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Filibuster

Zeitverschwendung im Parlament

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Den Rekord für die längste Rede eines einzelnen Politikers hält der damalige US-Senator Strom Thurmond. Mit der Kraft des Rassismus hielt dieser am 28. und 29. August 1957 eine Rede von 24 Stunden und 18 Minuten, um ein Gesetz zu verhindern, das das Wahlrecht der schwarzen US-Bevölkerung garantieren sollte. Wer sich jetzt aber ein flammendes Plädoyer für die Überlegenheit der »weißen Rasse« vorstellt, liegt falsch. Der damals 54-Jährige verlas nacheinander die Unabhängigkeitserklärung, die Bill of Rights, die Wahlgesetze aller einzelnen 48 Bundesstaaten und weitere Gesetze – und zwar alle wortwörtlich. Angeblich sprach er sogar über Kuchenrezepte seiner Großmutter. Kurz: Er tat alles, um seine Rede in die Länge zu ziehen. Doch was soll das? Und durfte er das?

Ja, durfte er. Jedenfalls ist das im US-Senat erlaubt. Mehr noch, es ist dort nicht einmal unüblich und hat eine eigene Bezeichnung: Filibuster. Ein Filibuster ist eine Ermüdungs- oder Dauerrede. Sie soll ein politisches Verfahren verzögern oder zum Scheitern bringen, indem Oppositionelle eine Abstimmung so lange blockieren, bis diese im »besten« Fall nicht mehr durchgeführt wird. Das ist durchaus möglich, denn die parlamentarische Arbeit des Senats kommt während eines Filibusters zum Stillstand.

Für den Notfall hatte Thurmond einen Eimer in einem Nebenraum platziert, sodass er seine Notdurft hätte verrichten können, während ein Fuß noch im Plenarsaal verblieben wäre

Doch es gibt Spielregeln für die Zermürbungstaktik. Wenn ein Senator eine Rede hält, muss er während der gesamten Zeit stehen, darf den Senat nicht verlassen – auch nicht, um auf die Toilette zu gehen – und er darf nur Wasser oder Milch zu sich nehmen. Gerade bei ausgedehnten Reden spielen diese Vorschriften eine wichtige Rolle. So trank Thurmond während seines Filibusters nur sehr wenig und war davor sogar in der Sauna, um seinem Körper Flüssigkeit zu entziehen. Für den Notfall hatte er außerdem einen Eimer in einem Nebenraum platziert, sodass er seine Notdurft hätte verrichten können, während ein Fuß noch im Plenarsaal verblieben wäre. Hat ein Redner zusätzlich Verbündete im Senat, kann diese Gruppe durch komplexe Fragerunden und abwechselndes Reden eine Debatte auch über Wochen ausdehnen.

Der große Vorteil des Filibuster

Die Methode des Filibusterns ist aber keineswegs nur bei rassistischen oder konservativen Politikern beliebt, obwohl das Filibuster bis in die 1960er »die bevorzugte Waffe konservativer Südstaatler [war], um Reformen zur Besserstellung der Schwarzen zu torpedieren.«3 Vielmehr wird es von Minderheiten eingesetzt, weil sie bei Entscheidungen über Gesetzesvorlagen von einer einfachen Mehrheit überstimmt werden können.

Entstanden ist die Möglichkeit des Filibusterns 1806 eher versehentlich aus einer Art Verfahrenslücke. Im US-Senat von 1789 war es noch möglich, eine Debatte – beispielsweise über Gesetzesvorlagen oder Personalfragen – mit einer einfachen Mehrheit zu beenden und eine Abstimmung zu erzwingen (»previous question«). Dies konnte notwendig sein, weil die Reden der Senatoren in den meisten Fällen bis heute theoretisch weder inhaltlich noch zeitlich begrenzt sind. Praktisch musste in den Anfangsjahren der Republik jedoch nie die Beendigung einer Debatte erzwungen werden. Auf Anraten des damaligen Vizepräsidenten Aaron Burr wurde diese Regelung deshalb 1806 gestrichen.

