Eines vorweg: Es gab keinen Masterplan des Deutschen Reichs, Kolonien zu gründen. Im Gegenteil. Reichskanzler Otto von Bismarck sträubte sich lange gegen eigene Kolonien. Stattdessen erhofften sich Kaufleute neben Abenteurern und Glücksrittern »Ruhm, Freiheit und Macht« in den späteren Kolonien Südwestafrika, Togoland, Kamerun und Ostafrika. Letztlich ging Bismarck dann doch auf die wirtschaftlichen Interessen der Geschäftswelt ein. Er garantierte der ersten Kolonie in Afrika 1884 staatliche Unterstützung. Immerhin versprachen eigene Kolonien dem deutschen Handel unter anderem neue Absatzmärkte für Waren und Zugang zu Rohstoffen. Zum Ende der deutschen Kolonialzeit 1914 war aber klar: Gelohnt haben sich die Kolonien in Afrika für die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs nicht. Hohen staatlichen Ausgaben für die Kolonien standen die Profite weniger Privatunternehmer gegenüber. Und so mancher Nachfahre profitiert bis heute. Download Graphic In deutschen Kolonien regierten die Kaufleute Die Hansestadt Hamburg gilt neben Berlin und Köln als die Kolonialmetropole des Kaiserreichs – nicht zuletzt deshalb, weil Hamburger Handelsgesellschaften und andere Unternehmen den Kolonialismus in Afrika vorantrieben. Der Hamburger Reeder und Börsenkaufmann Adolph Woermann sorgte in den 1880er-Jahren im westafrikanischen Kamerun für die Erklärung eines »deutschen Schutzgebiets« durch das Deutsche Reich. Dieser »Schutz« sollte deutsche Kaufleute unabhängiger von den europäischen Kolonialmächten machen. Sie mussten so etwa keine Zölle an andere Nationen zahlen. Woermann kümmerte sich um den Abschluss von Verträgen mit den einheimischen Duala und die Verwaltung des Schutzgebiets. Ihm kam das als Geschäftsmann gelegen. Er tauschte an der westafrikanischen Küste »minderwertigen Branntwein, Waffen und Pulver gegen Palmöl und Kautschuk«. Damit stand er nicht allein. In Hamburg »lebte eine ganze Industrie vom Branntweinexport« nach Afrika. Gut zwanzig Firmen stellten Schnaps her – so auch die Helbing-Brennerei, die am Export nach Afrika verdiente. Neben der Kolonie in Kamerun stellte das Deutsche Reich weitere Gebiete in Afrika unter seinen »Schutz«. Die Initiatoren dahinter waren private Gesellschaften, Handelshäuser oder auch einzelne Kaufmänner, wie der Bremer Tabakhändler Adolf Lüderitz. Der Zuspruch für Kolonien verstärkte sich in dieser Zeit im gesamten Deutschen Reich: Das »Kolonialfieber« hatte sich breitgemacht. Die deutsche Kolonialwirtschaft war für die Einheimischen aller Kolonien fatal: Um in Kamerun etwa Gebiete für Plantagen zu erschließen, wurde die Bevölkerung enteignet und dort zur Arbeit gezwungen. Ihre Aufstände wurden vom Militär niedergeschlagen. Deutsche Schnapsbrennereien wie Helbing trugen mit ihrem Geschäft zur Ausbreitung der Alkoholsucht unter den Einheimischen bei. Lüderitz erlangte in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, durch Betrug eine 16-mal größere Fläche von den Einheimischen, als diese angenommen hatten. Beim kolonialen Völkermord an den Herero und Nama von 1904 bis 1908 wurden bis zu 100.000 Menschen ermordet, nachdem sich die Einheimischen aus existenzieller Not gegen die deutsche Kolonialmacht erhoben hatten. So professionalisierte die Wirtschaft die Ausbeutung in Übersee In den deutschen Industriezentren gab es immer mehr Vereine, die sich mit den Schutzgebieten befassten. Im Deutschen Kolonialverein etwa fanden sich 1883 überwiegend Kaufleute, aber auch Wissenschaftler, Bankiers, Künstler oder Ärzte zusammen. Ihr Ziel: gemeinsame Interessen durchzusetzen, etwa die Kolonialwirtschaft