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Politische Theorie

Andere Länder, andere Populismen

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Seit einigen Jahren schwappt eine neue Welle des Populismus durch Europa – und nicht nur durch Europa. Während etablierte rechtspopulistische Parteien ungekannte Erfolge erzielen und teils an die Regierung gelangen konnten, erlebte Deutschland in diesem Bereich mit dem Aufstieg der »Alternative für Deutschland« (AfD) eine Art nachholende Entwicklung.

In Spanien, Griechenland, Großbritannien und Frankreich entstanden dezidiert linkspopulistische Projekte und in Italien kam mit dem »Movimento 5 Stelle« (»Fünf-Sterne-Bewegung«, M5S) eine Partei an die Regierung, die das bekannte populistische Credo »weder links noch rechts« so ernst nimmt, dass eine Einordnung in das politische Spektrum tatsächlich schwerfällt.

Wie ist es zu erklären, dass sich Erfolg und Charakter der jeweils dominanten populistischen Projekte von Land zu Land so stark unterscheiden?

Die Vielfalt des Populismus in Europa

Als populistisch werden in der Wissenschaft diejenigen politischen Parteien und Bewegungen bezeichnet, die davon ausgehen, dass »das Volk« und seine Interessen von »den Eliten« nicht gut vertreten werden. Daher sei eine neue Politik vonnöten, um Demokratie herzustellen. Dabei können populistische Projekte ganz unterschiedliche Formen annehmen – ihr Bild von »dem Volk« und »den Eliten« kann sich ebenso unterscheiden wie ihr Demokratieverständnis, ihr Verhältnis zum Rechtsstaat, ihre politische Strategie, ihre Organisationsform und vieles mehr.

Am wichtigsten ist dabei die Unterscheidung von linken und rechten Populismen. Linke Populismen stehen idealtypisch für ein eher plurales und inklusives Verständnis von »Volk« als die Einheit derer, die sozial »unten« stehen; die »Eliten« werden entsprechend meist ökonomisch definiert.

Rechte Populismen haben dagegen ein eher exklusives, nativistisches Verständnis von »Volk«, das durch den Ausschluss ethnisch, kulturalistisch oder biologistisch definierter »Anderer« bestimmt ist; den »Eliten« wird insbesondere ein »Verrat« an diesem partikularen Volk vorgeworfen. Zudem vertreten rechte Populismen in der Regel autoritäre Positionen in gesellschaftspolitischen Fragen.

Auch wenn die linken und rechten Populismen in vielerlei Hinsicht direkt entgegengesetzte Positionen vertreten, ist es hilfreich, beide gemeinsam zu analysieren. Dann wird sichtbar, dass es sich inhaltlich um sehr unterschiedliche, politisch-strategisch aber teilweise ähnliche Reaktionen auf ein und dieselbe Krise politischer Repräsentation handelt.

Bernie Sanders und Donald Trump unterscheiden sich in fast jeder Hinsicht, ihr gleichzeitiges Auftauchen und die Ähnlichkeiten ihrer Kämpfe gegen das jeweilige Partei-Establishment sind aber nicht zufällig. Eine moralische oder politische Gleichsetzung ist damit nicht impliziert.

Starke Unterschiede finden sich nicht nur zwischen linken und rechten Populismen. Betrachtet man einzelne Populismen genauer, zeigt sich gerade innerhalb des Rechtspopulismus eine große Vielfalt. Rechtspopulistische Projekte unterscheiden sich schon lange in Bezug auf die Zuspitzung ihrer Thesen, ihre Offenheit gegenüber Rassismus oder die Art, in der sie sich auf den Nationalsozialismus beziehen. Seit einigen Jahren zeigen sich auch unterschiedliche Positionen zum Familienbild, zur Gleichberechtigung der Geschlechter und der Sexualitäten oder zum Nahostkonflikt – in Abgrenzung gegen »den Islam« verteidigen einige ein modernes Familienbild, die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Toleranz gegenüber Homosexualität als westliche Errungenschaften und Israel als Bollwerk im »Kampf der Kulturen«.

