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Als die Alternative für Deutschland (AfD) 2017 in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, galt dies vielen Beobachter:innen aus Politik und Medien als Zäsur. Denn was der rechtsradikalen NPD immer verwehrt blieb, gelang der AfD: als Partei rechts der CDU/CSU ins bundesdeutsche Parlament einzuziehen. Aber: Welche politischen Positionen kamen mit der Partei in den Bundestag? Wer saß nun in der Fraktion? Rechtsradikale, gar Rechtsextreme, nationalistische Europaskeptiker:innen oder doch nur Konservative, denen die Union unter Angela Merkel zu fortschrittlich geworden war? Die Redaktion von ZEIT ONLINE nahm diese Fragen 2017 zum Anlass, die Mitglieder der AfD-Bundestagsfraktion in Kategorien einzuordnen. Ergebnis: Von 92 Abgeordneten ließen sich 30 als “nationalkonservativ” klassifizieren, 13 konnten dem „ultrarechten“ Lager zugeordnet werden, 16 galten den Redakteur:innen zufolge als “gemäßigt” und bei 33 war die Orientierung zum damaligen Zeitpunkt „unbekannt“.
Das Problem der damaligen Analyse: Was genau sich hinter den Kategorien verbarg, war nicht klar. Außerdem waren die Kategorien nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen. Die damalige AfD-Politikerin Frauke Petry etwa galt dem ZEIT-ONLINE-Team als Führungsfigur der Gemäßigten. Jene Frauke Petry, die 2016 gefordert hatte, die europäischen und deutschen Außengrenzen notfalls mit der Schusswaffe zu verteidigen - und damit eine Position einnahm, die zwar nicht jenseits des Gesetzes lag, von Jurist:innen im Falle geflüchteter Menschen aber allenfalls als theoretisches Gedankenspiel abgetan wurde.
Andere Abgeordnete wurden von ZEIT ONLINE als „nationalkonservativ“ beschrieben. Der Unterschied zu den Ultrarechten ist aber unklar. Martin Reichardt etwa, den die Autor:innen als engen Verbündeten des ultrarechten André Poggenburg und des Flügel-Chefs Björn Höcke bezeichneten, fand sich im nationalkonservativen Lager wieder. Ebenso Enrico Komning aus Mecklenburg-Vorpommern, überzeugtes Mitglied der Burschenschaft Rugia in Greifswald. Diese wird zusammen mit der ebenfalls in der Hansestadt ansässigen Burschenschaft Markomannia Aachen vom Verfassungsschutz MV wegen rechtsextremer Umtriebe beobachtet. Wo lässt sich Komning also letztlich zuordnen? Noch deutlicher gefragt: Wo hört der Nationalkonservatismus auf und wo fängt das ultrarechte Denken an?
Die weit gefassten Kategorien dürften auch darauf zurückzuführen sein, dass man zum damaligen Zeitpunkt teilweise einfach nicht mehr über die Partei und ihre Abgeordneten wusste. Mittlerweile ist die Lage eine andere. Denn nach vier Jahren im Bundestag voller öffentlicher Reden, nach vier Jahren voller Wahlkampfauftritte und unzähligen Beiträgen auf den bekannten Social-Media-Plattformen sind Orientierungen deutlich zu sehen. Was ist mit denjenigen geworden, über die wenig bekannt war? Was mit denen, die bereits damals als extrem galten? Und: Mit welchen Begriffen lassen sich die Mitglieder der Fraktion heute am besten beschreiben?
