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Kulturelle Vielfalt

Angst stört Zusammenhalt

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Die Debatte über die Bewältigung der großen Zahl von Flüchtlingen und die sich daraus ergebenden Herausforderungen werden derzeit so hitzig diskutiert, wie nie zuvor. Das liegt nicht zuletzt an den Ereignissen von Köln in der Silvesternacht.

Seit Sommer 2015 kommen täglich mehrere Tausend Schutzsuchende nach Deutschland. Während in den ersten Monaten von bis zu 10.000 Flüchtlingen pro Tag ausgegangen wurde, sind es derzeit etwa 2.300. Die deutsche Regierung nimmt mit ihrer Haltung des unbegrenzten Zustroms nach wie vor eine Sonderrolle in Europa ein.

Für die deutsche Gesellschaft stellt die momentane Einwanderungswelle eine Ausnahmesituation dar, die sich nur mit dem vermehrten Zuzug von Migranten zwischen den 1950er und 1970er Jahren in Westdeutschland vergleichen lässt.

Schweden, die Schweiz und Kanada sind seit Jahrzehnten Einwanderungsländer. So hat beispielsweise Schweden im Jahr 2014 gemessen an der Einwohnerzahl die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Kulturelle Vielfalt ist ein charakteristisches Element dieser Gesellschaften.

Wie hoch ist jedoch die Akzeptanz der Bürger gegenüber anderen Kulturen und welche Auswirkungen hat dies auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Von den Skandinaviern lernen

Eine repräsentative Studie gibt Aufschluss über die Veränderungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts der westlichen Gesellschaften über einen Zeitraum von 23 Jahren. Insgesamt wurden die Aussagen von Befragten aus 34 Ländern – die EU-Mitgliedsstaaten sowie sieben westliche OECD-Staaten – ausgewertet.

Der gesellschaftliche Zusammenhalt wurde anhand dreier Bereiche untersucht: soziale Beziehungen, Verbundenheit und Gemeinwohlorientierung. Diese Bereiche umfassen jeweils noch einmal drei Dimensionen, sodass der Zusammenhalt sich insgesamt aus der Summe von neun Faktoren ergibt.

Zur absoluten Spitzengruppe für den gesamten Erhebungszeitraum zählen Dänemark, Norwegen und Schweden. Diese drei Länder konnten über 23 Jahre hinweg die höchste Ausprägung von gesellschaftlichem Zusammenhalt aufrechterhalten. Durch Schwankungen geprägt aber immer noch sehr weit vorn sind beispielsweise Neuseeland, Kanada, die USA und die Schweiz.

Besonders interessant ist hierbei, dass die Schweiz zwar insgesamt sehr gut, jedoch in der Unterkategorie »Akzeptanz von Diversität« (Bereich: Soziale Beziehungen) – also Toleranz gegenüber kultureller und ethnischer Vielfalt – nur unterdurchschnittlich (unteres Mittelfeld) abschneidet. Dabei beträgt hier der Anteil an Bürgern mit Migrationshintergrund gemessen an der Gesamtbevölkerung 35 Prozent. Die geringe Akzeptanz von kultureller Vielfalt lässt sich auch für Österreich, Frankreich und Belgien feststellen.

Die Deutschen lieben Regeln, aber das ist nicht nur typisch deutsch

Deutschland belegt im Gesamtdurchschnitt einen Rang im oberen Mittelfeld. Was die Unterkategorie der »Akzeptanz von Diversität« betrifft, ist es im Mittelfeld – ebenso wie beispielsweise Ungarn, Italien oder Polen. Schlusslichter in dieser Kategorie bilden Griechenland, Israel, die Slowakei und Zypern.

