Zum Inhalt springen

Politische Theorie: Flüchtlingsdebatte

Demokratische Grenzherrschaft

Von

Artikel teilen

Über die Bedeutung der staatlichen Grenzen wird seit einigen Monaten in Zusammenhang mit der Frage des angemessenen Umgangs mit Bürgerkriegsflüchtlingen, Asylbewerbern und Immigrationswilligen hitzig diskutiert. Selten ist in der mehr als 65-jährigen Geschichte der Bundesrepublik eine politische Debatte derart heftig geführt worden wie über diese Frage. Und selten ist eine innenpolitische Diskussion von solch hemmungslosen emotionalen Ausbrüchen mit gegenseitigen Beschimpfungen, Hasstiraden und Gewalttätigkeiten begleitet worden.

Von Befürwortern einer offenen Flüchtlingspolitik wird bei dem schnell eskalierenden Streit häufig eine simple politisch-psychologische Erklärung angeboten, wonach bei den Kritikern und Gegnern einer flüchtlingspolitischen Willkommenskultur derart massive irrationale Ängste bestehen, dass ihre Reaktionen schon bei der kleinsten Provokation in faktenblinden Hass umschlagen.

Längst nicht alle, die die Grenzen der Bundesrepublik gegen weitere Zuwanderung abschirmen möchten, sind psycho-pathologische Fälle

Doch längst nicht alle, die die Grenzen der Bundesrepublik gegen weitere Zuwanderung und Zuzug abschirmen möchten, sind psycho-pathologische Fälle oder verängstigte Wutbürger aus der (ostdeutschen) Provinz. Auch unter ihnen gibt es eine Reihe von Bürgern, die sich nicht nur plakativ in ihren Parolen (»Wir sind das Volk!«), sondern auch differenzierter in ihren Argumentationen auf Grundprinzipien der Demokratie und des Grundgesetzes berufen.

Überblickt man die Diskussionen, die nicht nur in der politischen Öffentlichkeit, sondern auch unter Vertreterinnen und Vertretern der akademischen politischen Philosophie zu diesem Thema geführt werden, dann lassen sich vier grundlegende demokratietheoretische Begründungsmuster erkennen: ein völkisches, ein libertäres, ein kosmopolitanes und ein republikanisches Begründungsmuster.

Die völkische Begründung: Grenzen schließen

Das völkische Begründungsmuster hat als argumentativen Dreh- und Angelpunkt die Annahme der Existenz von mehreren nebeneinander existierenden Volksgemeinschaften. Über fünf argumentative Schritte gelangt dieser Ansatz zur Forderung nach geschlossenen Grenzen. Die erste Annahme lautet, dass alle Menschen – an jedem Ort und zu jeder Zeit in der Geschichte – eine umfassende Eingebundenheit in eine weitgehend homogene Gemeinschaft benötigen; Menschen, die diese Eingebundenheit nicht erleben dürfen, werden als bemitleidenswerte, unvollkommene Wesen beschrieben.

Ähnliche Annahmen finden sich zwar zuweilen auch in manchen sozialistischen und kommunitaristischen Theorien, im völkischen Begründungsmuster wird darüber hinaus jedoch behauptet, dass eine solche Gemeinschaft besondere Eigenschaften hat: Sie ist eine auf der biologischen Grundlage gemeinsamer Abstammung ruhende historische Schicksalsgemeinschaft, die in der gemeinsamen Alltagskultur ihre feste und generationenübergreifende Grundlage hat. Drittens werden dann die ersten beiden Annahmen über das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen ausdrücklich auf die politische Sphäre übertragen. Denn der Staat bildet nach diesem Verständnis gleichfalls eine Form der Gemeinschaft, die – wie alle anderen Gemeinschaftsformen auch – auf weitgehende Homogenität angewiesen ist.

In der demokratischen Variante der völkischen Theorie (mehrheitlich neigen völkische Theorien allerdings eher der Eliten- oder Führerherrschaft zu) lautet das fünfte Argument dann, dass die Bereitschaft, sich an der Demokratie zu beteiligen oder sich ohne Protest überstimmen zu lassen, nur auf der Basis dieser vorpolitischen Homogenität längerfristig vorhanden sei. Von diesen Annahmen ist es nur noch ein kleiner Schritt zu den Konsequenzen des völkischen Begründungsmusters im Hinblick auf die Flüchtlingsdebatte: Die auf einer biologischen Gleichartigkeit basierende völkische Homogenität gilt es gegen eine derzeit angeblich sich ereignende »?Umvolkung?« zu erhalten oder durch Aussonderung und Ausweisung der Nichtdazugehörigen erst als solche zu gestalten.

