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Der Dschihadismus ist eine militante Ideologie des sunnitischen Fundamentalismus. Ihre geistigen Urheber und ihre Anhänger berufen sich auf islamische Quellen, trotzdem ist der Dschihadismus aber eine sehr menschliche »Erfindung«, so wie jede andere Ideologie auch. Ideologien entfalten ihre Wirkung durch das Zusammenspiel von ideologischen Inhalten und sozialem Handeln. Diese Inhalte sind nicht grundsätzlich wahr oder falsch, sondern setzen sich aus einer Vielzahl von einzelnen Aussagen, Behauptungen, Positionen und Überzeugungen zusammen.
Der Dschihadismus ist auch deshalb zu einer der erfolgreichsten militanten Ideologien unseres Jahrhunderts geworden, weil er bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehbare Argumente zu tatsächlich bestehenden politischen Problemen und sozialen Ungerechtigkeiten liefert. Natürlich arbeiten seine Ideologen auch mit unverblümten Hassreden, aber häufig gehen sie subtiler vor. Die modernen Medienformate, die der Islamische Staat und al-Qaida dabei benutzen, erhöhen die Glaubwürdigkeit ihrer Botschaft zusätzlich. Diese Medien liefern aber auch einen Ansatzpunkt für die sozialwissenschaftliche Analyse dschihadistischer Gewalt.
Religiös motivierte Gewalt, wie der Dschihadismus, wird durch eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer, psychologischer, politischer und kultureller Faktoren beeinflusst. Viele Menschen, die heute in den Irak und nach Syrien reisen, um sich dem IS anzuschließen, kennen die Ideologie der Gruppe gar nicht richtig, sondern handeln aus vorübergehender Abenteuerlust, persönlicher Frustration oder aus einer kurzfristige Lebenskrise heraus.
Um diese Mitläufer zu verstehen, braucht man keine erweiterte Kenntnis dschihadistischer Ideologie. Um aber zu verstehen, was die dschihadistische Bewegung in ihren wesentlichen Merkmalen ausmacht, welche langfristigen Ziele sie verfolgt, welche Strategien sie dazu anwendet und was die verschiedenen dschihadistischen Gruppen weltweit vereint oder spaltet, ist es notwendig, die Ideologie als Ganzes zu verstehen.
Aufbau der Studie
In einer dreijährigen Studie haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts (für ausländisches und internationales Strafrecht) die Medieninhalte von dschihadistischen Bewegungen untersucht. Die Studie verfolgte das Ziel, die ideologischen Ursprünge religiös motivierter Gewalt zu identifizieren.
Dazu wurden zwei Arten von Daten ausgewertet: Einerseits die Inhalte von Videobotschaften wichtiger dschihadistischer Anführer und andererseits Bekennerschreiben zu Anschlägen dschihadistischer Gruppen im Irak. Anhand der ersten Stichprobe wurde die Rationalität dschihadistischer Gewalt untersucht, das heißt wie der Einsatz von Gewalt als notwendig, verhältnismäßig, zielführend und legitim beschrieben wird. Die anschließende Auswertung der Bekennerschreiben ging der Frage nach, wie diese Ideologie in einem konkreten Konflikt tatsächlich umgesetzt wird.
Die Videobotschaften von al-Qaida und dem Islamischen Staat sind professionell produziert und inszeniert. Beide Gruppen betreiben eigene Medienorganisationen, wie beispielsweise das al-Hayat Media Center oder as-Sahab, die die Produktion verwalten und die Inhalte über verschiedene Kanäle wie YouTube und Twitter verbreitet.
Wie organisiert man die empirische Untersuchung von etwas so schwer bestimmbaren wie einer Ideologie? Zu den Inhalten der ideologischen Botschaften gehören neben dem gesprochenen Wort auch Bilder, Symbole, Körpersprache, Gesänge, und Vertonung. Die Studie des Max-Planck-Instituts richtete sich vor allem auf das gesprochene (und geschriebene) Wort, um die intellektuellen Wurzeln des Dschihadismus besser zu verstehen. Sie wendet Verfahren der computergestützten Inhaltsanalyse an, um die verbalen Inhalte dieser Botschaften systematisch zu untersuchen.
