eingeschränkte Mobilität und Krankheit bei älteren.
Arme und Kranke fühlen sich eher isoliert
In Deutschland berichteten zuletzt 18 Prozent der Befragten mit einem schlechten Gesundheitszustand von Einsamkeit, mehr als doppelt so viele wie unter den Gesunden. Auch Armut befördert das Gefühl von Einsamkeit. Im Jahr 2018 war arm, wer weniger als 1.136 Euro monatlich zur Verfügung hatte. Sich kaum etwas leisten zu können, wirkt sich auf soziale Beziehungen aus. Das zeigt die Forschung der Sozialökonomen Petra Böhnke und Sebastian Link von der Universität Hamburg. Menschen, die in Armut geraten, treffen sich seltener mit Freunden und Bekannten und nehmen allgemein weniger am gesellschaftlichen Leben teil. Sie machen seltener Besuche oder empfangen Gäste. Treffen mit Familienmitgliedern nehmen hingegen zu. Trotzdem ergab die Studie, dass arme Menschen sich ausgegrenzt fühlen. Denn entscheidend für das Gefühl, mit anderen eng verbunden zu sein, ist nicht die Anzahl, sondern die Qualität der Treffen und sozialen Beziehungen.
Italiener häufiger einsam als Niederländer
Wie Menschen ihre Beziehungen gestalten, hängt auch von der Gesellschaft ab, in der sie leben. Am Beispiel von fünf europäischen Ländern hat die Universität Groningen untersuchen lassen, wo das Risiko größer ist, einsam zu sein: in eher kollektivistischen Gesellschaften wie Italien, Portugal und Österreich oder in eher individualistischen wie Schweden und den Niederlanden? Ergebnis: In den kollektivistischen Ländern, in denen das Wohlergehen sozialer Gruppen tendenziell dem des Einzelnen übergeordnet ist, kommt Einsamkeit häufiger vor.
Das erscheint paradox. In Italien und Portugal beispielsweise leben mehr Menschen in sozialen Gruppen wie der Familie oder Nachbarschaft. Diejenigen, die sich überwiegend gut in diese Gruppen integriert fühlen, sind seltener einsam. Wer allerdings das Gefühl hat, nicht so enge Beziehungen zu haben wie andere, ist in diesen Gesellschaften einem höheren Einsamkeitsrisiko ausgesetzt als in Schweden oder den Niederlanden.
In individualistischen Gesellschaften liegen die Gründe für ein erhöhtes Vereinsamungsrisiko woanders: Wo eine einzelne Person das Ideal eines engagierten und gut integrierten Gruppenmitglieds nicht erfüllen muss, ist der Aufwand größer, enge Beziehungen zu knüpfen. Gelingt das nicht, droht Einsamkeit. Die Studie weist darauf hin, dass das Vereinsamungsrisiko für Mitglieder individualistischer Gesellschaften niedriger sei als für jene kollektivistischer Kulturen.
Eine im April 2020 veröffentlichte Erhebung des britischen Senders BBC Radio 4 widerspricht dieser Aussage jedoch. Die Befragung von über 46.000 Personen in 237 Territorien ergab, dass Menschen in individualistischen Gesellschaften am häufigsten einsam sind. Das BBC-Team betont, dass die untersuchten Gebiete alle Kulturen, von besonders individualistischen bis zu besonders kollektivistischen, repräsentierten. Die meisten Befragten lebten allerdings in Großbritannien und die Zahl der Befragten der anderen Länder war nicht in allen Fällen repräsentativ für ihre jeweilige Bevölkerung. Beide Studien können keine finale Aussage dazu treffen, in welchen Kulturen Einsamkeit eher vorkommt. Dass es damit weiterhin zwei Hypothesen dazu gibt, könnte auch darauf hindeuten, dass Einsamsein weniger kulturell beeinflusst ist als bisher vermutet.