Die Staatsgrenzen müssen deshalb – im Interesse der Stabilität der völkischen Demokratie – gegenüber der Einwanderung von als fremd Wahrgenommenen rigoros und gegebenenfalls mit Waffengewalt abgeschottet werden. Insbesondere die Staatsbürgerschaft gilt als ein ganz besonderes Gut, das nur solchen Menschen verliehen werden darf, die vollständig in das völkische Homogenitätsschema passen.

Die libertäre Begründung: Grenzen auf, Steuern rein

Das libertäre Begründungsmuster setzt argumentativ am anderen Ende des Spannungsverhältnisses zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft an. Dreh- und Angelpunkt der libertären Überlegungen sind die unantastbaren Rechte des Individuums. Dahinter steht die historische Annahme, dass im Verlauf einer zielgerichteten geschichtlichen Höherentwicklung der menschlichen Gattung die Menschen immer mehr Wert auf individuelle Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung legen und sich damit gleichsam zu den alleinigen Autoren ihres Lebensplanes aufschwingen können und dies auch wollen.

Da eine Gesellschaft der Individuen einen erhöhten Koordinationsbedarf hat, ist eine Art Gesellschaftsvertrag notwendig, in dem die Individuen ein System miteinander vereinbaren, das allen Beteiligten ein Höchstmaß an individuellen Rechten zugesteht. In der libertären Version der Vertragstheorie schützen die Individuen durch ein solches Vertragswerk nicht nur ihre politischen und wirtschaftlichen Freiheitsrechte, sondern sichern ihr Eigentum auch gegen jede Form von Umverteilung ab.

Der auf Grundlage eines solchen libertären Vertragswerkes begründete Staat ist ein Minimalstaat. Es ist ein Staat, der weder regulierend in die Lebenspläne der individuellen Bürger eingreift, noch ein Staat, der von vorpolitischen Gemeinsamkeiten abhängig sein soll. Die Staatsbürger unterscheiden sich nicht wesentlich von Privatleuten, die ihre vorpolitischen Interessen gegenüber ihren Mitbürgern und dem Staatsapparat zur Geltung bringen, sie leisten lediglich zur Reproduktion des Staates – sei es durch Steuerzahlungen oder Wahlstimmen – bestimmte Beiträge, um im Austausch dafür gewisse Organisationsleistungen zu erhalten. Im Hinblick auf die Verfahren der politischen Entscheidungsfindung ist der libertäre Minimalstaat demokratisch organisiert und gesteht allen Individuen gleiche politische Freiheiten und Rechte zu.

Auch aus diesen Grundannahmen ergeben sich eindeutige politische Konsequenzen im Hinblick auf die Flüchtlings-, Asyl- und Einwanderungsdebatten. Der libertäre Denkansatz spricht sich für weitgehend offene Grenzen aus. Und zwar nicht nur für Kapital, Waren und Dienstleistungen, sondern auch für Menschen. Keinem Staatsbürger darf es verwehrt werden, nach Belieben Menschen aus einem anderen Land einzuladen, sei es als Besucher, als Arbeitskraft für den eigenen Betrieb oder als jemanden, dem man in einer Notlage helfen möchte.

Für die Staatsbürgerschaft ist in der libertären Theorie der Nachweis von Steuerzahlungen ausreichend

Allerdings sind im libertären Begründungsmuster auch allein diejenigen, die solche Einladungen ausgesprochen haben, für die gegebenenfalls nötige materielle Versorgung der Eingeladenen zuständig, denn der libertäre Minimalstaat lässt keine sozialen Umverteilungsprogramme zu. Trotz der offenen Grenzen verschwindet dadurch aber auch für all diejenigen Migranten, die nicht unmittelbar politisch verfolgt oder von Tod und Bürgerkrieg bedroht werden, der Anreiz, in einen konsequent nach libertären Prinzipien organisierten Staat einwandern zu wollen. Die Staatsbürgerschaft kann in einem solchen Staat leicht erworben werden. Nach der Logik des libertären Modells ist dafür der Nachweis von Steuerzahlungen ausreichend.