Zudem haben sich auch die wirtschafts- und sozialpolitischen Positionen ausdifferenziert. Während die rechtspopulistischen Projekte in den 1980ern und 1990ern dem Steuer- und Wohlfahrtsstaat fast durchweg ablehnend gegenüberstanden und strikt neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitiken vertraten, hat sich in den letzten Jahren ein auf diesen Feldern »links« aufgestellter Rechtspopulismus etabliert.

Dies gilt insbesondere für den – jüngst in »Rassemblement National« (RN) umbenannten – »Front National« (FN) in Frankreich, der zuletzt mit einem Programm antrat, das in den genannten Politikbereichen der Kommunistischen Partei nahekam. Gefordert wurden beispielsweise eine Teilverstaatlichung von Banken, eine Anhebung des Mindestlohns und eine Steuererhöhung für Besserverdienende.

Durch die klar erkennbaren rassistischen und fremdenfeindlichen Obertöne, die andeuten, dass die wohlfahrtsstaatlichen Errungenschaften in erster Linie oder ausschließlich einem ethnisch oder kulturell definierten »eigenen« Volk zugutekommen sollen, besteht jedoch immer noch ein deutlicher Unterschied zu linken Positionen. Solche nationalistisch-exklusiven Sozialprogramme sind in der Geschichte der europäischen Rechten insgesamt nichts Neues – auch der Nationalsozialismus war zwar kapitalfreundlich, aber nicht wirtschaftsliberal. Innerhalb der jüngeren Geschichte der populistischen Rechten bedeuten sie aber einen Bruch.

Obgleich es einen länderübergreifenden Trend in diese Richtung gibt, stehen den wirtschafts- und sozialpolitisch »linken« Rechtspopulismen weiterhin wirtschaftsliberale gegenüber. Dies gilt beispielsweise für die »Schweizerische Volkspartei« (SVP) oder die norwegische »Fremskrittspartiet« (»Fortschrittspartei«).

Die AfD zeigt sich in diesen Fragen aktuell zerrissen zwischen den völkischen Kräften um Björn Höcke, die einen sozialpolitisch aktiven Staat fordern, und den eher wirtschaftsliberal orientierten Kräften um Alice Weidel und Jörg Meuthen – grob gesprochen handelt es sich also um eine Ost-West-Spaltung im deutschen Rechtspopulismus.

In Österreich und Italien zeigt sich dagegen die ideologische Flexibilität – um nicht zu sagen: der Opportunismus – der populistischen Rechten in diesen Fragen: Die »Freiheitliche Partei Österreichs« (FPÖ) inszenierte sich als Verteidigerin des Wohlfahrtsstaates, nur um ihn in der Regierungskoalition mit der »Liste Sebastian Kurz« neoliberal zu »reformieren«.

In Italien vertrat die »Lega Nord« im Wahlkampf ein recht traditionelles wirtschaftsliberales Programm, um dann in der Regierungskoalition mit dem M5S neben Steuersenkungen auch die Einführung einer Grundsicherung zu beschließen.

Wie ist die populistische Vielfalt zu erklären?

In den Diskussionen um Populismus geht es zumeist darum, wie sein gegenwärtiger Erfolg insgesamt zu erklären ist. Die am häufigsten gehandelten Erklärungen zielen auf zusammenhängende Entwicklungen in den Bereichen Politik, Ökonomie, Gesellschaft und Kultur: In der Politik wird auf eine Erosion der bestehenden Repräsentationsstruktur und ein In-die-Mitte-Rücken der großen Parteien verwiesen; in der Ökonomie geht es um die wachsende Prekarisierung und »Flexibilisierung« des Erwerbslebens, die alle konkreten Dynamiken von Krise und Erholung überlagert; gesellschaftlich werden Vereinzelungstendenzen und ein zunehmendes Auseinanderdriften verschiedener urbaner und ländlicher Milieus genannt; kulturell wird auf eine immer stärkere Fixierung auf kulturelle Identität verwiesen, die in manchen Gruppen eher liberal-kosmopolitisch, in anderen eher illiberal-nationalistisch auftritt.

All diese Tendenzen führen demnach gemeinsam dazu, dass große Teile der Bevölkerung sich von den etablierten Parteien nicht mehr politisch vertreten fühlen und für populistische Mobilisierung besonders ansprechbar sind.