Doch Versuche in den Jahren 1850, 1873, 1883 und 1890, die Verfahrenslücke wieder zu schließen, wurden vereitelt – auch durch Filibuster

Dass das ein Fehler gewesen ist, machte sich lange nicht bemerkbar. Erst 1837 fand das erste Filibuster der US-Geschichte statt, als eine Gruppe von Senatoren versuchte, die Privatisierung der Second Bank of the United States zu stoppen. Nach weiteren Filibustern sollte die Verfahrenslücke wieder geschlossen werden. Doch Versuche in den Jahren 1850, 1873, 1883 und 1890 wurden vereitelt – auch durch Filibuster.

Erst Anfang des 20. Jahrhunderts gelang es, eine Regel einzuführen, die eine ausufernde Debatte mithilfe einer Zweidrittelmehrheit beenden kann (»cloture vote«), 1975 wurde sie auf eine Dreifünftelmehrheit reduziert. Das bedeutet, dass mindestens 60 der 100 Senatoren für eine zeitliche Beschränkung der Debatte stimmen müssen, damit ein Filibuster beendet und über eine Vorlage abgestimmt werden kann. Weil in der Regel weder die Demokraten noch die Republikaner über eine solche Supermehrheit im Senat verfügen, müssen jeweils Senatoren aus der Gegenpartei gewonnen werden. Das ist fast immer schwierig und so können Filibuster besonders bei umstrittenen Gesetzesvorlagen erfolgreich sein. Wenn klar ist, dass keine Supermehrheit zustande kommen wird, genügt oft auch das reine Ankündigen eines geplanten Filibusters, um die Rücknahme eines Gesetzentwurfs zu erwirken.

Die letzten erfolgreichen Filibuster wurden von den Republikanern durchgeführt. So brachte Präsident Obama beispielsweise ein Gesetz ein, das die Besteuerung von Einkommen über einer Million US-Dollar auf 30 Prozent anheben sollte (»Buffett Rule«). Die Republikaner verhinderten das 2012 durch einen Filibuster. 2014 vereitelten sie so auch eine landesweite Erhöhung des Mindestlohns von 7,25 US-Dollar auf 10,10 US-Dollar.

Aber obwohl Filibuster tatsächlich die Handlungsfähigkeit des Senats einschränken, können sie auch positiv gewertet werden

Dementsprechend gibt es kritische Stimmen gegen diese Form des Einspruchs. Aber obwohl Filibuster tatsächlich die Handlungsfähigkeit des Senats einschränken, können sie auch positiv gewertet werden: Denn die Regel erfordert bei umstrittenen Gesetzentwürfen – praktisch gesehen – einen überparteilichen Konsens.

Marathonrede von über 192 Stunden

Im deutschen Parlament ist ein Filibuster im amerikanischen Stil nicht möglich, denn die Redezeit der Bundestagsabgeordneten ist begrenzt. Verzögerungen sind nur möglich, indem die Beschlussfähigkeit infrage gestellt wird, denn oft sind zu wenig Abgeordnete im Bundestag anwesend. Im Bundesrat ist die Redezeit nicht beschränkt, aber auch hier sind Filibuster unüblich. Im südkoreanischen Parlament hingegen ist das Filibustern erlaubt. Die Südkoreaner stellten im letzten Jahr sogar einen Weltrekord auf: Eine Gruppe von 38 Abgeordneten hielt vom 23. Februar bis zum 2. März 2016 eine Marathonrede von etwa 192 Stunden, um ein umstrittenes Antiterrorgesetz zu verhindern. Jedoch blieb es bei dem Versuch.

Roberto Calderoli (Lega Nord) wollte eine geplante Verfassungsreform verhindern und reichte mittels eines eigens programmierten Algorithmus 82.730.460 Änderungsvorschläge ein

Neben Dauerreden existieren auch andere Verzögerungstechniken, die allgemein als Obstruktion bezeichnet werden. Eine beliebte Taktik in Frankreich ist es, unzählige Geschäftsordnungsanträge zu stellen, um die Beschlussfähigkeit des Parlaments zu blockieren. Auf diese Weise reichte die sozialdemokratische Opposition 2006 ganze 137.449 Anträge ein, als der staatliche Energieversorger Gaz de France durch eine Fusion mit dem französischen Konzern Suez Environnement S.A. privatisiert werden sollte. Der Protest scheiterte. Der italienische Senatsvizepräsident Roberto Calderoli (Lega Nord) wählte 2015 eine ähnliche Taktik. Er wollte eine geplante Verfassungsreform verhindern und reichte mittels eines eigens programmierten Algorithmus sogar 82.730.460 Änderungsvorschläge ein. Am Ende war das vergebens.

