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Staatenlose Bergvölker in Südostasien

Zomia, das Bergland der Aussteiger

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Die meisten ethnischen Minderheiten in den Bergen Südostasiens leben zwar in Armut, abgeschnitten vom Rest der Welt, sind jedoch keineswegs von der Globalisierung unbehelligte, primitive Völker. Vielmehr handelt es sich um Nachkommen von Volksgruppen, die in die Berge flohen, um der Herrschaft der Königreiche Südostasiens zu entkommen.

Die Hochlandbewohner haben sich dem gesellschaftlichen Fortschritt moderner Staaten bewusst abgewandt, um in schwer zugänglichen Gebieten unter widrigen Bedingungen ihre Autonomie zu wahren. Sie haben sich »selbst barbarisiert« und gehören zu den letzten staatenlosen Völkern der Welt – diese Theorie veröffentlichte der amerikanische Anthropologe und Politikwissenschaftler James Scott 2009 und rückte die Bergvölker damit erstmals ins mediale Interesse.

Staaten schlucken kleine Völker

Staatenlose Gebiete gab es bis ins 18. Jahrhundert noch auf allen Kontinenten – also Regionen, in die der Einfluss größerer Königreiche oder moderner Staaten noch nicht vorgedrungen war. Meist lagen sie als eine Art Pufferzone zwischen angrenzenden Mächten oder in schwer zugänglichen Gebieten am Rand eines Staates, wie zum Beispiel in Berg-, Wüsten- oder Dschungelregionen. Formal gehörten diese Territorien zwar häufig zu Staaten, allerdings hatten diese de facto keinen Einfluss auf den Alltag der dort lebenden Menschen – sei es aus Desinteresse oder aus Mangel an logistischen Möglichkeiten, dort ihre Herrschaft dauerhaft durchzusetzen.

Mit dem technischen Fortschritt des 20. Jahrhunderts gelang es modernen Staaten jedoch, auch in schwer zugänglichen Grenzgebieten zu regieren. Scott erklärt das mit der Verbesserung der Kommunikations- und Transportmittel. Die Staaten konnten diese Regionen jetzt erschließen und sie begannen in vielen Fällen, ihre Außengrenzen zu militarisieren.

Die meisten zuvor staatenlosen Ethnien wurden so im Laufe der Zeit in moderne Staatsgebiete integriert und begannen, sich – freiwillig oder unter Zwang – an die dort vorherrschenden soziokulturellen Standards anzupassen. Das trifft beispielsweise auf die meisten Berbervölker in den Maghrebstaaten, die Inuit in Nordamerika, die Aborigines in Australien oder die verschiedenen indigenen Völker Lateinamerikas zu.

Häufig werden ethnischen Minderheiten innerhalb des Staatsgebietes gewisse Autonomie­rechte gewährt. Völlig staatenlose Völker und Stämme sind jedoch zur Ausnahme geworden.

Ganze Völker fliehen in die Berge

Als letzte noch »staatenlose« Region der Erde bezeichnet Scott ein Gebiet namens »Zomia«. Den Begriff führte der niederländische Anthropologe Willem van Schendel 2002 ein. Zomia liegt innerhalb des Südostasien-Massivs jeweils in den bergigen Grenzregionen von Thailand, Kambodscha, Vietnam, Laos, Myanmar, Indien und China. Es umfasst ungefähr 2,5 Millionen Quadratkilometer und damit ein Gebiet, das siebenmal so groß ist wie Deutschland.

In Südostasien wird in der Regel zwischen Berg- und Talbevölkerung unterschieden. Die Bewohner der tiefergelegenen Flusstäler sind kulturell weitgehend homogen und bestimmen die Politik und Wirtschaft der Staaten. Die Bewohner der Bergregionen zählen oft zu den ethnischen Minderheiten, gelten als vergleichsweise arm und spielen in der Politik der Länder kaum eine Rolle – so auch die Menschen, die in Zomia leben. Die Kulturen, Sprachen und Religionen der schätzungsweise 80 bis 100 Millionen Bewohner Zomias unterscheiden sich in der Regel deutlich von denen der jeweiligen Talbevölkerung. Scott bezeichnet Zomia daher als eine »shatter zone«, ein Splittergebiet, da sich die Zomia-Völker in mehrere Hundert verschiedene Ethnien mit mindestens fünf Sprachfamilien und unzähligen ­Dialekten unterteilen und sich die ursprünglichen Herkunftsregionen der Stämme kaum nachvollziehen lassen.

Die kulturelle und ethnische »shatter zone« sieht Scott als erstes Indiz dafür, dass es sich bei den Bewohnern von Zomia nicht bloß um Völker handelt, die einfach noch nicht (völlig) in moderne Staaten integriert wurden. Sie sind vielmehr in die Berge des Südostasien-Massivs geflohen, um sich staatlichem Einfluss bewusst zu entziehen – bis heute.

