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Stell dir vor, zwölf Tage am Stück arbeiten zu müssen. Danach zwei Tage frei, aber dann wieder zwölf Tage hintereinander arbeiten, dann zwei Tage frei und wieder zwölf arbeiten. Und immer so weiter. Klingt hart, aber im deutschen Gesundheitswesen ist das erlaubt. Pflegekräften wird dies besonders häufig abverlangt. Und das ist nur eine von vielen Widrigkeiten, die den Pflegeberuf unattraktiv machen und den Pflegenotstand verschärfen.
Der Personalmangel in Pflegeberufen hat mehrere Gründe: Menschen haben eine immer höhere Lebenserwartung. In Deutschland gibt es derzeit rund 4,5 Millionen Pflegebedürftige – einer Schätzung zufolge wächst die Zahl bis 2030 auf sechs Millionen an. Dadurch steigt der Bedarf an Pflegekräften. Allerdings ist der Job für viele wegen schlechter Arbeitsbedingungen nicht besonders attraktiv: niedrige Bezahlung, viele Überstunden, unzuverlässige Dienstpläne und hoher mentaler Stress. Mittlerweile geht die Mehrheit der Pflegekräfte davon aus, den Job unter diesen Bedingungen nicht ohne Einschränkungen bis zur Rente durchzuhalten. Schon jetzt häufen sich die Fälle derer, die ihren Job deshalb vorzeitig aufgeben. In einer aktuellen Befragung von 3.600 Pflegekräften denkt fast jede Dritte ans Aufhören.
Qualitätseinschränkungen bei fast 50 Prozent der Pflegekräfte
Das bestätigt auch eine neue Studie der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen. Derzufolge ist die Mehrheit der knapp 1.900 befragten Pflegekräfte überwiegend unzufrieden mit ihrer Bezahlung, den Arbeitsbedingungen, der Leitung und der Organisation. Sie würden zu wenig wertgeschätzt und der ständige Personalmangel setze ihnen zu, weil sie nicht genügend Zeit für eine angemessene Pflege hätten. Was man ehemaligen Kolleg:innen bieten müsse, um sie zu einem Wiedereinstieg in den Beruf zu bewegen? Genügend Zeit für eine angemessene Pflege, mehr Anerkennung durch Vorgesetzte und eine bessere Bezahlung.
Auch in einer bundesweiten Telefonbefragung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) im Jahr 2018 fühlten sich fast drei Viertel des befragten Pflegepersonals ungerecht entlohnt und von der Arbeit übermäßig gehetzt. Über die Hälfte glaubte, im Vergleich zum Vorjahr mehr geleistet zu haben, über 40 Prozent hätten ständig erreichbar gewesen sein müssen, wodurch die Arbeit nur schwer mit dem Familienleben zu vereinbaren sei. Andere Befragungen zeigen: Lediglich vier Prozent hätten noch nie kurzfristig Schichten für Kolleg:innen übernommen. Etwa 60 Prozent sprangen bis zu zweimal im Monat für Kolleg:innen ein, fast 30 Prozent sogar bis zu fünfmal. Im Vergleich zu anderen Berufen stehen Arbeitskräfte in der Pflege häufiger unter Zeitdruck.
Das Institut für Gesundheitsforschung der Barmer Ersatzkasse hat die Arbeitsbedingungen in der Pflege mit anderen Berufen verglichen. Das Ergebnis: Pflegekräfte stehen überdurchschnittlich häufig unter Zeitdruck, teilweise bis an ihre Belastungsgrenze. Zudem werden sie häufiger krank, Schäden an der Wirbelsäule sind weitverbreitet. Fehltage oder Vorruhestand nehmen aber auch aufgrund psychischer Störungen zu. Dadurch können Pfleger:innen ihren eigenen Ansprüchen an eine gute Versorgung der Patient:innen nicht mehr gerecht werden. Dem DGB zufolge könne knapp die Hälfte der Befragten ihren Job nur noch mit Qualitätsabstrichen ausführen – also auf Kosten der Patient:innen. Was bedeutet das konkret?