Rechtsextreme, Verdachtsfälle und Moderate
Um diese Fragen beantworten zu können, sind Kategorien notwendig. Eine Unterscheidung, die in der Extremismusforschung ebenso verwendet wird wie beim Verfassungsschutz, ist jene zwischen Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus. Was verbirgt sich hinter beiden Konzepten? Extremismus, ob von links oder rechts, ist immer auf die freiheitlich demokratische Grundordnung bezogen. Extremistische Akteure wollen diese Grundordnung beseitigen. Das Ziel ihrer Politik ist also ein neues politisches System, in manchen Fällen auch eine neue Gesellschaftsstruktur. Im Zentrum der rechtsextremistischen Vision stehen ein aggressiver Nationalismus, ein rassistisches Verständnis des Volkes, eine gewaltbereite Fremdenfeindlichkeit, die Ablehnung der Meinungsfreiheit und der Vielfalt von Lebensformen sowie die Abwertung der bestehenden Akteur:innen und Institutionen - etwa des Rechtsstaates oder des Parlaments. Hinzukommen kann eine Verklärung beziehungsweise Verharmlosung des Nationalsozialismus.
Ein Beispiel für Rechtsextremismus ist eine Aussage des AfD-Abgeordneten Marc Jongen. Er gilt als philosophischer Vordenker der Partei und sagte in einem Interview mit der ZEIT: „Der Pass allein macht noch keinen Deutschen.“ Das ist tendenziell rechtsextrem. Zum einen stellt Jongen damit das bestehende Rechtssystem infrage, demzufolge der Pass allein sehr wohl einen Deutschen macht. Zum anderen liegt dieser Aussage offensichtlich ein Volkskonzept zugrunde, das sich zuallererst über ethnische oder kulturelle Kategorien auszeichnet, nicht über den Rechtsstatus. Kurz: Rechtsextreme wie Jongen argumentieren nicht mehr innerhalb der freiheitlich demokratischen Grundordnung, wie sie im Grundgesetz formuliert ist.
Rechtsradikale hingegen bewegen sich durchaus noch im Rahmen des Grundgesetzes. Sie streben zwar durchaus fundamentale Umwälzungen etwa des ökonomischen Systems an – die jedoch nicht zwangsläufig gegen die Verfassung verstoßen müssen.
Wie haben wir die einzelnen Parteimitglieder eingeordnet?
Statt die Unterscheidung zwischen extremistisch und radikal aufzugreifen, verwenden wir jedoch die Kategorien von Extremen und Verdachtsfällen. Warum? In mehreren Bundesländern wird die AfD vom jeweiligen Landesverfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft. Auch die Bundespartei wurde als rechtsextremistischer Verdachtsfall gelistet. Sie darf aufgrund eines Gerichtsurteils aber noch nicht mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet werden. Dies wird frühestens Anfang 2022 der Fall sein. Offensichtlich bewegen sich also Mitglieder der Partei im rechtsextremen Spektrum. Diejenigen, die nur vereinzelt rechtsextrem auffallen, sind für uns vor diesem Hintergrund nicht “radikal”, sondern verdächtig, ebenfalls „extremes“ Gedankengut zu befürworten. Aufgrund dessen haben wir uns für die Unterscheidung zwischen Extremen und Verdachtsfällen entschieden.
Dabei reicht es nicht, wenn es zu einer einmaligen Handlung oder Entgleisung durch einen Abgeordneten kam – es sei denn, diese erreichen eine bestimmte Qualität. Wer den Nationalsozialismus verherrlicht, Mord- und Gewaltphantasien äußert, innerhalb des völkischen „Flügels“ um Björn Höcke aktiv ist oder mit der NPD oder der Identitären Bewegung paktiert, den kategorisieren wir unmittelbar als rechtsextrem. Anderes verhält es sich mit dem Propagieren von Verschwörungstheorien, der Nutzung einer enthemmten Sprache, Islam- und Frauenfeindlichkeit, Rassimus oder NS-Verharmlosung. Diese stufen wir lediglich als Indizien für eine extremistische Einstellung ein. Sie müssen aber mit einer gewissen Kontinuität bei einem Abgeordneten zu beobachten sein, damit er von uns als Extremist eingestuft wird.