Mehr Einsamkeit auf dem Land
Nicht nur das Land, in dem Menschen leben, auch die Region, die Kommune und die Nachbarschaft haben Auswirkungen auf die Verbreitung von Einsamkeit. Das hat ein Team der Universitäten Bochum, Mannheim und Cambridge herausgefunden. Es hat die regionale Verteilung von Einsamkeit in Deutschland ermittelt und untersucht. Das Ergebnis: In abgelegenen Regionen kommt Einsamkeit häufiger vor. Das Gleiche gilt für Wohnorte, die mehr als 20 Minuten Fußweg von öffentlichen Parks und Freizeiteinrichtungen entfernt sind. Positiv wirkt sich dagegen eine gute Nachbarschaft aus. Je besser Personen ihr Verhältnis zu Nachbarn bewerten, desto weniger einsam sind sie. Überraschend ist, dass die Bevölkerungsdichte einer Region, also die mögliche Anzahl sozialer Kontakte, keine Rolle spielt.
Die neuesten Studien zeigen also einige Gründe für Einsamkeit auf. Die britische Wohltätigkeitsorganisation »Co-op Foundation« findet, dass trotz ihrer starken Verbreitung viel zu wenig über Einsamkeit gesprochen werde. Das treffe ganz besonders auf Einsamkeit unter Jugendlichen zu. Gemeinsam mit Jugendinitiativen und der britischen Regierung will die Organisation das ändern. Das Projekt »Belong« soll Betroffene verbinden und ihnen helfen, Einsamkeitsgefühle zu überwinden.
Besonders Jugendliche vertrauen sich selten jemandem an. Aber um ihnen Hilfestellung leisten zu können, muss Einsamkeit nicht nur sichtbarer, sondern auch verständlicher werden. Deshalb befragte die Organisation 2.001 junge Menschen zwischen 16 und 25, wie sie mit Einsamkeit umgingen. Die Ergebnisse zeigen, dass Einsamsein nicht nur ein negatives Gefühl ist, sondern auch als Makel empfunden wird. Über die eigene Einsamkeit zu sprechen, fällt 81 Prozent der Befragten schwer, weil sie befürchten, von anderen für schwach gehalten zu werden. Gleichzeitig möchten sie niemanden belasten oder enttäuschen, wenn sie sich einer vertrauten Person mitteilen. Nur 19 Prozent haben den Eindruck, ihr Umfeld und die Gesellschaft würden Einsamkeit bei jungen Menschen ernst nehmen. Das Ziel des Projektes ist es deshalb auch, junge Erwachsene Einsamkeit nicht als Krankheit, sondern als normale menschliche Emotion begreifen zu lassen. Der Fokus der Öffentlichkeit liegt jedoch auf den gesundheitlichen Folgen von Einsamkeit, vor allem in Bezug auf alte Menschen.
Erst relevant bei Depressionsdiagnose
Auf eine Kleine Anfrage der FDP antwortete die Bundesregierung im letzten Jahr, sie wisse nicht, wie hoch die gesundheitlichen Kosten durch vereinsamte Menschen ausfielen. Dabei schadet Einsamkeit nicht nur einzelnen, sondern der ganzen Gesellschaft. Je weniger Menschen soziale Kontakte haben und Teil sozialer Gruppen sind, desto weniger gesellschaftliches Engagement gibt es. Die amerikanischen Wissenschaftlerinnen Sue Williams und Bonnie Braun erklären, dass aber gerade das nötig sei, damit Probleme einer Gesellschaft verstanden und gelöst werden könnten. Fehlendes Engagement hingegen schwäche den sozialen Zusammenhalt von Gesellschaften und Staaten. Offen und öffentlich über Einsamkeit zu sprechen, kann diesen Zusammenhalt vorantreiben – und damit das Wohlergehen Einzelner und ganzer Gesellschaften.
Anstatt eine öffentliche Debatte über Einsamkeit zu führen und effektive Strategien dagegen zu entwickeln, wartet die Politik, bis sich aus einem Mangel an sozialen Kontakten medizinisch behandelbare Krankheiten wie Depressionen entwickeln. Das ist für rund 40 Millionen Menschen in Europa ein Problem: Solange die Ursachen nicht bekämpft werden und Betroffene sich schämen, bleiben sie weiter allein mit ihrer Einsamkeit.
Dieser Text erschien in der 18. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr.
Autor:innen
Ehemalige Redakteurin bei KATAPULT. Sie ist Historikerin und schreibt vor allem über soziale und gesellschaftspolitische Themen.