Alleine die Inhalte der 20-stündigen Videobotschaften belaufen sich auf 178.000 gesprochene Wörter (um einen Referenzpunkt zu geben: dieser Artikel hat 1.000 Wörter). Um diese Informationsflut auszuwerten, werden einzelne Textteile mit zusammenhängender Bedeutung zu Sinneinheiten zusammengefasst (Kategorien). Die Entscheidungen, welche Textteile eine Sinneinheit bilden, werden durch einen Codierer getroffen. Um diese Entscheidungen abzusichern wurde in der Studie zusätzlich ein Programm eingesetzt, dass Sinneinheiten aufgrund statistisch-semantischer Muster automatisch erkennt.
Erkenntnisse
Im Ergebnis zeigt sich, dass sich die Inhalte der dschihadistischen Ideologie in 95 thematische Kategorien zusammenfassen lassen. Einige dieser Kategorien repräsentieren abstrakte Inhalte, andere sehr konkrete Informationen. Auf der abstraktesten Ebene beispielsweise lässt sich die Ideologie in drei Komponenten zerlegen, den sogenannten frames.
Der Ausdruck frame stammt aus der Theorie der sozialen Bewegungen von den beiden Sozialwissenschaftlern Robert Benford und David Snow. Sie beschreibt, welche Eigenschaften eine ideologische Botschaft aufweisen muss, damit sie erfolgreich Befürworter und Anhänger rekrutieren kann. Jede Ideologie operiert mit drei frames, einem diagnostischen, einem prognostischen und einem motivationalen. Einfach ausgedrückt beschreiben die drei frames den gesellschaftlichen Ist-Zustand, den Soll-Zustand und die Strategien, die notwendig sind, um vom Ist-Zustand zum Soll-Zustand zu gelangen.
Für den Dschihadismus kann man die drei Komponenten zusammenfassen als (a) weltweite Häresie, (b) Kalifat (c) Dschihad. Seine prognostische Komponente beschreibt Symptome und Ursachen der (wahrgenommenen) weltweiten Häresie in all ihren Formen und Manifestationen. Diese Komponente unterteilt sich in wiederum in drei Narrative, die aus Sicht der Fundamentalisten die drei existenziellen Bedrohungen beschreiben, denen der Islam im 21. Jahrhundert ausgesetzt ist, nämlich dem Verrat arabischer Regierungen, dem globalen Krieg gegen den militanten Islamismus und der Ausbreitung säkularer Regierungsformen in der »Islamischen Welt«.
Jedes dieser Narrative setzt sich aus zusammenhängenden Themenkomplexen zusammen, die immer konkretere und detailliertere Beschreibungen beinhalten. Die Strategien und Rechtfertigungen zur Anwendung militanter Gewalt sind tief eingebettet in die narrative Struktur der Ideologie. Inhaltsanalytische Verfahren helfen dabei diese Struktur zu erkennen. Dabei können auch tieferliegende Muster aufgedeckt werden, die ohne die Anwendung solcher Verfahren unentdeckt blieben. So lässt sich beispielsweise gut zeigen, wie theologische und sachliche Begründungen für die Anwendung von Gewalt miteinander kombiniert werden.
Bei der anschließenden Auswertung der Bekennerschreiben überprüften die Wissenschaftler, welche Strategien und Rechtfertigungen zur Anwendung militanter Gewalt von dschihadistischen Gruppen im Irak aufgegriffen wurden und welche nicht, und ob neue Rechtfertigungen und Strategien benutzt wurden. Die Auswertung zeigt die frühe Entstehungsphase des Islamischen Staates und seine andauernden Bemühungen, im Irak ein Kalifat zu errichten. Wie auch in der Ideologie von al-Qaida sind beim IS politisches Kalkül und religiöser Fanatismus auf das engste miteinander verstrickt. Allerdings setzt sich der IS sehr viel leichtfertiger über ideologische und theologische Vorgaben hinweg, wenn diese den politischen Zielen der Gruppe entgegenstehen. Al-Qaida und auch die Taliban sind ihren eigenen Prinzipien treuer.
Autor:innen
Kriminologe an der University of Leeds
Forschungsschwerpunkt
Wandel in der Ideologie des Dschihadismus