Weitaus seltener sind Versuche, die Vielfalt des Populismus in Europa zu erklären, also zu untersuchen, warum dieselbe internationale Entwicklung zum Populismus in verschiedenen Ländern unterschiedliche und teils gegensätzliche Formen annimmt. Warum sind in Griechenland und Spanien vor allem linke Populismen erfolgreich, in Frankreich und Großbritannien linke und rechte, in den meisten anderen Ländern aber nur rechte? Warum sind die rechten Populismen in der Schweiz, Norwegen und Westdeutschland eher wirtschaftsliberal, stehen in Frankreich und Ostdeutschland aber eher für eine aktive Sozialpolitik ein? Warum vollziehen sich die Entwicklungen der rechten Parteien in manchen Fällen gleichgerichtet, in anderen entgegengesetzt?

In gewissem Maße müssen diese unterschiedlichen Entwicklungen schlichtweg durch politische Pfadabhängigkeiten, kontingente Entscheidungen und Zufälle erklärt werden, die sich nicht ohne Weiteres auf strukturelle Fragen zurückführen lassen. Dann geht es einerseits um Begebenheiten und Prozesse innerhalb der populistischen Projekte selbst: Geht die jeweilige Partei auf eine neofaschistische Gründung zurück, die dann populistisch »entdiabolisiert« wurde, oder handelt es sich um eine rechtspopulistische Neugründung in Konkurrenz zu neofaschistischen Parteien? Welche Lager innerhalb der Partei können sich zu welchem Zeitpunkt gut organisieren und gegen andere durchsetzen? Andererseits geht es um die Opportunitätsstrukturen und Repräsentationslücken, die die anderen Parteien vorgeben, also darum, inwieweit sich die Parteien des linken und rechten Mainstreams im jeweiligen Land in die Mitte bewegt und dabei Lücken für eine populistische Mobilisierung gelassen haben.

Teilweise lässt sich die vielfältige Ausrichtung der populistischen Projekte aber auch durch tieferliegende soziale Prozesse und Strukturen in den jeweiligen Ländern erklären. Zunächst ist davon auszugehen, dass populistische Projekte auch diskursiv betrachtet nicht im luftleeren Raum handeln. Um erfolgreich mobilisieren zu können, müssen sie Positionen vertreten, die in der Bevölkerung verbreitet sind und als legitim gelten, wobei freilich von Land zu Land Unterschiede bestehen.

Daher gehen einige Wissenschaftler in der Populismusforschung davon aus, dass die wirtschaftspolitische Ausrichtung der rechtspopulistischen Projekte sich durch die jeweils vorherrschende Wirtschaftskultur erklären lässt.

Gilles Ivaldi und Oscar Mazzoleni argumentieren, dass in Frankreich eher die Befürwortung eines wirtschaftspolitisch aktiven, umverteilenden Staates vorherrsche, in der Schweiz dagegen ein ökonomischer Liberalismus, der Staatsaktivitäten begrenzen will. Demnach passen sich die rechtspopulistischen Parteien wirtschaftspolitisch an die jeweilige nationale Wirtschaftskultur an. Dieses Modell ist jedoch nicht geeignet, den Wandel beispielsweise des Rechtspopulismus in Frankreich von der wirtschaftsliberalen Ablehnung von Steuer- und Wohlfahrtsstaat zur gegenwärtigen Befürwortung eines wirtschaftlich und sozialpolitisch starken Staates zu erklären. Ein entsprechender Wandel in der gesamtfranzösischen Wirtschaftskultur lässt sich kaum behaupten.

Ungleiche Entwicklung, ungleiche Populismen

Um dies erklären zu können, muss die Vorstellung einer einheitlichen nationalen Wirtschaftskultur aufgegeben werden. Stattdessen ist genauer zu untersuchen, welche sozialen Milieus die populistischen Projekte jeweils mobilisieren. Dann muss man – etwas »vulgärer« – nicht auf wirtschaftliche Kultur, sondern auf wirtschaftliche Interessen schauen. Dabei rückt die Frage in den Mittelpunkt, welche sozialen Gruppen sich aufgrund jüngerer Transformationen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen und daher populistisch mobilisierbar sind.

