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Teil 1

Polen hat Millionen Geflüchteten geholfen. Aber wie?

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Was würdet ihr mitnehmen, wenn ihr flüchten müsst?

1.

In der zweiten Kriegswoche rief ich bei unserem Tierarzt an, doch die Leitung war besetzt. Den ganzen Vormittag gelang es mir nicht durchzukommen.

Zum Glück ging es meinen beiden Katzen Gucio und Lucuś gut und mein Anliegen war prophylaktischer Natur – ich wollte Reisepässe für sie ausstellen lassen.

Erst später habe ich erfahren, dass sämtliche Tierarztpraxen überlastet waren. Die Vordrucke für die Heimtierausweise waren im ganzen Land knapp, entsprechend verlängerte sich die Wartezeit erheblich. Das war nicht nur auf die hohe Nachfrage von Geflüchteten mit Tieren zurückzuführen, sondern vor allem auf den Massenansturm von Polen, die ihren tierischen Lieblingen Pässe ausstellen lassen wollten – „für alle Fälle“. Eine Maßnahme, der sicher eine Frage vorausging, die viele von uns sich gerade zum ersten Mal stellten: Was würdet ihr mitnehmen, wenn ihr flüchten müsst?

Für mich war die Sache klar: Katzen, Dokumente, Laptop – in dieser Reihenfolge.

2.

Ein paar Tage nach der russischen Invasion wurde ich morgens von einer SMS geweckt. Meine Tante, die seit 30 Jahren in Italien lebt, wollte wissen, ob ich jemanden kenne, der über die Lage an der Grenze Bescheid wisse (von welcher Grenze die Rede war, lag auf der Hand). Eine Freundin von ihr versuche nämlich, zwei Frauen mitsamt Kindern aus Kiew nach Norditalien zu holen. Ich versprach, mich um Hilfe zu kümmern, und erlaubte ihr, meine Telefonnummer weiterzugeben.

Bereits einen Augenblick später rief A. an. Wir telefonierten auf Italienisch, da ich als Polin kein Ukrainisch und sie als Ukrainerin kein Polnisch sprach.

Wie sich herausstellte, saßen ihre beiden Freundinnen längst im Zug und waren schon fast an der Grenze, „in zwei Stunden sollten sie da sein“, zwei Frauen, drei Kinder und ein Hund. Jemand musste sie in Przemyśl abholen, eine Übernachtung in Krakau für sie organisieren und sie am nächsten Tag zum Flughafen bringen, von wo aus es weiter nach Italien gehen sollte.

Ich habe weder einen Führerschein noch ein Auto. Der Zug war zwar eine Option, zumal Geflüchtete bei uns kostenlos fahren durften, aber das wollte ich den Frauen nach 48 Stunden Reise mit Kindern und einem Tier nicht zumuten. Also rief ich beim Hilfszentrum in Krakau an, das zu der Zeit hauptsächlich von Freiwilligen und NGOs betrieben wurde, Probleme wurden hier zunehmend schnell und unkompliziert gelöst. Man sagte mir, dass im Moment keine Fahrer für Transporte aus dem Osten zur Verfügung stünden, aber sobald die Frauen in Krakau eingetroffen seien, könnten sie für die Nacht in einer Sammelunterkunft untergebracht werden. Sollten sie in Polen bleiben wollen, könnten sie am nächsten Tag eine Unterkunft aus der Fülle von Angeboten von Menschen, die sich bereit erklärt hatten, ein oder mehrere Zimmer ihrer Wohnung für Geflüchtete zur Verfügung zu stellen, in Anspruch nehmen.

Ich lehnte dankend ab, weil ich der Meinung war, dass die Übernachtung in einer Sammelunterkunft den Menschen vorbehalten bleiben sollte, die alleine und ohne irgendwelche Kontakte nach Polen kamen.