Die kosmopolitane Begründung: Aufnahme von Flüchtlingen vorzugsweise in deren Nachbarländern

Das kosmopolitane Begründungsmodell basiert ebenfalls auf der politischen Philosophie des Liberalismus, setzt aber andere Akzente im Hinblick auf die Verteilung sozialer Güter. Sein argumentativer Ausgangspunkt ist ein moralischer Universalismus, demzufolge es einen Mindeststandard grundlegender Menschenrechte (inklusive Sozialleistungen) gibt, der prinzipiell allen Bewohnern der Erde in gleichem Maße zustehen sollte. Damit sprengt das kosmopolitane Begründungsmodell bereits an seinem Ausgangspunkt die Beschränkung auf den Nationalstaat als moralischen Grenzraum der Verteilung von Rechten und Gütern.

In einer moderaten Version wird daraus zunächst »nur« eine globale moralische Zuständigkeit für materielle Hilfsleistungen an unschuldig in Not geratene Menschen und für die Herstellung menschenwürdiger gesellschaftlicher Zustände auf der Welt abgeleitet.

In einer radikaleren Version vertreten einige Anhänger des kosmopolitanen Modells darüber hinaus die Überzeugung, dass zu den grundlegenden Rechten auch dasjenige auf grenzüberschreitende Freizügigkeit gehört. Begründet wird diese Überzeugung zum einen damit, dass wir innerhalb einzelner Staaten die Bewegungsfreiheit als menschenrechtliches Grundgut anerkennen (und die gewaltsame Hinderung an einer Ausreise verurteilen). Zum anderen verdiene es kein Mensch (im positiven wie negativen Sinne), in einem bestimmten Land – sei es nun arm oder reich, sei es befriedet oder im Bürgerkrieg befindlich – auf die Welt gekommen zu sein.

Aus dieser Perspektive ähneln die gravierenden Folgen der zufälligen Geburt in einem wohlhabenden Land oder einer Krisenregion den Zuständen im Feudalismus mit seiner ungerechten Verteilung von Lebenschancen durch Geburt.

In ihren migrationspolitischen Konsequenzen liegen die moderate und die radikale Version des Verständnisses menschenrechtlicher Grundgüter dann jedoch häufig nicht so weit auseinander, wie man es erwarten müsste. Denn Vertreter beider Versionen plädieren für ein Modell der abgestuften Hilfspflichten, bei denen die Interessen der Einheimischen mit denen der Hilfsbedürftigen unparteiisch gegeneinander abgewogen werden müssen. Die grundsätzlich anerkannten Hilfspflichten werden im kosmopolitianen Modell an den Punkten, an denen es um konkrete Hilfsmaßnahmen geht, pragmatisch unter dem Aspekt ihrer tatsächlichen Effekte festgelegt.

Als Ergebnis einer solchen Abwägung im Hinblick auf die aktuelle Flüchtlings-, Asyl- und Einwanderungsdebatten nimmt die konkrete Hilfe und Unterstützung vor Ort in der Regel den ersten Rang ein. Eine Aufnahmepflicht von Flüchtenden entfernterer Länder ist nur dann vorgesehen, wenn es in der Nähe der Heimat der Notleidenden keine vertretbaren Alternativen für die Sicherstellung ihrer menschenwürdigen Existenz gibt. Dabei baut die radikale Variante auf die Zusatzannahme, dass Menschen aufgrund nichtmaterieller Faktoren den Aufenthalt in der vertrauten Region einer regionenübergreifenden Auswanderung vorziehen würden. Im Übrigen ist das Recht auf Staatsbürgerschaft im kosmopolitischen Modell ebenfalls ein Grundrecht und sollte ohne allzu hohe Hürden sämtlichen Bewohnern eines Landes verliehen werden.

Die republikanische Begründung: Grenzschließung, wenn die demokratische Ordnung bedroht ist

Das republikanische Begründungsmuster ist der überzeugendste Ansatz aus dem reichhaltigen Angebot moderner Demokratietheorien, weshalb er hier mit knappen Abgrenzungen zu den anderen drei skizziert wird. Den Ausgangspunkt des modernen republikanischen Begründungsmusters bildet der Versuch, eine Art Balance im Spannungsverhältnis zwischen den gemeinschaftlichen und den individualistischen Verhaltenskomponenten des Menschen zu finden. Neben Familie, Freundschaft und freiwilligen Vereinigungen ist auch der Nationalstaat ein Handlungsraum, in dem sich individualistische und gemeinschaftliche Komponenten vermengen.

Im republikanischen Ansatz wird der Nationalstaat in Analogie zu einem Klub oder zu einem Verein mit einer gewissen kollektiven Identität gedacht. Klubs und Vereine dürfen grundsätzlich zulassen oder ausschließen, wen immer sie möchten. Dasselbe gilt für den Staat, nur dass er im modernen Republikanismus dabei an die in der Verfassung garantierten liberalen Grundrechte und das Diskriminierungsverbot, also den universalistischen Kern des modernen Verfassungsstaates, gebunden bleibt.

Auswanderung und Einwanderung werden vom Republikanismus unterschiedlich behandelt. Staaten dürfen demnach zwar den Weggang von Bürgern nicht verhindern, können aber den Zugang reglementieren. Die kollektive Identität gründet im republikanischen Modell – anders als im völkischen Begründungsmuster – nicht auf vorpolitischen oder gar biologistischen Homogenitätsannahmen, sondern besteht aus der Annahme einer demokratischen Willensgemeinschaft. Die Mitglieder dieser Staatsbürgernation finden ihre Identität nicht in ethnisch-kulturellen Gemeinsamkeiten, sondern in der öffentlichen Praxis von Bürgern, ihre demokratischen Kommunikations- und Teilhaberechte aktiv auszuüben.

Anders als das libertäre Modell geht der Republikanismus davon aus, dass politische Autonomie ein Selbstzweck ist. Niemand kann diese für sich allein – in der privaten Verfolgung jeweils eigener Interessen – erlangen. Nur gemeinsam auf dem Weg einer intersubjektiv geteilten Praxis kann sie verwirklicht werden. Eine solche demokratische Staatsnation ist durch Verhältnisse gegenseitiger Anerkennung strukturiert, unter denen jeder Staatsbürger erwarten kann, von allen ebenfalls als Freier und Gleicher respektiert zu werden.

Aber anders als das kosmopolitane Modell betont der Republikanismus, dass die allgemeingültigen Grundsätze des demokratischen Rechtsstaates einer festen politisch-kulturellen Verankerung bedürfen, damit sich dessen Normen mit den Gesinnungen und Handlungsmotiven der Bürger verbinden. Für eine solche Verankerung bedarf es einer gelingenden politischen Sozialisation der Staatsbürger und ihrer Gewöhnung an politische Freiheit. Die Staatsbürger sollen sich zu einem Verfassungspatriotismus im Horizont der gewachsenen gemeinsamen politischen Kultur ihres Landes bekennen können.

Da das republikanische Modell die Universalität der Menschenrechte anerkennt, gesteht es politisch Verfolgten und Bürgerkriegsflüchtlingen Hilfen zu. Aus dem Modell leiten sich aber auch konkrete Ausschlussregeln für die Aufnahme von Flüchtenden, Asylsuchenden und Immigrationswilligen ab. Denn Staaten können sehr wohl das Recht auf die Bewahrung ihrer institutionellen Ordnung und der eigenen politischen Kultur in Anspruch nehmen, soweit diese grundsätzlich mit universalistischen Werten konform gehen. Dies gilt allerdings wirklich nur für die öffentliche politische Kultur, die für die Ausübung der Staatsbürgerrechte den konkreten Kontext bildet. Es schließt nicht das Recht auf die Beharrung auf weitere kulturelle oder religiöse Alltagspraktiken ein. Denn im Rahmen der Verfassung eines republikanischen Nationalstaates dürfen vielfältige kulturelle Alltagspraktiken gleichberechtigt koexistieren.