Neben diesen beiden Kategorien identifizieren wir moderate Kräfte innerhalb der AfD-Bundestagsfraktion. Der Verteidigungsexperte und ehemalige Oberst der Reserve Gerold Otten beispielsweise lässt sich kaum als gesichert extremistisch oder als Verdachtsfall bezeichnen. Im Vergleich zu anderen Parteimitgliedern agiert er auf seinem Facebook-Account rhetorisch zurückhaltend. Wo andere ein ums andere Mal von „System-“ oder „Altparteien“ reden, spricht Otten schlicht von „anderen Parteien“. Und wo andere die Bundeskanzlerin auch schon mal als „Merkelnutte“ beschimpfen, bescheinigt er ihr lediglich, im Rahmen einer Regierungserklärung zur Lage in Afghanistan nicht auf zentrale Fragen eingegangen zu sein - ein Vorwurf, den alle Oppositionsparteien regelmäßig äußern. Kurz: Sowohl inhaltlich als auch rhetorisch würde Gerold Otten auch in der CDU kaum auffallen. Wir kategorisieren ihn deshalb als „moderat“.
Aus 49 mach 29 - Die Moderaten
In absoluten Zahlen gibt es bei der AfD-Bundestagsfraktion heute sogar mehr Moderate als vor vier Jahren. Rechnete ZEIT ONLINE 2017 dieser Gruppe noch 16 Abgeordnete zu, sind es heute 29. Der Grund dafür ist die große Zahl derer, die ZEIT ONLINE damals als „unbekannt“ einordnen musste. Von diesen 33 Abgeordneten sind einige in den letzten Jahren nicht regelmäßig durch extremistische Aussagen oder Handlungen aufgefallen. Diese ordnen wir demnach dem gemäßigten Lager zu. Aber auch die Moderaten fallen regelmäßig durch grenzwertiges Verhalten auf. So hat etwa Berengar Elsner von Gronow einen NSDAP-Dichter zitiert, um seinen eigenen Patriotismus zu betonen. Jochen Haug und Rüdiger Lucassen aus Nordrhein-Westfalen sprachen sich gegen die Einleitung eines Parteiausschlussverfahrens gegen den NRW-Landesvize Matthias Helferich aus. Letzterer war durch Chatprotokolle aufgefallen, in denen er sich als „freundliche[s] Gesicht des ns“ oder „demokratischer Freisler“ bezeichnete. Ein weiterer Fall aus der Grauzone ist Jan Nolte. Als radikal oder extrem fällt er nicht auf, beschäftigte aber einen als rechtsextrem eingestuften Mitarbeiter, an dem er auch nach Bekanntwerden jener Einstufung festhielt. Überdies posiert er öffentlichkeitswirksam in Klamotten der Marke Peripetie, die als Label der neuen Rechten gilt. Björn Höcke beispielsweise posierte im Peripetie-Shirt. Unter dem Post schrieb das Label: „Trage, was Du fühlst!“ Was Höcke fühlt, ist bekannt: Öffentliche Reden beendet er schonmal mit der Losung “Alles für Deutschland”. Diese wurde in Nazideutschland auch verwendet - von der SA.
Die Verdachtsfälle
Einigen Abgeordneten, die 2017 ins Parlament einzogen, sind Partei und Fraktion im Laufe der Zeit jedoch zu weit nach rechts gerückt. Mit Lars Hermann, Verena Hartmann und Uwe Kamann traten gleich drei Personen aus der Fraktion aus, denen der Einfluss des rechtsextremen Flügel um Björn Höcke zu groß geworden war. Auch der von ZEIT ONLINE als gemäßigt eingestufte Bruno Hollnagel hat die Fraktion verlassen - allerdings ohne konkrete Gründe für diesen Schritt darzulegen. Insgesamt verlor die AfD-Fraktion seit dem Einzug in den Bundestag acht Mitglieder.
