Diesen Winter fielen die Temperaturen in Deutschland weit unter null Grad. Kommunen müssen sich überlegen: Wo können Menschen ohne Wohnung schlafen, ohne zu erfrieren? Denn besonders im Winter wird das Problem, dass Menschen keinen Raum zum Wohnen haben, zur Lebensgefahr. Einige deutsche Städte erweiterten ihr Notschlafangebot, andere schränken es aufgrund von Corona sogar ein. Ein paar wenige Städte buchten Hotelzimmer, damit Menschen ohne Wohnung darin übernachten konnten. Die Stadt Hamburg, in der schätzungsweise 2.000 Menschen auf der Straße leben, weigerte sich, vorübergehend Hotelzimmer für obdachlose Menschen zu bezahlen. Es gäbe genug freie Betten in den Notunterkünften, ist auf der Website der Stadt zu lesen. Nachdem Anfang diesen Jahres in Deutschland mindestens 22 Menschen erfroren, weil sie trotz Kälte draußen schliefen, organisierten Initiativen wie die Hamburger Straßenzeitung Hinz und Kunzt selbst Hotelzimmer für Obdachlose. Die Aktion wurde von den Menschen ohne Wohnung und von den Hotelbesitzer:innen gut angenommen, so Stefan Karrenbauer von Hinz und Kunzt. Für die Mitarbeitenden waren es “unsere Gäste” und nicht “die Obdachlosen” und viele wollten die Übernachtenden am liebsten gar nicht wieder gehen lassen. Einige Hotels stellen jetzt Zimmer bis Ende April zur Verfügung. Eine gute Lösung, aber es ist und bleibt eine Notlösung. Sammelunterkünfte sind längst überholt Warum erfroren Menschen während Betten frei standen? Das Problem sind die Massenunterkünfte selbst: Notschlafstellen sind meist nur in der Nacht geöffnet, tagsüber müssen die Menschen wieder nach draußen. Hamburg beispielsweise änderte dies und ließ während der kalten Tage die Unterkünfte teils auch tagsüber geöffnet. Viele Unterkünfte sind nicht barrierefrei zugänglich oder nehmen die Hunde der Obdachlosen nicht auf. Und diesen Winter kam noch eine weitere Hürde hinzu: das Coronavirus. Notunterkünfte stellen oft nur Mehrbettzimmer bereit und die sind nicht mit den Abstandsregeln während der Pandemie vereinbar. Viele Menschen, die die Angebote dringend gebraucht hätten, machten sich zu große Sorgen, dass sie sich anstecken könnten. Einige Notunterkünfte stellten zusätzliche Räumlichkeiten zur Verfügung oder trennten einzelne Abschnitte vorsorglich ab, um die Ansteckungsgefahr zu verringern. Doch das reiche nicht, finden die Mitarbeiter:innen von Hinz und Kunzt. Das Problem vieler Notschlafstellen ist nicht der Platzmangel. Im Gegenteil, oft bleiben Betten leer, erzählt auch Corinna Lenhart von der Selbstvertretung Wohnungsloser. Einige haben auch Angst vor Gewalt und davor beklaut zu werden, wenn sie mit vielen anderen ein Zimmer teilen müssen. Vor allem Frauen fühlen sich oft nicht sicher, wenn sie allein in den Unterkünften schlafen. Viele meiden die Massenunterkünfte auch, weil sie nicht das “kompakte Elend sehen und erleben wollen”, erzählt Karrenbauer. Was viele nicht wissen: Die wenigsten obdach- und wohnungslosen Menschen erkennt man ohne Weiteres als solche. All jene, die einem sofort ins Auge fallen, sind eher die Ausnahme, prägen allerdings hartnäckig das allgemeine Bild von Obdachlosen in der Gesellschaft: Abhängige und ungepflegte Außenseiter ohne Chance auf eine (bessere) Zukunft. Die Realität sehe ganz anders aus: Weil sie nicht auffallen wollen, gehen viele von ihnen nicht in die Unterkünfte. Karrenbauer erzählt weiter: “Viele Obdach- und Wohnungslose haben große Disziplin.” Sie halten Zeitfenster für Angebote der Körperpflege und Essensausgabe genau ein, um nicht in dieses Bild zu passen. Obdachlosigkeit ist ein unsichtbares Problem - auch, weil Zahlen fehlen Weil wohnungs- und obdachlose Menschen oft nicht auffallen, weiß niemand so wirklich, wie viele es tatsächlich gibt. Bisher war die Bundesrepublik nicht gewillt, Daten zu erheben. Das soll sich jetzt ändern. Ab 2022 sollen erstmals bundesweit Zahlen zu wohnungslosen Menschen erfasst werden. Geschätzt leben derzeit rund 650.