Amputation bringt mehr Geld als Therapie
In Deutschland warten viele Kinder länger als notwendig auf eine Organtransplantation. Und das liegt nicht nur an einer niedrigen Spenderrate. Ein weiterer Grund: Kostendruck der Kliniken. Mit kranken Kindern lässt sich weniger Geld verdienen. Deutsche Kinderkliniken machen grundsätzlich hohe Verluste. Erwirtschaftet ein Klinikbereich jedoch zu wenig Geld, werden Kosteneinsparungen vorgenommen – bis hin zur Schließung der ganzen Abteilung. So wurden 2020 in Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise gleich zwei Geburts- beziehungsweise Kinderstationen zugemacht. Die Personalkosten machen circa zwei Drittel der Gesamtkosten eines Krankenhauses aus. Einsparungen bedeuten daher vor allem Personalabbau. Statt einer angemessenen Versorgung der Menschen steht immer häufiger der mit ihnen zu erzielende Gewinn im Mittelpunkt. Gesundheitseinrichtungen agieren zunehmend wie Unternehmen und Patient:innen werden zu Kund:innen. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
In Deutschland investieren die Bundesländer in Krankenhäuser und entscheiden über ihre Öffnung und Schließung. Die Behandlungskosten von Patient:innen tragen wiederum die Krankenkassen. Sie machen gut 90 Prozent des Klinikbudgets aus. Wie diese abgerechnet werden, legt seit 2004 das sogenannte DRG-Fallpauschalensystem fest. DRG steht für »diagnosebezogene Fallgruppen«. Seitdem hat jede Behandlung einen festen Preis: die Fallpauschale. Eine Blinddarmentfernung beispielsweise bringt etwa 2.350 Euro, eine Lebertransplantation rund 32.000 Euro. Die Folge: Konkurrenz zwischen Krankenhäusern.
Durch die Einführung der Fallpauschalen sollten Krankenhäuser effizienter wirtschaften und sowohl die Bettenzahl als auch die Aufenthaltsdauer von Patient:innen reduziert werden, um die Krankenkassen zu entlasten. Die entsprechenden Zahlen legen nahe, dass diese Ziele mehr oder weniger erreicht wurden, doch zu welchem Preis? Mit Fallpauschalen erwirtschaften nämlich vor allem jene Krankenhäuser Gewinne, die viele und lukrative Behandlungen durchführen beziehungsweise anbieten. Kliniken, die weniger gewinnbringende Behandlungen praktizieren oder Patient:innen erst gehen lassen, wenn sie die Entlassung für vertretbar halten, haben das Nachsehen. Nehmen sie keine Einsparungen vor, droht ihnen die Schließung. Damit entsteht für Krankenhäuser der Anreiz, wenige kostenaufwendige Patient:innen zu behandeln und stattdessen andere eher abzuweisen.
Mitunter können Fallpauschalen für einen Einsatz von besserer OP-Technik und entsprechend damit erfahrenen Ärzten sorgen, wie beispielsweise hochauflösende Kameras in der minimalinvasiven Chirurgie zu geringeren Schmerzen und einer schnelleren Genesung der Patienten führen können. Das große Interesse der Kliniken an der geschäftlichen Seite der Medizin kann jedoch bei Patient:innen auch ein gewisses Misstrauen gegenüber ihrer Behandlung zur Folge haben. Es gibt zumindest Indizien, die das nahelegen. So ist etwa auch die Steigerung der Fallzahlen ein Mittel, höhere Gewinne zu erzielen. Unnötige Behandlungen sind eine mögliche Folge: Kniegelenksoperationen zum Beispiel nahmen zwischen 2005 und 2018 um die Hälfte zu, während die potenziell von kaputten Knien betroffene Bevölkerungsgruppe nur um acht Prozent anwuchs. Dem Bündnis »Krankenhaus statt Fabrik« zufolge habe es nicht derart große medizinische Fortschritte gegeben, die einen solchen Anstieg begründen würden. Das lasse sich an den wissenschaftlich-medizinischen Leitlinienempfehlungen des jeweils zuständigen Fachbereichs ablesen, die sich in diesem Zeitraum faktisch nicht veränderten. Im gleichen Zeitraum stieg auch die Zahl der Hüftgelenk-OPs um etwa ein Viertel. Kaiserschnitte nahmen seit dem Jahr 2000 um rund 40 Prozent zu, obwohl in der Zwischenzeit die Geburten rückläufig waren. Es geht noch folgenschwerer: Das Diabetische Fußsyndrom ist eine Krankheit, die mit verschiedenen konservativen Behandlungsmöglichkeiten therapiert werden kann. Ziel ist es dabei, das Bein zu erhalten. Erst wenn diese nichtoperativen Behandlungen keinen Erfolg haben, muss das Bein abgenommen werden. Das DRG-System schafft aber den Anreiz, eher die Amputation durchzuführen, denn dafür bekommt die Klinik über 10.000 Euro – für die konservative Therapie nur etwa 2.500. Außerdem sieht der DRG-Katalog dafür nur eine Behandlungszeit von maximal 13 Tagen vor – zu wenig für eine erfolgreiche Therapie.