Andere 2017 noch nicht klar einzuordnende Abgeordnete haben sich dem Rechtsruck angeschlossen. Sie sind zu Verdachtsfällen geworden. Harald Weyel aus Bergisch-Gladbach beispielsweise fragt bei Wahlkampfveranstaltung in Anlehnung an den nationalsozialistischen Propagandaminister Joseph Goebbels schonmal, ob seine Zuhörerschaft die „totale Migration“ wolle, und sieht mit Blick auf den Ersten Weltkrieg als die einzige Schuld, die das deutsche Kaiserreich auf sich geladen habe, „die Niederlage selbst“. Geschichtsrevisionismus in Reinform. Der baden-württembergische Abgeordnete Marc Bernhard wiederum nahm nicht nur neben Björn Höcke am „Trauermarsch“ in Chemnitz Teil; er verglich die Proteste gegen die AfD auch mit der Situation kurz vor der Machtübernahme Hitlers. Bei Peter Felser ist es etwas komplizierter. Er äußerte sich vor seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter offen rechtsextrem. In den vergangenen vier Jahren blieb er diesbezüglich allerdings zurückhaltend. Felser pflegt allerdings auch gegenwärtig Verbindungen ins rechtsextreme Milieu. So soll Jane Schulz für Felser in dessen Heimatregion für die AfD junge Menschen vernetzen. Schulz ist ihrerseits unter anderem Aktivistin des „Bündnis deutscher Patrioten“, das immer wieder durch menschenfeindlicher Hetze gegen Geflüchtete auffiel.
Die Berliner Abgeordnete Birgit Malsack-Winkelmann machte mit fragwürdigen Social-Media-Beiträgen zum Thema Covid-19 von sich Reden, verbreitete gezielt falsche Informationen zum Pandemiegeschehen und warnte im Bundestag vor „Krankeitserreger-importierenden Migranten“. Auf dem von Rechten genutzten Online-Netzwerk Parler ist Malsack-Winkemann zudem in Kreisen unterwegs, die der QAnon-Verschwörung zuzurechnen sind. Auch der ehemals als gemäßigt bezeichnete Karsten Hilse steht der Querdenker-Bewegung nahe. Dieser trat sogar mit einem Querdenker-Slogan auf dem T-Shirt ans Rednerpult des Bundestages. Und auch Hilse hat fragwürdige historische Vergleiche aufgestellt: Die „Bürger von Bautzen“ würden heute ebenso für die Verbreitung einer „‚Seuche‘“ verantwortlich gemacht wie ehemals die jüdische Bevölkerung im Mittelalter, so Hilse. Robby Schlund posierte derweil lachend auf einer Querdenker-Demo in Berlin. Abgebildet auf seinem Plakat: der Virologe Christian Drosten - in Sträflingskleidung. Die Freiheit der Wissenschaft? Für Schlund offenbar verurteilenswürdig.
Einer, der sich 2017 nicht nicht zwischen radikaleren und gemäßigteren Stimmen entscheiden wollte, ist der frühere Sozialdemokrat Lothar Maier aus Stuttgart. 2021 fragt er auf Facebook: „Will Maas 30 Millionen ‚Schutzbedürftige‘ holen?“, um danach angesichts vor den Taliban flüchtender Mitarbeiter:innen der Bundeswehr zu prophezeien: “Mit der Evakuierung kommen abgeschobene Vergewaltiger zurück!“ Was zuerst wie gewöhnliches Social-Media-Gebrüll wirkt, ist ein Beispiel für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, werden doch Angehörige eines Staates unter Generalverdacht gestellt. Noch weiter treibt es Gottfried Curio. Dieser unterstellt, dass der UN-Migrationspakt, dem auch die Bundesrepublik beigetreten ist, auf eine „Umsiedlungs- und Ersetzungsmigration“ abziele, und Bundeskanzlerin Merkel und die „Linksgrünen“ sich auf diese Weise „still und heimlich ihr neues Volk“ schaffen möchten. Solche Aussagen erinnern nicht nur an die Rhetorik der verfassungsfeindlichen Identitären Bewegung - sie stehen auf demselben ideologischen Fundament. Was bei Curio „Ersetzungsmigration“ heißt, findet sich bei den Identitären unter der Verschwörungsideologie des „Großen Austausch“. Gemeint ist mit diesem Begriff das vermeintliche Vorhaben, die ursprünglich einheimische „Bevölkerung Europas durch gezielte Einwanderung insbesondere aus islamisch geprägten Ländern zu ersetzen.“
Und die Fraktionsführung? Die Co-Vorsitzende Alice Weidel hat in der Zwischenzeit jede Distanz zum Flügel von Björn Höcke aufgegeben. Der Flügel, so Weidel, „ist eine ganz wichtige Strömung innerhalb der Partei“ - und laut Verfassungsschutz gesichert rechtsextrem. Noch weiter hat es allerdings der andere Vorsitzende der Fraktion, Alexander Gauland, getrieben.