Gründe für die Flucht in die Berge gab es viele: An den Rändern des Südostasien-Massivs existierten seit mehr als 2.000 Jahren fast durchgehend verschiedene mächtige Reiche: die chinesischen Dynastien im Norden, die indischen Mogulreiche im Westen oder die Thai-Königreiche im Süden. So flohen die Vorfahren der heutigen Zomia-Bewohner laut Scott, um Schutz vor Versklavung, Steuern, Krankheiten, Zwangsarbeit und Wehrpflicht zu suchen.

Völker ohne Anführer

Die Annahme, dass ganze Bevölkerungsgruppen in unwegsames Gelände fliehen, ist nicht neu. Scott bezieht sich unter anderem auf Forschungsergebnisse für Lateinamerika. Indigene Stämme zogen sich dort vor dem Einfluss der ersten europäischen Eroberer tiefer in den Dschungel zurück. Ähnliche Strategien gab es in Afrika: In der Sahara und dem Atlasgebirge suchten einige Berbervölker Zuflucht vor der wachsenden muslimischen Mehrheit.

Laut Scott unterscheiden sich die Beispiele jedoch in einem Punkt deutlich von den Zomia-Völkern: Diese haben ein komplett neues Gesellschafts- und Wirtschaftssystem entwickelt, um jegliche Staatlichkeit auf Distanz zu halten. So betreiben die Zomia-Völker mehrheitlich Brandrodungsfeldbau und unterscheiden sich damit von den Reiskulturen der umliegenden Regionen. Getreide wie Reis hat bekannte Erntezeiten und könnte damit, genau wie Viehherden, leicht von rivalisierenden Stämmen oder den Talvölkern entwendet werden. Wurzelfrüchte hingegen können über längere Zeit im Boden bleiben, müssen nur bei Bedarf geerntet werden und bieten daher ein weniger offensichtliches Ziel für Raubzüge oder Beschlagnahmungen.

Die meisten Angehörigen der Zomia-Völker sind Analphabeten. Auch schriftliche Zeugnisse sind kaum überliefert, obwohl die meisten ursprünglich aus Gebieten stammen, in denen es seit langer Zeit Schriftverkehr gibt. Einst mussten sie also mit der Schrift vertraut gewesen sein, allerdings hätten sie laut Scotts Theorie nach ihrer Flucht darauf verzichtet.

Dafür gebe es mehrere Gründe: zum einen die bewusste Ablehnung staatlicher Elemente wie Steuereintreibungen, die Schriftaufzeichnungen voraussetzen. Zum anderen könne man die eigene Geschichte bei der mündlichen Weitergabe flexibler zum eigenen Vorteil verändern, so die eigene Identität bekräftigen und sich damit deutlicher von den Talvölkern abgrenzen. Die Zomia-Völker seien demnach keine vorschriftlichen, sondern »postschriftliche« Kulturen.

Insgesamt sind die Zomia-Stämme weitgehend egalitär organisiert, mit einem hohen Grad an Gleichheit und ohne mächtige Führungspersönlichkeiten. Scott sieht darin eine weitere wichtige Ursache dafür, dass sich die Bergvölker über einen derart langen Zeitraum dem Einfluss der umliegenden Reiche haben entziehen können. Durch die Abwesenheit mächtiger Stammesführer hätten keine Abkommen mit den Talvölkern geschlossen werden können, die über das Schicksal gesamter Völker entschieden hätten.

Das bekannteste Zomia-Volk kämpfte im Vietnamkrieg

Die Völker Zomias sind jedoch keineswegs von der Außenwelt völlig isoliert. Obwohl sie jahrhundertelang darauf bedacht waren, sich dem Einfluss der Talvölker zu entziehen, war ihr Umgang und Austausch mit ihnen immer auch von Pragmatismus geprägt. So profitierten sie beispielsweise im 19. und 20. Jahrhundert vom florierenden Opiumhandel.

Das sogenannte Goldene Dreieck, eines der weltweit größten Anbaugebiete für Schlafmohn, überschneidet sich mit Scotts Zomia-Gebiet. Opium wird von den Bergvölkern selbst konsumiert. Jedoch stieg die überregionale Nachfrage im Zuge der Kolonialisierung Indochinas und des Vietnamkriegs enorm. Zudem beteiligten sich Zomia-Völker an zahlreichen Revolten und Kriegen in der Region, wenn sie sich dadurch einen eigenen Vorteil versprachen. Der US-Geheimdienst rekrutierte während des Vietnamkriegs beispielsweise zehntausende Hmong-Rebellen für seinen geheimen Krieg in Laos – was die Hmong zum heute wohl bekanntesten Zomia-Volk machte.

Zomia verschwindet

Scott zeigt jedoch auf, dass der Einfluss anderer Staaten auf die Zomia-Völker seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs deutlich zugenommen hat. Gründe dafür sind neben dem technischen Fortschritt vor allem die Modernisierungsprozesse der umliegenden Länder – von Monarchien mit grob definierten Staatsgebieten entwickelten sie sich zu Nationalstaaten mit festen Grenzen.