Computer schlägt Alarm, wenn Patient zu teuer wird
Die Ökonomisierung der Krankenhäuser wurde durch verschiedene Finanzierungsreformen in den 1990er-Jahren eingeleitet. Das Fallpauschalensystem Anfang der 2000er schließlich zwang die Kliniken, noch kosteneffizienter zu arbeiten. Seitdem werden Patient:innen so früh es geht entlassen, um Betten schnellstmöglich mit neuen Patient:innen belegen zu können. Zwischen 1991 und 2019 sank nicht nur die Bettenzahl, sondern auch die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von Patient:innen von 14 auf sieben Tage. Das hängt mitunter damit zusammen, dass jede Fallpauschale pro Behandlung eine maximale Aufenthaltsdauer vorsieht – das gab es vorher nicht. Auf Stationscomputern gibt es mittlerweile Ampeln, die signalisieren, sobald Patient:innen ab einer bestimmten Liegezeit Verluste verursachen. Der Druck, ständig effizienter zu arbeiten, belastet die Krankenhausbelegschaft umso mehr, je weniger Personal es gibt. Das wirkt sich unweigerlich auch auf die Qualität der Behandlung aus.
Diese ist laut Gesundheitswissenschaftler Michael Simon bei den Pauschalen nämlich nicht einkalkuliert. Daten zur »Strukturqualität«, gemeint ist die Personalausstattung pro Station, fließen dort etwa nicht mit ein. Die Folge: Personaleinsparung. Besonders drastisch traf das die Pflegedienste. Aktuell fehlen deutschlandweit mindestens 100.000 Pflegekräfte. Der Pro-Kopf-Vergleich mit Dänemark, Norwegen und der Schweiz ergibt sogar einen Mehrbedarf von 160.000 bis 270.000 Vollzeitkräften, um auf deren Niveau zu kommen, rechnet der Forscher der Hochschule Hannover vor. Prognosen zufolge wird sich die Situation noch weiter verschärfen. Laut der Präsidentin des Deutschen Pflegerats, Christine Vogle, werden 2030 rund 500.000 Pflegekräfte fehlen. Simon wendet zwar ein, dass seit 2002 immerhin deutlich mehr Ärztinnen und Ärzte eingestellt wurden. Da innerhalb des Fallpauschalensystems die Ausgaben aber gedeckelt sind, mussten an anderer Stelle Kosten gespart werden. Das technische Personal und das Servicepersonal etwa lagerte man in Tochterfirmen mit schlechterer Bezahlung aus.
Michael Simon zufolge hat das DRG-System die Privatisierung im Krankenhauswesen befördert. Seit 2009 gibt es weniger Allgemeinkrankenhäuser in öffentlicher Hand als in privater. 1991 waren knapp 15 Prozent aller Krankenhäuser privat. Bis 2019 stieg dieser Anteil auf knapp 38 Prozent. Laut Simon haben die Privatisierungen den Personalkostendruck bei der Finanzierung der Krankenhäuser nämlich erhöht. Zwar stünden alle Krankenhäuser, egal ob öffentlich, freigemeinnützig oder privat finanziert, unter einem Kostendruck. Private Träger seien aber praktisch gezwungen, Gewinne zu erzielen.