Besonders gering ist in Deutschland die Identifikation mit der Gesellschaft (Bereich: Verbundenheit) ausgeprägt – im Vergleich mit den anderen Ländern liegt es auf dem letzten Platz, gemeinsam mit Belgien, Großbritannien, den Niederlanden und Tschechien. Eine denkbare Erklärung für die vergleichsweise geringe Identifikation ist das Erbe des Nationalsozialismus und die damit zusammenhängenden Folgen für das Selbstverständnis der Deutschen. Diese Erkenntnis deckt sich mit anderen Studien.

Einen besonders hohen Stellenwert räumen die Deutschen der Anerkennung sozialer Regeln ein. Gemeinsam mit Finnland, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, der Schweiz und den USA zählt Deutschland hier zur Spitzengruppe. Das deckt sich mit dem weit verbreiteten Klischee vom regelkonformen, akkuraten Deutschen, zeigt aber zugleich auch, dass diese Einschätzung auch auf andere Länder zutrifft.

Wir schaffen das – aber nur unter bestimmten Umständen

Was die Studie leider nicht bieten kann, sind aktuelle Werte zum Zusammenhalt und zur Einstellung gegenüber kultureller Vielfalt. Vor dem Hintergrund der umfangreichen politischen und medialen Debatte zur Flüchtlingspolitik wäre die Einstellung der Deutschen besonders aufschlussreich.

Seit Sommer 2015 wird viel darüber diskutiert, wie viele Zuwanderer der deutsche Staat – rein organisatorisch – aber vor allem die Gesellschaft bewältigen kann. Die Kanzlerin hat damals öffentlich gemacht: »Wir schaffen das.«

Sie hat weniger rational, als vielmehr menschlich auf die vielen Schutzsuchenden aus Syrien, Afghanistan und dem Irak reagiert. Dies ist in einer Zeit, in der oft propagiert wurde, dass die Menschlichkeit bei Angela Merkel auf der Strecke geblieben wäre, bemerkenswert.

Was die Regierung jedoch größtenteils ignoriert hat, ist die – vielleicht auch – diffuse Angst der Bürger vor dieser großen Zahl von Flüchtlingen. Diese Angst vor dem Ungewissen und dem Fremden hat die Gesellschaft radikalisiert - sowohl verbal als auch tätlich.

Noch viel stärker als die eigentliche Angst vor den Konsequenzen wirkt das Gefühl, von der Regierung mit dieser Angst allein gelassen zu werden. Kritische und besorgte Bürger wurden mit randalierenden Nationalisten gleichgesetzt und als »Pack« bezeichnet. Indem man die Ängste und damit die Bürger abwertet, potenziert sich die Angst. Dieses Gefühl, nicht gehört zu werden – diese Ohnmacht – führt wiederum zu Gewalt.

Durch die Ereignisse in Köln wird noch weitaus kontroverser diskutiert. Dabei geht es gleichermaßen um das Versagen der Polizei und der Politik, aber auch um kulturelle Unterschiede und die Sanktionierung dieser Straftaten.

Zuhören stärkt gesellschaftlichen Zusammenhalt

Es ist falsch, zu sagen, dass alle muslimischen Männer dazu neigen, sexuell übergriffig oder kriminell zu sein – es ist aber auch falsch, die Menschen, die an den Ereignissen Kritik äußern (sei es Bürger, Medienvertreter, Politiker), pauschal als Rassisten oder Nazis zu bezeichnen.

Gegenseitige Schuldzusweisung und Diffamierung verhindert eine konstruktive Debatte darüber, wie Zuwanderer dauerhaft in unsere Gesellschaft integriert werden können. Genau das ist aber der entscheidende Punkt. Wie können wir Menschen anderer Kulturen aktiv in unsere Gesellschaft miteinbeziehen, ohne dass dadurch für die anderen Bürger ein Nachteil entsteht?

Kulturelle Vielfalt kann eine Bereicherung für jede Gesellschaft sein, solange die Bedürfnisse aller anderen Bürger gleichwertig behandelt werden. Die Regierung muss also das Gegenteil von dem tun, was sie momentan tut. Sie muss besonders den »besorgten« Bürgern zuhören, auch um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.

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