So fand beispielsweise in Thailand im Laufe des 20. Jahrhunderts eine aggressive Thaiisierung statt – also die zwanghafte Assimilierung der thailändischen Bergvölker in die Leitkultur des Talvolks. In den Grenzgebieten wurden Straßen gebaut, Schulen errichtet und die Sprachen und Kulturen der Zomia-Völker unterdrückt. Heute sind die Bergregionen Thailands beliebte Touristenziele. Auch China gelang es im Zuge seines wirtschaftlichen Aufschwungs, innerhalb der letzten 30 Jahre seine Randgebiete zu erschließen, seine Grenzen zu militarisieren und so seinen administrativen Einfluss auf die Zomia-Stämme auszuweiten.

Es ist offen, wie lange sich die restlichen staatenlosen Zomia-Völker ihre Autonomie noch bewahren können, bevor auch sie in umliegende Staaten integriert werden und aus den selbstbestimmten Gruppen marginalisierte Minderheiten werden. Die letzten staatenlosen Einwohner Zomias werden daher in den Medien gerne als »Zombies« bezeichnet – als Untote, die jedoch bereits ihrer Werte und Kultur beraubt worden sind.

Theorie teilweise widerlegt, Einfluss dennoch enorm

In der Wissenschaft ist Scotts Theorie der »Selbstbarbarisierung« zur Erhaltung der eigenen Autonomie umstritten. Auch er selbst gesteht ein, zum Teil kühne Behauptungen aufgestellt zu haben. Kritiker werfen ihm grobe Generalisierungen und Vereinfachungen vor. Zudem romantisiere er die scheinbar unterentwickelten Stämme und benutze das Bild des »edlen Wilden« – ein literarisches Konzept, nach dem der Mensch ohne zivilisatorische Einflüsse von Natur aus gut ist. Dieses gilt in der Anthropologie längst als überholt. Die These, dass die Zomia-Völker bewusst auf den Gebrauch von Schrift verzichtet hätten, gilt als besonders umstritten. Auch andere Punkte seiner Theorie wurden mittlerweile widerlegt.

Der Einfluss von Scotts Theorie auf die anthropologische Forschung in Südostasien ist dennoch enorm. Das mediale Interesse an seiner Studie führte zu einem Paradigmenwechsel in der Betrachtung der regionalen Bergvölker – von primitiven, isolierten Urvölkern hin zu anarchischen Gesellschaften, reich an Kultur und traditionellem Wissen, die jahrhundertelang aktiv über ihr Schicksal entschieden. Forschungsergebnisse über die Bergvölker werden zudem nicht mehr am Rand der prominenten Regionalwissenschaften wie Sinologie, Indologie oder Thaiistik besprochen, sondern als eigenständige Zomia-Studien mit eigenen Konferenzen behandelt.

Scott hat somit durch van Schendels Zomia-Begriff das gesellschaftliche Interesse an den Bergvölkern gesteigert – kurz bevor sie in ihrer ursprünglichen Form höchstwahrscheinlich für immer verschwinden werden.

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Footnotes

  1. Eig. Übers., engl. Original: »barbarians by design«.- Scott, James: The Art of Not Being Governed. An Anarchist History of Upland Southeast Asia, New Haven 2009, S. 8.
  2. Engl. Original: »distance-
    demolishing technologies«, dt. etwa »Distanz vernichtende Technologien«.
  3. Michaud, Jean: Editorial – Zomia and beyond, in: Journal of Global History, London (5)2010, Nr. 2, S. 187-214, hier: S. 211.
  4. Der Begriff »Südostasien-­Massiv« wurde 1997 vom Anthropologen Jean Michaud eingeführt. Er bezeichnet die südostasiatischen Bergregionen östliche des Himalayas und seine Bewohner.
  5. Van Schendels Definition des Zomia-Gebiets umfasst auch die Himalaya-Berg­kette und das tibetische Hochland. Diese Gebiete klammert Scott in seiner Theorie jedoch aus.
  6. Vgl. Formoso, Bernard: Zomian or Zombies? What Future Exists for the Peoples of the Southeast Asian Massif?, Journal of Global History, London (5)2010, Nr. 2, S. 313-332.
  7. Vgl. Michaud 2010.
  8. Vgl. Formoso 2010.
  9. Vgl. ebd.
  10. Vgl. ebd.
  11. Vgl. Yale University: James Scott: The Art of Not Being Governed, Youtube-Video (4.11.2010).
  12. Vgl. Michaud, Jean: What’s (written) history for? On James C. Scott’s Zomia, especially Chapter 6 ½, in: Anthropology Today, London (33)2017, Nr. 1, S. 7-10.
  13. Vgl. ebd.
  14. Vgl. Lieberman, Victor: Review Article. A zone of refuge in Southeast Asia? Reconceptualizing interior spaces, in: Journal of Global History, London (5)2010, Nr. 2, S. 333-346.

Authors

Julius Gabele, geboren 1993, ist seit 2017 Redakteur bei KATAPULT und vor allem für die Berichterstattung internationaler Politik zuständig. Er hat Geographie an der Universität Augsburg und der Universitat de Barcelona studiert. Er ist zudem als freiberuflicher Fotograf tätig.

Zu seinen Schwerpunkten zählen geopolitische Konflikte und Entwicklungspolitik.

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