Ich postete ein Hilfegesuch auf Facebook (wir Polen regeln alles über Facebook, es ist unsere Kommunikationsplattform Nummer 1). Ob jemand die Frauen mit ihren Familien abholen und sechs Menschen bei sich aufnehmen könnte? In meiner eigenen kleinen Wohnung konnte ich höchstens drei Personen einen Schlafplatz anbieten, und weil ich Katzen habe, kam auch der Hund nicht infrage.

In der nächsten halben Stunde bekam ich ein Dutzend Anrufe und Nachrichten von hilfsbereiten Menschen. Ein junger Mann, der seit Tagen zwischen den Grenzübergängen und Krakau pendelte, erklärte mir, dass man die Frauen „frühestens am Nachmittag“ abholen könne, wenn sie die Grenze wirklich noch nicht überquert hätten.

Ich kommunizierte über WhatsApp mit R., einer der Frauen im Zug. Wir schrieben auf Ukrainisch, der Google Übersetzer vermittelte. Die Frauen versuchten, mir ihren Standort zu schicken, aber in der Ukraine hatte man sämtliche Ortungsdienste abgestellt, um dem russischen Militär die Lokalisierung größerer Menschenmengen zu erschweren (einige Wochen später wurde der Bahnhof von Kramatorsk bombardiert, an dem Tausende Zivilisten auf ihre Fluchtmöglichkeit warteten).

Wie sich herausstellte, wurde der Zug nach Chełm umgeleitet. In den Grenzstädten gab es schon so viele Geflüchtete, dass die Züge direkt nach Zentralpolen fuhren, wo die Grenzkontrollen dann nachträglich durchgeführt wurden. Zum Glück hatte unser Fahrer Krakau noch nicht verlassen, die Streckenänderung stellte also kein Problem für ihn dar.

R. fragte mich, ob wir noch einen Platz für eine weitere Frau und ihre zwei Töchter hätten, mit denen sie sich im Zug angefreundet hatten. Sie war allein auf der Flucht und kannte niemanden, bei dem sie unterkommen könnte.

Ich rief bei dem Bekannten an, der den Transport organisierte. Seine Frau würde ihn in einem zweiten Wagen begleiten. Jetzt fehlte uns immer noch ein Auto.

Ich postete in die Facebook-Gruppe „Hilfe für die Ukraine: 🇺🇦 Допомога Україні: Unterkünfte und sonstige Hilfe“, die am 24. Februar erstellt worden war und im Laufe von nur wenigen Tagen einige Hunderttausend Mitglieder zählte.

„Wir brauchen noch heute einen Transport aus Chełm nach Krakau. Es geht um eine Mutter mit zwei Kindern. Sie kommen aus einer bombardierten Stadt. Die Kinder sind etwa 10 Jahre alt und stehen unter Schock. 🙏🙏🙏“

Wieder dauerte es keine 10 Minuten und ich hatte unzählige Hilfsangebote von Fremden im Postfach.

Ich telefonierte mit einer jungen Frau: „Ich kann zwar niemanden bei mir übernachten lassen, aber ich möchte trotzdem helfen. Mein Freund und ich würden mitkommen, damit die Frauen sich etwas sicherer fühlen, als wenn sie allein mit einem fremden Mann im Auto sitzen.“

***

Der Zug kam erst am späten Nachmittag an und die Passkontrolle zog sich ewig hin. Erst um 1.00 Uhr morgens hatten sie Krakau erreicht. Ein Teil der Gruppe kam bei mir unter, der Rest in der Wohnung eines Bekannten. Der Hund, ein weißer Bichon, wedelte freudig mit dem Schwanz, als er endlich für einen kurzen Moment aus dem Auto springen durfte.