Die Rechtsextremen
Er präsentierte sich in den vergangenen vier Jahren gerne als konservativer Staatsmann. Doch seine Aussagen sind extrem. So fantasierte Gauland kurz nach der Bundestagswahl 2017 davon, die SPD-Politikerin Aydan Özuguz „in Anatolien entsorgen [zu] können“. Ein Jahr später forderte er, die Nazizeit dürfe nicht überbewertet werden, sie sei ein „Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“. Und auch an die rechtsextreme Verschwörungsideologie vom „Bevölkerungsaustausch“ knüpfte Gauland an. Hatte er in einem Interview aus dem Jahr 2016 Mitgliedern der rechtsextremen Identitären Bewegung noch empfohlen, der AfD beizutreten, so übernahm der heutige Ehrenvorsitzende zwei Jahre später also zumindest deren Rhetorik.
Noch weniger subtil gibt sich der Abgeordnete Stephan Protschka. Dieser hielt es nach der Bundestagswahl nicht für nötig, aus Facebook-Gruppen auszutreten, in denen neonazistische Parolen verbreitet wurden - und ist dieser Linie ganz offensichtlich treu geblieben. Noch im August 2021 wetterte er im Rahmen einer Wahlkampfrede gegen „rote Zecken“, bezeichnete Journalisten als „Abschaum“ und verwendete das N-Wort. Martin Hohmann, der bereits als CDU-Abgeordneter durch fragwürdige Äußerungen zu den Juden und Jüdinnen als „Tätervolk“ aufgefallen war, fragte 2018, ob „Türken in der Nationalmannschaft sein [müssen]“ - eine ganz offensichtlich völkische Aussage.
Und der ehemalige Spitzenkandidat der AfD in Nordrhein-Westfalen, Martin Renner, meinte nach der gewaltsamen Erstürmung des US-amerikanischen Kapitols in Washington, D.C., dass die AfD in Deutschland „den gleichen politischen Kampf” führe wie Donald Trump in den Vereinigten Staaten von Amerika. Allerdings sei die „Bereitschaft zur gewaltsamen Aktion” in einer Demokratie nicht zu akzeptieren. Im soziologischen Sinne nachvollziehbar scheint die aus der „Ohnmacht” einfacher Bürger:innen unter Umständen resultierende „Wut” für Renner aber zu sein.
Fragwürdiger als jene Einlassungen zur US-amerikanischen Innenpolitik ist freilich Renners Einschätzung der eskalierenden und teilweise gewalttätigen Querdenken-Proteste, die im August 2020 zur Besetzung der Reichtagstreppe führten. Im Vergleich zu den Vorkommnissen in Washington, D.C. seien diese „vollkommen lächerlich“ gewesen. Dass Erstere den Bogen des in freiheitlich demokratischen Grundordnungen Tolerierbaren noch weiter überspannten als die Ereignisse in Berlin, dürfte unbestritten sein. „[V]ollkommen lächerlich“ ist eine derartige Grenzüberschreitung darum nicht - auch nicht im Vergleich.
Auch erinnerugspolitisch steht Renner im rechtsextremen Lager der AfD, ist inhaltlich auf einer Linie mit Björn Höcke, der bekanntermaßen für eine radikale erinnerungspolitische Wende in der Bundesrepublik plädiert. In welche Richtung diese vollzogen werden sollte, lässt eine Formulierung Renners aus dem Jahr 2019 vermuten. Damals hatte er im Bundestag beklagt, dass das „Aufzwingen einer maßlos überbetonten kulturellen Vielfalt“ über dem bundesdeutschen Kulturetat liege wie „Krematoriumsasche”.
