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Russlandkrieg

“Die meisten Menschen, die ich kenne, haben das Land verlassen”

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Die Bilder sendete die Interviewte. Ihr Name und Wohnort sind der Redaktion bekannt.

Wie erlebst du Russland im Moment? 

Die Atmosphäre in Russland ist bedrückend. Die meisten Menschen, die ich kenne, haben das Land verlassen, weil wir Gefängnisstrafen bekommen können für das, was wir sagen oder schreiben. Es macht Angst. Angst zu den Protesten zu gehen, Angst zu schreiben, Angst offen zu sprechen. Wir wurden eingeschüchtert. Wir sind ängstlich und schämen uns gleichzeitig für das, was in der Ukraine passiert. Keiner verdient eine solche Behandlung im 21. Jahrhundert. 

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Zum Schutz der Aktivistin haben wir sie anonymisiert.

Kannst du mit deiner Familie über Putin sprechen?

Seit 2017 nehme ich an Protestbewegungen in Russland teil und hatte währenddessen immer viele Konflikte mit meiner Familie. Aber mit der Situation jetzt konnte ich sie von meiner Sicht überzeugen. Wir führen hitzige Diskussionen darüber, dass wir nicht wissen, was das Ganze zukünftig mit der russischen Ökonomie macht oder ob wir überhaupt  bald wieder einen politischen und ökonomischen Normalzustand erreichen können. 

Wer hat dich damals dazu bewegt, zu den Protesten zu gehen?

Verschiedene russische Oppositionelle Boris Nemtsov, Alexey Navalny, Ilya Yashin, Ekaterina Shulman, Anna Politkovskaya … von denen manche es nicht überlebt haben.

Was tust du gegen die momentane politische Situation? Kannst du etwas tun?

Wir gehen zu den Protesten. Meist sind dort nicht viele Menschen und die meisten werden auch gefangen genommen. Mittlerweile ist es mehr ein stiller Widerstand geworden. Die ganze Stadt ist voller Sticker, Kritzeleien und Zeichnungen, auf denen steht: „Kein Krieg“. Menschen kleben sich auch „Kein Krieg“ Sticker auf ihre Kleidung. Dafür können sie verhaftet werden. Was wir auch versuchen, ist Klartext mit unseren Verwandten und Bekannten zu reden, um die Situation nicht totzuschweigen oder „Sonderoperation“ zu nennen. Außerdem unterstütze ich Organisationen, die Menschen helfen, die bei den Protesten gefangen genommen wurden. Ich glaube, das ist alles, was ich gerade tun kann. 

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Zum Schutz der Aktivistin haben wir sie anonymisiert.
Säule mit dem Schriftzug: "kein Krieg" auf russisch
Säule mit dem Schriftzug "kein Krieg" auf russisch. Foto von der Aktivistin

Und wie reagieren deine Verwandten oder Freunde, wenn du mit ihnen sprichst?

Gerade existieren zwei Lager - unabhängig von Alter, Geschlecht, Religion oder Beruf. In einem Lager verstehen die Menschen, dass wir uns in einem Krieg befinden, sie erheben ihre Stimme und fühlen Schmerz und Angst. In dem anderen Lager unterstützen die Menschen, was gerade passiert. Man kann schwer sagen, welches der beiden Lager größer ist. 

Sicher ist, das zweite entstammt der russischen Propaganda im Fernsehen und leider ist dieses Lager bei Weitem aggressiver. Die Menschen darin akzeptieren keine anderen Meinungen und sind vollkommen verschlossen gegenüber jeglicher Diskussion. So zerbrechen gerade Familien, Ehen … Menschen verlieren ihre Freunde, weil sie nicht mehr bereit sind, einander zuzuhören.

Was sagen sie im Fernsehen? 

In ihren „Propaganda Nachrichten“ erzählen sie uns, dass dort Neonazis in der Ukraine sind. Sie sagen, dass die russische Armee kaum Verluste hat und nur militärische Stützpunkte angreift. Sie sagen, es sei eine „Sonderoperation“ und hätten keine Wahl.

Woher bekommst du deine Informationen? 

Ich lese unabhängige Nachrichtenkanäle, die in Russland als Nachrichten von ausländischen Agenten gelten. Bestimmte Websites sind ganz blockiert, Twitter funktioniert gar nicht mehr ohne VPN.

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Zum Schut der Aktivistin haben wir sie anonymisiert.

Wie erlebst du momentan die Proteste?

Das erste Mal nahm ich im Juni 2017 an einem Protest teil. An diesem Tag wurden sehr viele Menschen gefangen genommen. Ich bekam Hämatome von der Polizei. Aber damals nahmen sie nicht jeden fest, den sie sahen. Sie konzentrierten sich auf die Menschen mit Postern.

Letzte Woche wurden Menschen dafür festgenommen, einfach nur dort zu stehen. Du brauchtest nichts rufen, kein Plakat haben, vielleicht bist du nur versehentlich vorbeigekommen auf deinem Weg in die Stadt - dafür nahmen sie dich fest. Natürlich waren die lauten Menschen mit Postern die ersten. Aber dieses Mal nahmen sie auch willkürlich Menschen aus der Menge. Dabei sind, soweit ich weiß, die Gefängnisse in meiner Stadt und dem Umland voll mit Verwaltungsstrafen. Dort ist kein Platz mehr, um Menschen zu bestrafen, die gegen die Auflagen verstoßen.  

Hat sich deine Stadt verändert?

In den Geschäften sind die Regale leer. Menschen bereiten sich auf etwas vor, ohne zu wissen, auf was genau. Aber sie sind in Panik. Gestern habe ich dort nur Reis gesehen. Die Preise für die Lebensmittel ändern sich auch die ganze Zeit.

leere Supermarktregale in einem russischen Geschäft.
Leere Supermarktregale in Russland. Foto von der Aktivistin
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Zum Schutz der Aktivisstin haben wir sie anonymisiert.

Versetzt dich die Situation in Panik? 

Ehrlich gesagt, die ganze Woche des Krieges über war ich es leid, Angst zu haben. Also schrieb und sprach ich offen darüber, was passierte. Vielleicht wirkte ich sogar eher aggressiv auf die Menschen um mich.

Wirtschaftlich versucht sich das Land auf das vorzubereiten, was kommen wird. Aber wir können nie ganz vorbereitet sein. Ich verstehe, dass meine Generation keine Zukunft mehr in diesem Land hat. Unsere Wirtschaft wird mindestens zehn Jahre brauchen, um sich wieder zu erholen. Das macht Entwicklung in Bildung und Forschung derzeit unmöglich. Wir befinden uns in vollständiger Isolation. Ich verstehe, dass meine Generation keine Zukunft mehr in diesem Land hat. Das Schwerste ist: Ich und meine Freunde, wir wollen es wirklich reparieren. Aber alle haben so große Angst, dass diejenigen, die etwas verändern könnten, das Land verlassen haben oder es machen werden, sobald sich die Möglichkeit bietet. 

Willst du Russland verlassen? 

Ja, ich möchte Russland verlassen, aber nicht auf diese Weise, nicht unter diesen Umständen. Zwar ist meine Familie gegen den Krieg, aber sie ist auch gegen meine Idee, das Land zu verlassen. Meine Familie möchte hier bleiben. Meine Mutter sagt, es sei unser Land, und dass wir nicht gehen sollten, auch wenn es hier sehr schlimm wird. Ich bin nicht ihrer Meinung. Wahrscheinlich würde ich im Streit mit ihr und meiner Familie gehen müssen. Aber mittlerweile sehe ich keine andere Möglichkeit mehr. 


Ukraine-Russia-Crisis

“Most people who I know left or are about to leave the country“

Last Thursday the KATAPULT had the chance to speak to a young woman in Russia about the situation inside the country. Originally it was planned as a video-interview. However the newest regulations in Russia which suppress the freedom of press and punish the spreading of information against the government are punishable with  a prison sentence of up to 15 years. That’s why the interview will now be published as completely anonymized text. The photos were sent by the interviewee. Her name and hometown has been verified by KATAPULT.

How are you experiencing the situation in Russia at the moment? 

The atmosphere here in Russia is depressing. Most people who I know left or are about to leave the country because we can get real jail sentences for what we say or write.  It is scary. Scary to go to protests. Scary to write. Scary to talk openly. We have been intimidated. For what is going on in the Ukraine we are scared and at the same time ashamed because no one deserves this in the 21st Century. We are scared indeed. We are scared of what is going on. 

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For the safety of the activist, we decided to anonymize her.

How are you experiencing the situation in Russia at the moment? 

The atmosphere here in Russia is depressing. Most people who I know left or about to leave the country because we can get real jail sentences for what we say or write.  It is scary. Scary to go to protests. Scary to write. Scary to talk openly. We have been intimidated. For what is going on in the Ukraine we are scared and at the same time ashamed because no one deserves this in the 21st Century. We are scared indeed. We are scared of what is going on. 