Als A. und ihr Sohn völlig übermüdet die Wohnung betraten, lief meine gastfreundliche Katze Lucuś ihnen zur Begrüßung entgegen. Bevor sie sie streichelten, streckten sie ihr behutsam die Hände zum Beschnuppern hin. „Unsere Katzen haben wir zu Hause zurückgelassen.“

Wenig später nahm ich einen Anruf von der Bekannten entgegen, die sich auf Facebook bereit erklärt hatte, das dritte Auto zu fahren. Sie machte sich große Sorgen, ob die junge Frau, die sie in ihrem Auto transportiert hatte, in Italien wirklich gut aufgehoben sein würde. Würde ihr auch wirklich niemand etwas antun? War das Ganze sicher kein Betrug? Ich versuchte, sie zu beruhigen, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie sich überzeugen ließ. Sie hatte I. ihre Kontaktdaten auf einen Zettel geschrieben und sie gebeten, sich bei ihr zu melden, falls „irgendwas nicht in Ordnung sein sollte.“

***

Am nächsten Morgen fuhren wir zum Flughafen. In der langen Schlange ging es kaum voran. Die Mädels schauten sich auf Instagram ein Video aus dem bombardierten Kiew an und versuchten, die Orte zu identifizieren, die in Schutt und Trümmern lagen. „Das ist unsere Metrostation“, sagte eine plötzlich.

Der Hund, Arczi, saß brav in seiner Transporttasche und fiepte nur, wenn er sein Frauchen aus dem Blick verlor.

An den Papieren, die am Schalter kontrolliert wurden, war nichts auszusetzen. Impfpässe, Reisedokumente, die Papiere für den Hund, das leichte Handgepäck. Das Flugticket für Arczi war auch schon bezahlt. Meinte Tante hatte von Italien aus alles organisiert.

Der nette Kerl hinter dem Tresen bat uns, ihm die Transporttasche zu zeigen. Schlagartig veränderte sich sein Gesichtsausdruck.

„In diesem Ding kann der Kleine nicht fliegen.“

Obwohl er Polnisch sprach, hatte R. sofort verstanden, dass es ein Problem gab und warf mir einen besorgten Blick zu. Der Hundetransporter war ein nicht zugelassenes Modell, außerdem war er auf der Flucht aus Kiew aufgeplatzt. Am Flughafen gab es kein Geschäft, in dem man eine andere Transportbox hätte kaufen können. Bis zur Schließung des Gates blieb nicht mehr viel Zeit, es konnte also auch niemand mehr damit beauftragt werden, in der Stadt einen geeigneten Transporter zu besorgen.

R. brach in Tränen aus. Wir flehten den Mann am Schalter an, sie auf Ukrainisch, ich auf Polnisch, schließlich versuchten wir es beide auf Englisch. In unserer Verzweiflung schüttelten wir sogar die Sachen aus einer der weichen Taschen auf den Boden. Vielleicht könnte der Hund darin reisen? Der Mann, selbst den Tränen nahe, wandte sich hilfesuchend an seine Vorgesetzte. „Können wir nicht eine Ausnahme machen?“

Die Frau verneinte, die Tiere dürften nur in den zugelassenen Transportboxen ins Flugzeug geladen werden, aus Sicherheitsgründen.

R. musste sich entscheiden, ob sie ihren Hund oder ihre Kinder mitnimmt. Ich versprach ihr, mich um Arczi zu kümmern und ihn in den nächsten Tagen in einem Transporter zu ihr nach Italien zu schicken. Ich hielt ihr die Sätze auf dem Smartphone hin, die der Google Translator anzeigte. Die Menschen in der Schlange schauten uns schweigend an.

Ich begleitete R. noch zur Sicherheitskontrolle. Ihr kleiner Sohn weigerte sich, ohne seinen Hund weiterzureisen. Sie flüsterte ihm irgendwelche Erklärungen ins Ohr. Wir umarmten uns zum Abschied und sie machten sich auf den Weg zum Gate.

Ich nahm die Transporttasche und fuhr mit der Rolltreppe nach unten. Der Hund, dem langsam dämmerte, dass seine Familie in der Ferne verschwand, begann verzweifelt zu winseln. Ich setzte mich auf einen freien Platz im hinteren Teil der Ankunftshalle. Arczi weinte und ich weinte mit ihm.