Noch einen Schritt weiter ging Johannes Huber. Dieser stellte direkt die gesamte politische Ordnung der Bundesrepublik infrage. So zweifelte er die Legitimität des Grundgesetzes als Verfassung an und sah die Volkssouveränität nicht gewährleistet. Begründung: unzureichende direktdemokratisch Verfahren. Die für moderne Demokratien charakteristischen repräsentativen Mechanismen scheinen für ihn kaum ins Gewicht zu fallen. Auf diese Weise verfrachtete sich Huber namentlich in das Gutachten des Verfassungsschutzes zum Prüffall AfD. Auch in verfassungsfeindlichen Telegram-Gruppen waren Beiträge Hubers zu finden. Selbst eingestellt haben, will sie der Abgeordnete nicht - gegen die Verbreitung könne er jedoch nichts tun.
Nicht gegen die repräsentative Ordnung wohl aber gegen die Bundeskanzlerin wollte Stefan Keuter schießen. Mit dem Luftgewehr sei diese im Zweifelsfall zu holen, wie er 2018 singend bei einer Demonstration in Berlin verkündete. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen zwar ein. Sie zweifelte nicht an, dass Keuter das entsprechende Lied zum Besten gegeben hatte. Aber die Behörde stellte infrage, dass man „denjenigen, der die Drohung ausspricht, auch ernst nehmen“ könne. Dies ist angesichts des rechtsextremistischer Morde in der Bundesrepublik eine bemerkenswerte Aussage. Dessen ungeachtet bleibt es mehr als fragwürdig, dass ein Bundestagsabgeordneter unverblümt mögliche Gewalt gegen die demokratisch legitimierte Regierungschefin gutheißt.
Andere Abgeordnete galten bereits 2017 als „ultrarechts“ - und sind es bis heute. Der sächsische Abgeordnete Jens Maier beispielsweise fiel in der letzten Legislaturperiode durch rassistische Beiträge auf seinem Twitteraccount auf. Angeblich soll dafür ein Mitarbeiter und gar nicht Maier selbst verantwortlich sein. 7.500 Euro Schmerzensgeld zahlte Maier dem rassistisch beleidigten Kläger trotzdem. Unter anderem wegen solcher Ausfälle wird Maier vom sächsischen Verfassungsschutz als „rechtsextrem“ eingestuft. Wir teilen diese Einschätzung.
Mit Andreas Mrosek und Wilhelm von Gottberg gibt es nur zwei 2017 als „ultrarechts“ eingestufte Abgeordnete, die sich seither weitgehend unauffällig benahmen - abgesehen von der Beschäftigung äußerst fragwürdigen Personals im Falle Mroseks. Mrosek und von Gottberg werden von uns dementsprechend nicht als extrem eingeordnet.
Wie geht es dem Parlament nach vier Jahren AfD?
Aber: Was heißt heute, 2021, nach vier Jahren AfD in der Bundespolitik überhaupt noch „unauffällig“? Das Klima im Bundestag hat sich seit 2017 verändert. In den letzten vier Jahren wurden mehr Ordnungsrufe ausgesprochen als in den vier vorangegangenen Legislaturperioden zusammengenommen. Allein im vergangenen Jahr lag die Zahl bei 20. In zwei Dritteln der Fälle waren die zur Ordnung Gerufenen Abgeordnete der AfD-Fraktion.