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung. Knapp 50.000 davon sind obdachlos. Der Unterschied: Obdachlose leben auf der Straße, Wohnungslose haben zwar auch keine eigene Wohnung, kommen aber oft vorübergehend bei Freund:innen, Bekannten oder in Notunterkünften unter. Der Übergang ist fließend. Die Gründe für Wohnungs- und Obdachlosigkeit sind vielfältig. Oft sind es Trennungen, Jobverlust oder andere kritische Lebenssituationen, die zum Verlust der Wohnung führen. Auch junge Menschen, die ungeregelt aus Hilfseinrichtungen entlassen werden, sind gefährdet ohne Wohnung zu bleiben. In Berlin versuchten Freiwillige und Sozialarbeiter:innen obdachlose Menschen zu zählen. Sie waren dazu eine Nacht unterwegs und trafen dabei auf knapp 2.000 Menschen. Es war ein Schritt, endlich an Zahlen zu gelangen, um für tatsächliche Hilfe und Unterstützung sorgen zu können. Kritiker:innen sahen das anders: Die Zählung verschrecke Obdachlose und begegne ihnen nicht würdig. Außerdem bräuchten obdachlose Menschen keine Zahlen, sondern Wohnungen. Was Wohnungslose wirklich brauchen: Eine eigene Wohnung Eine Wohnung mit eigenem Mietvertrag ist die einzige Lösung für wohnungslose Menschen, der Meinung ist auch Lenhart. Die Selbstvertretung Wohnungsloser fordert bereits seit langem: Jede:r soll das Recht auf Wohnen haben. Das heißt: nicht nur das Recht auf Unterkunft, wie es derzeit in Deutschland der Fall ist. Hier sind die Kommunen für wohnungslose Menschen verantwortlich. Das Recht auf Unterkunft ist mit einer Notschlafstelle erfüllt. Trotzdem sorgen Städte und Kommunen nicht für Unterbringungen für alle obdach- und wohnungslosen Menschen. Schätzungen gehen von davon aus, dass in Deutschland jährlich rund 400.000 leistbare Wohnungen fehlen, um den Bedarf zu decken. Im Jahr 2017 beispielsweise wurden nur drei Viertel dieser benötigten Wohnungen auch gebaut. Berlin hat sich jetzt als erste deutsche Stadt verpflichtet, Wohnungslosigkeit komplett abzuschaffen. “Housing First” heißt der “Masterplan” dazu, ein Pilotprojekt läuft in Berlin bereits seit 2018. Wohnungslose sollen unbefristet Wohnungen zur Verfügung gestellt bekommen. Alle weiteren Hilfsprojekte, wie beispielsweise Suchtberatung oder Jobsuche bauen darauf auf. Eben: Wohnen zuerst. Housing First bedeutet für viele Wohnungslose das Ende von Stigmatisierung, sozialer Isolation und die ersten Schritte zurück in ein selbstbestimmtes Leben. Aber eben nicht für alle: Um die individuellen Bedürfnisse zu stillen, bräuchte es jedoch noch weitere Maßnahmen, so die Sozialforschenden, die ein Housing First Projekt in Bremen begleiteten. Was aber besonders wichtig ist: Wenn eine Person wohnen möchte, darf das Wohnen nicht an Bedingungen geknüpft sein. Ähnliche erfolgreiche Projekte wie dieses gibt es auch schon in anderen europäischen Ländern, wie Finnland, Schweden oder Frankreich. Manche Menschen möchten aber gar nicht zurück in ein “geregeltes Leben”, sondern auf der Straße bleiben. Das sei zu respektieren, so Karrenbauer. In Zeiten einer Pandemie und bei extremer Kälte brauchen aber auch diese Menschen Schutz und Hilfe. Langfristig müssen dafür verschiedene Wohnkonzepte umgesetzt werden, die auf Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen eingehen. Wichtig sei aber auch, dass Wohnungslose in die Planung solcher Projekte einbezogen werden, sind sich Lenhart und Karrenbauer einig. Wenn Gemeinschaftswohnungen geplant werden, dann bewusst und nicht aus der Not heraus. Studierende und Obdachlose unter einem Dach In der Wiener Währinger Straße gibt es seit 2013 ein Wohnprojekt, in dem Obdachlose und Studierende zusammenleben. Sozialarbeiter:innen braucht es hier keine, alle Bewohner:innen sollen sich selbst organisieren. Fast 30 Menschen sollen in dem Haus leben, das wie eine große WG funktioniert. Klar gäbe es Konfliktpotenzial, erzählt auch der Architekt des Hauses gegenüber dem Standard. Aber er sei sich auch sicher, dass es kein vergleichbares Projekt in Europa gäbe und es den Versuch definitiv wert sei. Fast zehn Jahre später gibt es das WG-Haus immer noch. Mittlerweile wohnen auch Geflüchtete mit den Studierenden und Obdachlosen hier zusammen. Für einen besseren Umgang mit Obdach- und Wohnungslosigkeit braucht es zukünftig mehr solcher Projekte und von den Kommunen geförderte Initiativen, damit jedem einzelnen in Not geratenen Menschen geholfen und ein würdevolles Leben gesichert werden kann. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. Abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren