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Vorsorge

Deiche ab jetzt nur noch mit Haube

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In Deutschland leben ungefähr 3,2 Millionen Menschen in Gebieten an Nord- und Ostsee, die als überflutungsgefährdet gelten. Besonders stark betroffen ist Schleswig-Holstein. Dort ist knapp ein Viertel der Landesfläche von Überschwemmungen bedroht. In den kommenden Jahren wird sich die Lage noch verschärfen, denn der Meeresspiegel wird weiter ansteigen – als Folge des menschengemachten Klimawandels. Sturmfluten werden häufiger und treffen mit größerer Wucht auf die Küsten. Dadurch sind mehr Menschen in Gefahr, ihr Leben oder Hab und Gut zu verlieren.

Meeresspiegel steigt, aber nicht überall gleich

Wie stark das Wasser steigen wird, lässt sich allerdings nicht so einfach berechnen und hängt stark von den Treibhausgasemissionen ab. Bereits bis Ende dieses Jahrhunderts, so die Prognose des Weltklimarats (IPCC), wird sich der Meeresspiegel um 0,61 Meter bis 1,10 Meter erhöhen. Diese Vorhersage gilt auch für die Nord- und Ostsee. Der Anstieg verläuft allerdings lokal sehr unterschiedlich, sodass einige Regionen stärker betroffen sein werden als andere. Deswegen müssen sie sich unterschiedlich rüsten. An der Ostsee schützen vor allem Dünen und Buhnen die Küste. An der Nordsee haben die Menschen hauptsächlich Deiche gebaut – oder bestehende Deiche erhöht. Diese haben sich bewährt und werden bereits seit über tausend Jahren zum Schutz der Nordseeküste eingesetzt.

Guter Küstenschutz dank großer Katastrophen

Doch die Deiche schützen nicht immer. Heftige Sturmfluten führten in der Vergangenheit zu Deichbrüchen. Dadurch starben an der Nordsee viele Menschen – allein über 300 im Jahr 1962 in Hamburg. Die wichtigste Erkenntnis: Die Deiche boten keine ausreichende Sicherheit. Und so errichtete die Stadt daraufhin eine über 100 Kilometer lange Hochwasserschutzlinie und neue Deiche. Damit sich so ein Unglück nicht wiederhole, reagierten auch die anderen Bundesländer und verbesserten ihren Küstenschutz. Schleswig-Holstein veröffentlichte 1963 einen Generalplan, der seitdem alle zehn Jahre aktualisiert wird. Darin enthalten: Ziele, Maßnahmen und Berechnungen zum Küstenschutz. Auch die anderen Bundesländer publizieren ihre Planungen in diesem Bereich. 

Was steht noch in den Generalplänen? Welche Gebiete eigentlich gesichert werden. Dabei unterscheiden sich die Bundesländer: Niedersachsen und Schleswig-Holstein schließen Landverluste aus. Die Küste wird um jeden Preis gehalten. Anders in Mecklenburg-Vorpommern. Dort wird vor allem bebautes Gebiet geschützt. Nicht aber jeder Küstenabschnitt, der beispielsweise durch Abbrüche der Steilküste verloren gehen kann. In der Ostseegemeinde Ahrenshoop auf dem Darß setzte sich deswegen eine private Interessengemeinschaft dafür ein, einen unbebauten Küstenabschnitt zu sichern. Da in unmittelbarer Nähe aber kein hohes Schadenspotenzial für Häuser oder andere Sachwerte besteht, wurden ihre Forderungen nach Küstenschutz lange vernachlässigt. Die Folge: Immer wieder kommt es zu Küstenabbrüchen und lebensgefährlichen Unfällen.

Durch Brandung und Sturmfluten verschwinden regelmäßig Teile der Strände und der Dünen. Sedimente werden abgetragen und umgelagert. Damit Strand und Dünen nicht irgendwann ganz weg sind, muss der Sand künstlich wieder aufgespült werden, indem er vom Meeresboden in der Umgebung abgesaugt und an die Küste gebracht wird. Im Schnitt sind diese Sandvorspülungen alle acht bis zehn Jahre notwendig. Mecklenburg-Vorpommern gibt derzeit jährlich rund 20 Millionen Euro für den Küstenschutz aus. Etwa ein Viertel davon veranschlagt das Bundesland für Sandvorspülungen.

Eine Haube für die Deiche

In regelmäßigem Abstand finden in Mecklenburg-Vorpommern und den anderen Bundesländern Sicherheitsüberprüfungen der bestehenden Schutzbauten wie Deiche und Sperrwerke statt. Die zuständigen Behörden begutachten unter anderem die Landesschutzdeiche und fragen: Wie gut sind sie und was muss geschehen, damit sie auch in den kommenden Jahren noch dem Wasser standhalten? Bereits vor 20 Jahren erhielten Deiche in Schleswig-Holstein, die neu angelegt oder verstärkt wurden, ein Vorsorgemaß von 50 Zentimetern als Reaktion auf den steigenden Meeresspiegel. Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern zogen nach. In Sachen Küstenschutz steht seit Jahrzehnten fest, dass das Klima sich verändert und damit den Meeresspiegel beeinflusst. Die einzige Frage ist nur, wie hoch das Wasser steigt. Deswegen der Sicherheitspuffer.

Mittlerweile zeigt sich nach neuesten Prognosen, dass dieser sogenannte Klimazuschlag wohl nicht ausreichen wird. Im Mittel könnte der Meeresspiegel um 0,84 Meter steigenoder aber noch deutlich höher. Also werden die Deiche und andere Küstenschutzbauwerke zukünftig mit einem Vorsorgemaß von einem Meter aufgestockt. Darauf haben sich die Küstenbundesländer geeinigt. Zusätzlich planen die Verantwortlichen im Küstenschutz eine Baureserve für Deiche. Diese sogenannten Klimadeiche können bei Bedarf um maximal 1,5 Meter erhöht werden, indem man ihnen eine Art Haube aufsetzt. Dafür werden die Deichkronen schon jetzt vorbereitet und in der Breite verdoppelt. Sie werden außerdem nicht so steil abfallend in Meeresrichtung angelegt. Aber reicht das?

Nordsee sehr gut, Ostsee okay 

Arne Arns, Professor für Küstenschutz und Küstendynamik an der Universität Rostock, schätzt, dass die Regionen an der Nordsee sehr gut auf den kommenden Meeresspiegelanstieg vorbereitet sind. Grund: Sie nutzen für ihren Küstenschutz vor allem technische Bauwerke wie Deiche, die bei Bedarf erhöht werden können. Bei der Ostsee sieht Arns hingegen noch Bedarf. Hier schützen vor allem Dünen die Küste. Diese Maßnahme sei zwar natürlicher, aber auch weniger widerstandsfähig. Zwar nutzen auch Bundesländer an der Ostsee ein Vorsorgemaß von einem Meter für Schutzbauwerke, trotzdem unterschätzen sie Sturmfluthöhen. 

Woran liegt das? Arns erklärt es so: Um zu ermitteln, wie hoch die Küstenschutzmaßnahmen sein müssen, wird auf bisherige Wasserstandsmessungen zurückgegriffen. Hieraus wird dann abgeleitet, wie hoch der Deich oder die Düne sein muss. Das Problem: An der Ostsee wird dabei in der Regel die höchste bislang dokumentierte Sturmflut von 1872 vernachlässigt. »Das liegt im Wesentlichen daran, dass die Wasserstände dieses Ereignisses nicht überall an der Küste verfügbar sind und deren Einbindung in die verwendeten mathematischen Verfahren nicht funktioniert. An der Nordsee sind die höchsten Wasserstände dagegen zwischen 1976 und 2013 aufgetreten und fließen somit in die Statistik mit ein. Folglich sind die Bemessungshöhen an der Nordsee statistisch robuster«, so Arns.

Müssen Schutzwälle also einfach nur immer höher werden? Arns betont: »Es gibt wenig, was technisch nicht machbar wäre. Die Frage ist nur: zu welchem Preis?« Er meint damit nicht nur den finanziellen Aspekt, sondern vor allem ökologische und optische Werte: »Zwar könnten wir hohe Mauern bauen – aber wer will dahinter leben? Und wer will sie bezahlen?« Auch die damalige Präsidentin des Umweltbundesamtes, Maria Krautzberger, forderte 2019 in einer gemeinsamen Veröffentlichung mit dem Alfred-Wegener-

Institut, den Fokus nicht nur auf den Deichbau zu richten: »Naturnahe Lösungen wie Sandvorspülungen, küstennahe Überflutungsräume oder Salz- und Seegraswiesen sollten künftig stärker im Vordergrund stehen als ausschließlich technische Maßnahmen wie immer höhere und breitere Deiche.«

Deiche jetzt doch lieber zurückbauen?

Nein. Natürliche Schutzelemente können laut Arns lediglich den Deichschutz ergänzen, aber keineswegs ersetzen: »Deiche sind die Basis für unsere Daseinsvorsorge, ohne sie wären weite Teile Norddeutschlands unbewohnbar.« Deiche weiter ins Landesinnere zu verlegen oder ganz zu öffnen, ist aus diesem Grund nur sehr selten und nur an sehr wenigen Orten möglich. Einer davon ist Bresewitz an der Ostsee, wo im Jahr 2020 ein Deich durchstochen wurde. Das Moor, das hier durch den Deich ausgetrocknet war, läuft nun wieder mit Wasser voll. Auch in der Nähe von Anklam in Mecklenburg-Vorpommern zeigen sich die positiven Auswirkungen solcher Deichöffnungen. Als hier in den 1990er-Jahren ein Deich brach, flutete die Ostsee großräumig eine Fläche, die vorher von der See abgeschnitten war. Es entstand eine neue Küstenlandschaft, in der einige Vogelarten zum ersten Mal in Deutschland nisten konnten. Damit die Küste aber weiterhin zuverlässig gesichert ist, können solche Deichrückverlegungen nur in Einzelfällen durchgeführt werden. An der Ostsee funktioniert es an einigen Stellen, an der Nordsee fast nie. So müsse ein Ziel darin bestehen, Deiche künftig ökologisch aufzuwerten, sagt Arns.

Bund und Länder haben sich in den vergangenen Jahren intensiv auf den Meeresspiegelanstieg vorbereitet und große Summen in den Küstenschutz investiert. Allein Schleswig-Holstein gab seit 1962 rund drei Milliarden Euro aus. Die Küstenbundesländer sind sich bewusst, die Schutzmaßnahmen auch weiterhin flexibel an die Klimaveränderungen anpassen zu müssen. Denn trotz guter statistischer Berechnungen kann niemand genau abschätzen, um wie viele Meter der Meeresspiegel ansteigen wird und wie viele darauf aufsattelnde Sturmfluten es letztendlich geben wird. Unklar bleibt auch, ob das Wattenmeer als natürlicher Küstenschutz und Lebensraum für Tiere verloren geht und welche Folgen das haben könnte. Klar ist, dass durch den Klimawandel bevorstehende Extremwetterereignisse mit Starkregen und Trockenheit zunehmen werden. Der beste Küstenschutz ist daher: umschwenken und den Klimawandel abbremsen.

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Fußnoten

  1. Umweltbundesamt (UBA) (Hg.): WW-R-4: Investitionen in den Küstenschutz, auf: umweltbundesamt.de (26.11.2019). Als überflutungsgefährdet gelten für die Ostsee alle Gebiete bis 3 Meter Höhe über dem Meeresspiegel, an der Nordsee gelten 5 Höhenmeter.
  2. Dzuba, Karl: Küstenschutzmaßnahmen in Deutschland, auf: eskp.de (ohne Datum).
  3. Im Vergleich zum Jahr 2000. UBA (Hg.): WW-I-8: Meeresspiegel, auf: umweltbundesamt.de (26.11.2019).
  4. Staatliches Amt für Landwirtschaft und Umwelt: Mittleres Mecklenburg/Dezernatsgruppe Küste: Geplante Küstenschutzmaßnahmen 2021-2030, 2020, S. 6.
  5. Gemeint ist hier der Medianwert.
  6. Im Vergleich zum Jahr 2000. UBA (Hg.): WW-I-8: Meeresspiegel, auf: umweltbundesamt.de (26.11.2019).
  7. Thorenz, Frank; Drosten, Jörn: Klimawandel und Küstenschutz: Ein entscheidender Meter mehr, auf: nlwkn.niedersachsen.de (15.6.2021).
  8. Telefongespräch mit Arne Arns am 1.9.2021.
  9. Landes, Josepha: Es gibt wenig, was technisch nicht machbar wäre, in: Bauwelt (19)2020.
  10. UBA (Hg.): Meere und Polargebiete schützen, Küsten langfristig sichern, auf: umweltbundesamt.de (25.9.2019).
  11. WWF (Hg.): Deich-Durchstich in Bresewitz, auf: wwf.de (3.3.2020).
  12. O.A.: Klimawandel treibt Kosten für Küstenschutz, auf: iwr.de (4.1.2018).

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