Wieder postete ich auf Facebook. Ich musste mit dem Hund zurück in die Stadt und mit der kaputten Transporttasche konnte ich keinen Bus betreten. Außerdem war ich auf der Suche nach einer vertrauenswürdigen Person, die den Hund für ein paar Tage bei sich aufnehmen würde, bei mir konnte er wegen der Katzen ja nicht bleiben. Bereits eine halbe Stunde später saßen Arczi und ich im Auto einer Bekannten. Der Hund würde eine Woche lang bei ihr bleiben, denn so lange würde es dauern, bis wir ihn nach Italien schicken konnten. Er war gesellig und wirkte zufrieden, jeden Abend gab es WhatsApp-Kontakt mit der Familie und auf Spaziergängen konnte er die Krakauer Parks erkunden. Bald hatten wir eine sichere und kostenlose Mitfahrgelegenheit für ihn gefunden, natürlich über Facebook.

***

Alles was ich getan habe, war, andere um Hilfe zu bitten. Im Grunde habe ich nur ein paar Anrufe gemacht, die mich kaum Anstrengung kosteten. Es ging um eine Mitfahrgelegenheit, um eine Übernachtung. Nichts, was der Rede wert wäre.

Ganz anders meine Freunde und Bekannten, die tagelang zwischen der Grenze und Krakau hin- und herfuhren und auf Ukrainisch beschriftete Pappschilder hochhielten. Als Freiwillige engagieren sie sich Tag und Nacht, leisten Dienst an Hilfs- und Informationsstellen. Ihre Wohnungen haben sie nicht nur für eine Nacht, sondern für Wochen und Monate bereitgestellt. Viele leben immer noch mit Geflüchteten zusammen. Sie treiben Geldspenden ein, organisieren große Hilfstransporte oder fahren selbst in die Ukraine. Dabei wagen sie sich auch in militärisch umkämpfte Gebiete vor, um Hilfesuchende in Sicherheit zu bringen.

Etliche Hilfsorganisationen haben sich der Mission verschrieben, chronisch kranke, hospitalisierte und behinderte Menschen aus den Krisengebieten zu holen. Mit allen nur denkbaren Mitteln befreiten sie Zivilisten aus den Kellern der Städte, die unter Beschuss standen. Auch Tieren wurde geholfen, die unter dem Krieg ja nicht weniger leiden als die Menschen. Verschreckte Hunde, Katzen, Kaninchen, Hamster und Schildkröten wurden über die Grenze gebracht. Sogar Pferde und Tiger (der Zoo in Posen hat einen Transport aus einem Tierasyl bei Kiew organisiert). Eine Bekannte von mir kümmerte sich um zwei geflüchtete Katzen – die neugierige, rotfellige Loki und Mila, die bei jedem Versuch, sie in eine Transportbox zu stecken, vor Angst Durchfall bekam.

(Übersetzung: Alexandra Tobor)

Dominika Slowiks Roman Tal der Wunder ist im KATAPULT-Verlag erschienen.

Für Teil II geht's hier lang.

Authors

Dominika Słowik wurde 1988 in Jaworzno im südlichen Polen geboren. Der Roman Tal der Wunder (polnischer Originaltitel: Zimowla) wurde in Polen als literarisches Ereignis gefeiert. Sie gewann mit ihm 2019 den renommierten Kulturpreis Paszport Polityki in der Kategorie Literatur und war bereits mit ihrem Debüt Atlas: Doppelganger Finalistin des Gdynia Literary Award.

Alexandra Tobor kam 1989 als Achtjährige nach Deutschland und studierte Soziologie, Psychologie und Kunstgeschichte in Marburg. Heute lebt sie als Übersetzerin, Podcasterin und freie Autorin in Augsburg. In ihren autofiktionalen Romanen beschäftigt sie sich mit dem Aufwachsen zwischen Ostblock und dem goldenen Westen.

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