Japanischer Kuhgang

Andere Verschleppungstaktiken sind noch offensichtlicher darauf ausgelegt, lediglich seinem Protest Ausdruck zu verleihen: In Neuseeland gaben Gegner eines Gesetzes zum Arbeitsrecht Änderungsanträge auf Maori ab, die dann erst ins Englische übersetzt werden mussten. Abgestimmt wurde zudem einzeln nacheinander, wodurch sich der Vorgang über Stunden hinzog. Origineller sind nur noch die Japaner, die sich aus Protest bei Abstimmungen der »Kuhgangtaktik« (»gyûho senjitsu«) bedienen. »Beim Kuhgang dauert es oft Stunden, bis ein Abgeordneter sich von seinem Sitzplatz bis zum Abstimmungsort bewegt hat.«

Anders als in den USA führen die letztgenannten Spielarten des Filibusterns nicht mehr zum Erfolg der Opposition. Als Ausdruck des legalen Protests zeigen sie dennoch leidenschaftliche Parlamentsarbeit. Leider gibt es zu diesen ungewöhnlichen Methoden der parlamentarischen Obstruktion keine umfassenden Studien mit interkulturellem Vergleich. – Dies ist ein Aufruf an die Wissenschaft!

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Footnotes

  1. Der Civil Rights Act von 1957.
  2. Vgl. Richard S. Beth; Valerie Heitshusen: Filibusters and Cloture in the Senate, 2014, S. 21. (CRS Report RL30360)
  3. O.A.: Filibuster – umstrittene Waffe gegen Richterkandidaten. Showdown für die Piraten im Senat der USA, auf: nzz.ch (23.5.2005).
  4. Gold, Martin B.; Gupta, Dimple: The Constitutional Option to Change Senate Rules and Procedures: A Majoritarian Means to Overcome the Filibuster, in: Harvard Journal of Law and Public Policy, Cambridge (28)2005, H. 1, S. 205-272, hier: S. 216.
  5. Vgl. Bell, Lauren Cohen: Filibustering in the U.S. Senate, Amherst 2011.
  6. Seit dem 6. April 2017 genügt für die Ernennung von Richtern des Supreme Courts jedoch eine einfache Mehrheit.
  7. Vgl. bspw. Wegmann, Philip: 12 Bills That the Filibuster Stopped From Becoming Law, auf: dailysignal.com (11.11.2015).- Gerade soll übrigens das Gegenteil durchgesetzt und die Einkommensteuer für Reiche herabgesetzt werden.
  8. Allerdings haben Anfang dieses Jahres 19 Bundesstaaten eine Anhebung des Mindestlohnes durchgeführt.- Vgl. o.A.: 19 Bundesstaaten erhöhen den Mindestlohn, auf: handelsblatt.com (30.12.2016).
  9. Vgl. Hansen, Sven: Parlament in Südkorea. 192 Stunden geredet, nichts erreicht, auf: taz.de (2.3.2016).
  10. Vgl. Kanter, James: Plan for Gaz de France advances toward a vote – Business – International Herald Tribune, auf: nytimes.com (19.9.2006); o.A.: Timeline: Key dates in Gaz de France-Suez merger, auf: reuters.com (2.9.2007).
  11. Vgl. Meiler, Oliver: Eine Reform, 82 Millionen Änderungsanträge, auf: sueddeutsche.de (25.9.2015).
  12. Vgl. o.A.: Employment bill to drag on another day, auf: nzherald.co.nz (21.8.2000).

Authors

Tim Ehlers, geboren 1983, ist seit 2015 Redakteur bei KATAPULT und vor allem als Layouter, Grafiker und Lektor tätig. Er hat Germanistik, Kunstgeschichte und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Greifswald studiert.

Sein wissenschaftliches Hauptinteresse liegt im Bereich der Sprachwissenschaft, speziell der Psycho- und Politolinguistik.

 

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