Daran schließt sich die Frage an, mit welchen wirtschafts- und sozialpolitischen Programmen diese Milieus sich am besten mobilisieren lassen. Im Fokus stehen dann insbesondere die Milieus, die sich von den wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte bedroht fühlen und von den populistischen Parteien Schutz vor dieser Bedrohung erhoffen. Je mehr Milieus sich darunter finden, die traditionell eher links wählen oder für entsprechende sozialpolitische Programme empfänglich sind, desto besser dürften die Erfolgschancen einerseits für linke Populismen ausfallen, andererseits für Rechtspopulismen, die eine aktive Sozialpolitik befürworten.

Dies führt weiter zu dem Umstand, dass die unterschiedlichen Länder in Europa von den Prozessen der Globalisierung, Europäisierung und Liberalisierung in ganz unterschiedlicher Weise betroffen sind. Ganz generell erhöhten diese Prozesse den Anteil des Außenhandels an der Gesamtleistung der verschiedenen nationalen Wirtschaften. Das heißt, von allen Waren, die im jeweiligen Land produziert werden, werden immer mehr anschließend ins Ausland verschifft; umgekehrt wird ein immer größerer Teil aller Waren, die in einem Land konsumiert werden, im Ausland produziert. Ähnliches gilt auch für Dienstleistungen, die immer öfter grenzüberschreitend sind. Weil der Abbau der Barrieren für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen innerhalb Europas besonders stark ausfiel, stieg auch der wirtschaftliche Austausch zwischen den europäischen Ländern besonders stark an.

Dies führte jedoch in den einzelnen Ländern und Regionen zu ganz unterschiedlichen, teils entgegengesetzten Prozessen: Während sich in nord- und mitteleuropäischen Ländern – unter anderem in Deutschland und in der Schweiz – die ohnehin schon bestehenden massiven innereuropäischen Außenhandelsüberschüsse steigerten, entstanden und erhöhten sich parallel dazu in süd- und westeuropäischen Ländern entsprechende Außenhandelsdefizite – beispielsweise in Frankreich, Italien, Spanien und Griechenland.

Während so in den Überschussländern Arbeitsplätze entstehen und abgesichert werden und die Möglichkeit für ausgeglichene oder positive Staatshaushalte entsteht, werden die entsprechenden Probleme nicht gelöst, sondern gemeinsam mit den Waren und Dienstleistungen ins west- und südeuropäische Ausland exportiert. Dabei kann sich das Konsumniveau in den Defizitländern unter Umständen durch eine Expansion des öffentlichen und des Dienstleistungssektors kurzfristig zwar sogar steigern, langfristig werden die strukturellen Probleme aber in Form von Stagnation, Arbeitslosigkeit, Verelendung und Überschuldung sichtbar.

Dieses ökonomische Ungleichgewicht und die daraus entstehenden, regionalspezifischen sozialen Verwerfungen legen nahe, dass die konkrete Form des Populismus in den verschiedenen europäischen Regionen stark von deren Position innerhalb der politischen Ökonomie Europas abhängt.

Während in den Überschussregionen eher ein besitzstandswahrender Mittelschichtsrechtspopulismus vorherrscht (SVP, die frühe AfD), haben in den Defizitregionen populistische Projekte gute Chancen, die entweder von links mobilisieren (»Syriza« in Griechenland, »Podemos« in Spanien, »La France Insoumise« in Frankreich) oder die von Deindustrialisierung betroffenen Milieus von rechts mit den Versprechen eines ethnisch exklusiven Wohlfahrtsstaates locken (FN/RN, ähnlich auch die AfD in Ostdeutschland und dem Ruhrgebiet).

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Fußnoten

  1. Um den Rahmen nicht zu sprengen, klammere ich die postsozialistischen Länder im Folgenden aus, in denen sich die Fragen populistischer Mobilisierung ganz anders stellen.

Autor:innen

Koordinator des Promotionskollegs Rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität an der Universität Tübingen

Forschungsschwerpunkte
Politische Theorie
Gesellschaftstheorie
Religionspolitik
internationale politische Ökonomie
Populismusforschung
Rassismusforschung

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