Auch in anderer Hinsicht ist der Umgang rauer geworden. Frauen aus allen Fraktionen außer der AfD berichten einer Umfrage des Spiegel zufolge von einer frauenfeindlichen Stimmung im Parlament. Zu dieser trage vor allem die AfD bei. Abgeordnete der FDP - im Plenum neben der AfD angesiedelt - berichten etwa von Gegacker und angedeutetem Flügelschlagen aus den Reihen der AfD, um sich über die Politikerinnen lustig zu machen. Und AfD-Rechtsaußen Jens Kestner meinte gegenüber der FDP-Politikerin Agnes Strack-Zimmermann, dass sie sich doch wie ein Mann verhalten solle, wenn sie schon so aussehe. Diese Begebenheiten fügen sich in das Frauenbild einer Fraktion ein, deren Mitglieder mit Blick auf Gleichstellungspolitik auch schonmal von „Gleichstellungstotalitarismus“ sprechen.
Und auch jenseits dieser verbalen Ausfälle ist das Verhalten der AfD im Bundestag problematisch. An konstruktiver Zusammenarbeit, so eine Analyse des Deutschlandfunk, sei die Fraktion nicht interessiert. Es ginge stattdessen darum, die anderen Parteien und deren Abgeordnete vorzuführen.
Vollständig torpediert wird die Arbeit des Bundestages durch die AfD trotzdem nicht. So sollen die AfD-Abgeordneten in den Ausschüssen deutlich gemäßigter auftreten - und ein wesentlicher Teil der parlamentarischen Arbeit in Deutschland findet in diesen Ausschüssen statt. Allerdings handelt es sich beim Bundestag eben nicht um ein reines Arbeitsparlament, sondern um eine Mischform aus Arbeits- und Redeparlament. Was im Plenum diskutiert und verhandelt wird, ist also wichtig. Wichtig ist auch, wie diskutiert und verhandelt wird. Schließlich sind die Plenardebatten der Teil parlamentarischer Arbeit, der für die Öffentlichkeit am sichtbarsten ist. Der AfD-Fraktion liegt an der Außenwirkung des Bundestags als Ganzem jedoch nichts. Angesichts der 56 rechtsextremen beziehungsweise rechtsextremistischem Gedankengut zuneigenden Abgeordneten in der AfD-Fraktion ist das nur konsequent. Rechtsextreme versuchten schon immer, Parlament und parlamentarische Demokratie abzuwerten und zu überwinden. Wer am 26. September AfD wählt, stimmt also gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung. Wer am 26. September AfD wählt, wählt Rechtsextreme in den Bundestag.
Mitarbeit: Lilly Graschl, Patricia Haensel, Juli Katz, Jan-Niklas Kniewel, Ole Kracht, Daniela Krenn, Fahima Makanga, Tabea Stock
Und wie sieht es auf der Landesebene aus? KATAPULT MV hat sich die AfD-Landtagsfraktion genauer angeschaut. Zum Artikel.
Richtigstellung
In einer Ursprungsversion hatten wir behauptet, dass Martin E. Renner, die gewaltsame Erstürmung des US-amerikanischen Kapitols in Washington, D.C. vom 6. Januar 2021 begrüßte habe. Auch hatten wir geschrieben, dass der „Sturm auf das Kapitol“ für Renner „nichts anderes als der Tag der Rache und ein ‚Menetekel für alle öko-sozialistischen, globalistischen, dem Korporatismus huldigenden Staatswesen der westlichen Welt – so auch für Deutschland‘“ gewesen sei. Beides trifft nicht zu.
Martin E. Renner hatte bereits am 5. Januar mit Blick auf die für den 6. Januar vorgesehene formale Bestätigung des Wahlsieges Joe Bidens durch den US-Senat und das US-Repräsentantenhaus von einem unter Umständen zu erwartenden „Tag der Rache“ gesprochen. Von den gewaltsamen Ausschreitungen am 6. Januar konnte er zu diesem Zeitpunkt aus logischen Gründen nichts wissen.
Die Redaktion
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Autor:innen
Geboren 1986, ist seit 2020 Redakteur bei KATAPULT. Er hat Politikwissenschaft und Geschichte in Freiburg und Greifswald studiert und wurde mit einer Arbeit im Bereich Politische Ideengeschichte promoviert. Zu seinen Schwerpunkten zählen die deutsche Innenpolitik sowie Zustand und Entwicklung demokratischer Regierungssysteme.
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