So bekommt Pflegepersonal mehr Gehalt
Simon empfiehlt, das DRG-System abzuschaffen und zum alten Bezahlsystem zurückzukehren: dem sogenannten Selbstkostendeckungsprinzip. Seit 1972 hatten die Krankenkassen den Kliniken die tatsächlich angefallenen Kosten erstattet. Kritiker wandten Anfang der 1990er-Jahre ein, dass dieses System den Krankenhäusern Anreize biete, mehr Patient:innen aufzunehmen und sie unnötig lange zu behandeln. Die Sorge vor ausufernden Kosten führte schließlich dazu, dass man das Prinzip abschaffte. »Krankenhaus statt Fabrik« zufolge hatte die befürchtete Kostenexplosion aber nie stattgefunden. Den Krankenkassen fehlten zu jener Zeit zwar Einnahmen, allerdings nur, weil die Versicherungsbeiträge aufgrund hoher Arbeitslosigkeit und geringer Lohnzuwächse niedrig waren. Zugleich sank die Aufenthaltsdauer von Patient:innen in den Jahren, in denen das Selbstkostendeckungsprinzip galt. Nicht zu vergessen: Krankenkassen haben ein Kontrollrecht. Entstehen unwirtschaftliche, etwa medizinisch nicht notwendige Kosten, müssen die Kassen sie nicht übernehmen. Mehrkosten wären für sie also kaum entstanden.
Eine neue Regelung sollte die Personalfrage zuletzt entspannen. Nach dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz werden seit 2020 die Pflegekosten aus dem DRG-System ausgegliedert. Das heißt, dass sie wieder nach den tatsächlich aufgewendeten Kosten abgerechnet werden. Das Ziel: die Bekämpfung des Pflegenotstands. Gewerkschaften, der Deutsche Pflegerat und die Deutsche Krankenhausgesellschaft begrüßen die Ausgliederung, die Krankenkassen hingegen halten sie für unnötig, weil es in Deutschland genug Pflegekräfte gäbe. Andere vermuten einen Missbrauch der Umstellung. Krankenhäuser könnten versuchen, auch andere Beschäftigtengruppen oder Tätigkeiten im Pflegebudget unterzubringen, um mehr Geld zu erhalten. Arbeiten wie etwa die Raumpflege könnten wieder auf die Pflegekräfte übertragen werden. Bestätigt haben sich diese Befürchtungen bislang allerdings nicht. Die Ausgliederung der Pflegekosten betrifft übrigens auch nicht alle Pflegekräfte, sondern nur die Pflege am Bett. Jene in der Radiologie, im OP oder im Service werden weiterhin über Fallpauschalen abgerechnet.
Grundsätzlich entstand mit der Ausgliederung der Pflegekosten Spielraum für mehr Pflegepersonal. Solange die Arbeitsbedingungen in der Pflege jedoch prekär sind, bleibt der Job für viele unattraktiv – selbst für jene, die aufgrund des Berufsbildes gerne in die Pflege einsteigen würden. Etwa 30 Prozent der Pflegeauszubildenden brechen allein aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen ab. Dem Willen von Arbeitgebern, Arbeitsbedingungen zu verbessern und mehr Personal einzustellen, muss oft nachgeholfen werden. Was gesetzlich bisher nur begrenzt reguliert wurde, erstritten sich zuletzt die Pflegekräfte der Berliner Charité und der Vivantes-Kliniken selbst. Nach langen Bemühungen einigte man sich auf bessere Arbeitsbedingungen: Zur Entlastung werden beispielsweise mehr Pflegekräfte eingestellt, der Personalschlüssel für bestimmte Stationen verbessert und ein Ausgleichssystem etwa für unterbesetzte Schichten eingeführt. Reinigungskräfte, Küchenpersonal oder Instandhalter, die bei Vivantes über Tochterunternehmen beschäftigt sind, werden annähernd auf das Tarifniveau des öffentlichen Dienstes gehoben.
Transparenzhinweis: Auf der Grafik "Bruttoverdienst von Vollzeitkräften" fehlt der Wert für Krankenpflegefachkräfte in Bremen. Es sind 3.730 Euro.
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Seit 2020 Redakteur bei KATAPULT.