Daraus folgt grundsätzlich: Aufnahmebegehrende, die eine bestehende demokratische Ordnung in eine Diktatur oder einen Gottesstaat verwandeln wollen, können kein Aufnahmerecht beanspruchen. Auch muss kein demokratischer Nationalstaat kriminelle Rechtsbrecher bei sich aufnehmen.

Demokratien mit einem ausgebauten wohlfahrtsstaatlichen System haben ein größeres Recht, die Aufnahmekapazitäten zu verknappen

Des Weiteren lassen sich aus den Besonderheiten einer jeden Verfassungsordnung zusätzliche Ausschlussbestände ableiten: So haben Demokratien mit einem ausgebauten wohlfahrtsstaatlichen System ein größeres Recht als andere Staaten, im Interesse der Bewahrung ihrer solidarischen Sozialsysteme die Aufnahmekapazitäten zu verknappen. Somit ist die Festlegung von Obergrenzen für Einwanderungswillige mit dem republikanischen Begründungsmuster prinzipiell vereinbar. Auch müssen republikanische Staaten, die eine verfassungsrechtlich garantierte Wohlfahrt aufgebaut haben, dafür Sorge tragen, dass die Ärmeren in der einheimischen Bevölkerung nicht zu den Leidtragenden einer großzügigen Aufnahme werden.

Schließlich ist in diesem Begründungsmuster auch das Recht auf Staatsbürgerschaft ein knappes Gut. Denn um die demokratischen Kommunikations- und Teilhaberechte aktiv ausüben zu können, müssen nach dem republikanischen Modell alle Bürger eine gemeinsame Sprache sprechen, die politischen Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates kennen und einer demokratischen Leitkultur (mitsamt ihrer zentralen historischen Narrative) zustimmen wollen.

Welche der vier Begründungsmuster entsprechen dem Grundgesetz?

Aus den Grundbestimmungen des Grundgesetzes leiten sich drei zentrale politische Normen ab: der rechtstaatliche Individualismus, die politische Gleichheit und die soziale Mindestsicherung. Individualismus bedeutet, dass der Endzweck aller politischen Regularien und Maßnahmen darin besteht, die Unantastbarkeit der menschlichen Würde und die Freiheit des einzelnen Bürgers zu schützen; das ist die rechtsstaatliche Komponente der offenen Gesellschaft. Politische Gleichheit meint, dass es keine Rangfolgen oder Unterschiede zwischen den Bürgern bei der Entscheidung über Rechtsregularien und bei der Verteilung von Rechten geben darf. Stattdessen soll die Eigenschaft der Staatsbürgerschaft genügen, um als politisch Gleicher zu zählen; das ist die demokratische Komponente der offenen Gesellschaft. Diese beiden Bestandteile werden in der Ordnung des Grundgesetzes ausdrücklich noch um eine soziale Komponente angereichert: Es sollen staatlicherseits bestimmte soziale Mindestgarantien bereitgestellt werden, damit tatsächlich auch alle Bürger von ihren individuellen politischen Rechten in gleicher Weise Gebrauch machen können.

Nimmt man diese drei Normen zum Maßstab für die Bewertung der vier skizzierten Argumentationsgänge, dann ist leicht ersichtlich, dass nicht alle vier damit konform gehen.

Das gilt zum einen für die libertäre Begründung. Auch wenn sie sich in der vor allem angelsächsischen politischen Philosophie gewisser Beliebtheit erfreut, sprengen die sozialen Gerechtigkeitserfordernisse des Grundgesetzes den rigorosen Rahmen der libertären Minimalstaatlichkeit und der sich daraus ergebenden Forderung nach möglichst weitgehender Öffnung der nationalstaatlichen Grenzen. Das gilt zum anderen erst recht für die völkische Begründung. Die Vorstellung einer umfassenden Eingebundenheit aller Staatsbürger in eine vorpolitische homogene Abstammungs- oder Schicksalsgemeinschaft widerspricht in eklatanter Weise den grundgesetzlichen Normen von Individualismus und politischer Gleichheit.

Anders verhält es sich mit den demokratietheoretischen Begründungsmustern des Kosmopolitanismus und des Republikanismus – sie lassen sich als jeweils unterschiedliche Akzente setzende Ausdeutungen der Normen des Grundgesetzes verstehen. Keines der beiden Modelle lässt es zu, sich gegenüber dem weltweiten Flüchtlingselend in einer Art Wagenburg des Wohlfahrts-chauvinismus zu verschanzen.

Wie herzlos oder wie großzügig wollen wir angesichts des weltweiten Flüchtlingselends sein?

Viel mehr als einen solchen allgemeinen moralischen Appell bieten auch diese beiden Ansätze allerdings nicht. Denn sowohl der Vorrang des Kosmopolitanismus für Hilfen vor Ort wie auch die Betonung von Grenzhürden im Republikanismus belassen einen weiten Spielraum bei der Beantwortung der aufgeworfenen Fragen des angemessenen Umgangs mit Bürgerkriegsflüchtlingen, Asylbewerbern und Immigrationswilligen. Wie herzlos oder wie großzügig wollen wir angesichts des weltweiten Flüchtlingselends sein? Was die Antwort des Staates betrifft, so muss die genaue Antwort der kollektiven demokratischen Entscheidung der Bürger überlassen bleiben. In liberalen Demokratien sind wir als Individuen deswegen aber nicht gehindert, in Privatinitiative weit über das mehrheitlich beschlossene Maß hinaus Hilfen zu leisten.

Weniger Rassisten, als viele derzeit vermuten

Es ergibt wenig Sinn, die Einordnung der vier skizzierten demokratietheoretischen Begründungsmuster zu einer Art »Rasiermesser« in der Auseinandersetzung mit politischen Kontrahenten zu machen. Denn es handelt sich bei der argumentativen Nachzeichnung der vier Ansätze genau genommen um stark verdichtete idealtypische Argumentationsweisen. In der tagespolitischen Debatte stößt man demgegenüber (zuweilen auch bei sich selbst) zumeist auf hybride Begründungszusammenhänge oder nur teilweise nachvollziehbare Argumentationsgänge.

Insofern ist die Analyse von Begründungszusammenhängen auch als eine Art Einladung zu (durchaus auch selbstkritischen) Gesprächen über den angemessenen Umgang mit Bürgerkriegsflüchtlingen, Asylbewerbern und Immigrationswilligen zu verstehen – und sei es nur, dass sich auf diese Weise argumentative Missverständnisse klären lassen.

So ist es zum Beispiel wichtig, von einzelnen Anhängern und Sympathisanten der Pegida-Bewegung oder der AfD genauer zu erfahren, inwieweit sie vornehmlich von irrationalen Ängsten getrieben werden oder tatsächlich einer kompakten rassistisch-völkischen Ideologie anhängen; oder aber ob sich in ihrem politischen Denken nicht auch einzelne Motive aus republikanischen Begründungszusammenhängen finden, die sie lediglich aufgrund des Fehlens eines alternativen politischen Vokabulars dazu getrieben hat, sich rechten und rechtsextremen Akteuren anzunähern. Vermutlich ist dies bei manchen von ihnen der Fall und es könnte möglich sein, mit dem politischen Vokabular des Republikanismus zur Klärung solcher Selbstmissverständnisse beizutragen und auf diese Weise Brücken in Richtung einer wieder gemeinsam geführten demokratischen Debatte zu bauen.

Aktuelle Ausgabe

Dieser Beitrag erschien in der ersten gedruckten Ausgabe von KATAPULT. Jetzt abonnieren und mehr spannende Artikel lesen!

KATAPULT abonnieren

Autor:innen

Forschungsschwerpunkte
Politische Ideengeschichte
Moderne Demokratietheorien
Rechtsextremismus im ländlichen Raum

Neueste Artikel

Mehr als die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung lebt an der Küste

Die brasilianische Volkszählung 2022 ergab, dass 111.277.361 Menschen (54,8 % der Bevölkerung) in Erhebungsgebieten lebten, die maximal 150 Kilometer von der Küste entfernt liegen. Warum ist das so?

Bewegungsfreiheit von Frauen

In keinem Land der Erde können sich Frauen draußen unbelästigt oder uneingeschränkt bewegen. Das zeigt die Women's Mobility Scale der Politikwissenschaftlerin Valerie Hudson.

Abgelegenste bewohnte Insel der Welt

Stell dir vor, dein Nachbar wohnt 2.437 Kilometer weiter. So ist Tristan da Cunha.