Can you talk with your family about Putin? 

Since 2017, I have been  participating in the protest movement in Russia and during this time I had a lot of conflicts with my parents. But now, I’ve succeeded in making them understand my position. So now, we have intense discussions about that. We don’t know what this situation will do  to the Russian Economy in the near future and if we can come back soon to a “normal state” in terms of economy and politics. 

Who influenced you to participate in the protest movement?

Various Russian political opponents like Boris Nemtsov, Alexey Navalny, Ekaterina Shulman, Anna Politkovskaya …some of them are dead by now.

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For the safety of the activist, we decided to anonymize her.

What are you doing against the current situation? Is there anything you can do?

We are going to protests now. There are not a lot of people and most of the attendees also are getting arrested. Now the movement is focused on silent resistance. The whole city  is full of stickers, scribblings and drawings saying “no war”. People are putting “no war” stickers on their clothes but they can also be arrested for that. What we are also trying to do is talk to our relatives and acquaintances in order to not be silent about the situation or misrepresent it as “the special operation”. Also, I am supporting organizations that help people who were arrested at the protests. I think that is all I can do now.

And how do people react if you talk to them?

Well now, our people are separated into two groups - consisting of all the different ages, genders, religions or professions. In one group, people understand that it is a war and they speak up and they feel pain and fear. In the other group, people support what is going on now. It is difficult to say which group is smaller and which one is bigger. But the second group emerged from Russian TV propaganda and unfortunately this group is more aggressive. They do not accept other opinions and they are not ready for any discussion. So families are breaking up, marriages… people are losing their friends because they just won’t listen to each other anymore.

What news is currently on  TV?

In their “propaganda news” they tell us that there are neo-Nazis in the Ukraine. That the Russian army has almost no losses. That Russia attacks only military facilities. They explain it to us as a  “special operation” and that we had no choice. 

Where do you get your information from then?

I read independent news channels which Russia recognizes as news from foreign operatives. Certain websites are already completely blocked within Russia, for example Twitter does not work  without a VPN anymore.

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For the safety of the activist, we decided to anonymize her.

When you went to the protests, what did you see?

I would like to compare my very first protest and the last one now. My first was on 12 of June 2017: On this day a lot of people were arrested. I got bruises from the police and national forces. However, back then they didn’t arrest everyone they saw. They just went for the people with posters.


But last week, people were arrested just for standing. It was really just enough to stand there, you wouldn’t need to scream anything or have a poster, you might even just pass by because you were on your way to the city center - and they would arrest you. Of course, they first arrested the people with posters or who shouted anti-war slogans. But the police and national force were also randomly picking up people from the crowd. As I understand now , the jails in my city and in the region are now full with administrative sentences. They’re running out of space to keep people for these administrative sentences. 

Did your city change?

In our  grocery stores the shelves are empty. People are preparing for something, without knowing exactly what for. They are panicking. Yesterday I only saw  rice there. And, the prices for  groceries are changing all the time. 

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For the safety of the activist, we decided to anonymize her.

Are you panicking?

Honestly speaking, all this week while the war was going on, I was tired of being afraid. So I wrote and spoke openly about what is going on. Maybe I am even a bit aggressive toward the people around me.

Economy-wise, we the country is trying to prepare now for what is about to happen. But of course, we can never be fully ready. I understand that my generation does not have any future in this country. Our economy will need at least ten years to recover. That makes development in education and science impossible now. We will be in absolute isolation. 

For me, the most difficult part is that my friends and I really want to fix it. But everyone is so scared now that the people who could do something left the country or are about to leave if they get the opportunity. So everyone here is sort of in panic and feels depressed. 


Do you want to leave Russia?

Yes, I wanted to leave Russia but not in this way, not under these circumstances. My family is not supporting the war but they are also, unfortunately, not supporting my idea of leaving Russia.

My family doesn’t want to leave. My mother says that it is our country, and that we shouldn’t go even if it becomes very bad here. I disagree with her.  Most probably I will need to leave in conflict with her and my family [Most probably leaving will cause conflict within my family]. However, I don’t see any other way now.

Autor:innen

studiert an der Universität Greifswald Biochemie und arbeitet als freie Journalistin und Dokumentarfilmerin. Ehemals bei KATAPULT MV, jetzt frei für KATAPULT.

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