betreffend. In einer Unterabteilung der »Deutschen Kolonialgesellschaft« waren die Unternehmerbrüder Stollwerck aktiv, die die Rohstoffe für ihre Schokoladen aus Kamerun bezogen. Stollwercks Lebensmittelunternehmen gibt es noch heute. Die Vereine erhielten gerade zu Beginn der deutschen Kolonialzeit um 1884 viel Zuspruch: Von knapp 2.000 wuchs der »Deutsche Kolonialverein« binnen eines Jahres auf 9.000 Mitglieder an. Später schloss sich dieser mit der »Gesellschaft für deutsche Kolonisation« zur Deutschen Kolonialgesellschaft zusammen. Diese zählte kurz vor dem Ersten Weltkrieg 42.000 Mitglieder. Als Sprachrohr dienten eigene Zeitungen und Zeitschriften, die sich für eine günstige Handelspolitik starkmachten. Einige Kaufmänner waren selbst in der Politik aktiv und versuchten ihre Aktivitäten in Übersee so zu begünstigen. Dass die Kaufleute sich anfangs selbst um die Kolonien kümmerten, kam dem Reichskanzler Bismarck gerade recht. Für die Kolonien wollte er ursprünglich kaum deutsche Bürokraten abstellen. Der Wunsch der Politik war nämlich: Die Kolonien sollten nichts kosten. Die Kaufmänner vor Ort sollten in Eigenregie die überseeischen Besitztümer verwalten. Und auch die Handelsleute in Übersee wollten zwar den Schutz des Deutschen Reichs, sich aber nicht in ihre Geschäfte hineinreden lassen. Das deutsche Kolonialgeschäft: ein wirtschaftlicher Flop? Download Graphic Eine funktionierende Kolonialverwaltung kam unter den Kaufmännern nicht zustande. Die Kolonien waren kaum profitabel, auf das anfängliche Kolonialfieber folgte die Ernüchterung. Dem Deutschen Reich drohte der Gesichtsverlust vor der eigenen Bevölkerung und den anderen Kolonialmächten, hinter denen die eigenen Kolonien zurückfielen. Bismarck entschied deswegen, die Kolonien stärker zu unterstützen: mit Soldaten und Geld. Von 1884 bis 1914 erhielten die Kolonien 646 Millionen Mark Reichszuschüsse. Damit die Kolonien für das Deutsche Reich kein Verlustgeschäft waren, musste dieses Geld wieder hereingeholt werden. Dies wurde etwa über Zölle, die Haupteinnahmequelle der Kolonien, versucht. Jedoch stiegen die Zolleinnahmen nur langsam, während sich die Ausgaben bis 1906 weiter erhöhten. Schließlich waren der Bau von Hafenanlagen und Eisenbahnstrecken oder die Zivil- und Militärverwaltung in Übersee teuer. Auch die Vorstellung der Regierung, durch den deutschen Kolonialhandel neue Absatzmärkte zu erschließen und an Rohstoffe für die deutsche Industrie zu gelangen, verlief enttäuschend: Die Ausfuhren in die Kolonien machten von 1910 bis 1913 gerade einmal 0,6 Prozent der Gesamtexporte aus – und das bei einem kolonisierten Gebiet von immerhin drei Millionen Quadratkilometern und einer Bevölkerung von 12 Millionen Menschen. Wirklich bedeutend waren im Kolonialexport lediglich Eisenbahngüter, mit denen in den kolonisierten Gebieten Infrastruktur aufgebaut wurde. Die Importe ins Deutsche Reich, etwa von Rohstoffen wie Kautschuk und Nahrungsmitteln wie Kakao, stiegen zwar über die deutsche Kolonialzeit hinweg an, veränderten aber nicht die Gesamtbilanz. Kurz gesagt: Der deutsche Kolonialhandel war für die Volkswirtschaft des Kaiserreichs ein Flop und blieb weit hinter den anfänglichen Erwartungen zurück. Die Gewinner des deutschen Kolonialgeschäfts waren Privatunternehmer Für einzelne Großreeder, Großhandelsfirmen, Plantagenunternehmer und Kolonialspekulanten war der Kolonialismus jedoch ein lohnenswertes Geschäft. Wie Privatunternehmer sich bereichern konnten, obwohl das Deutsche Reich selbst kaum an den Kolonien verdiente, zeigen etwa Woermann, Helbing und Stollwerck: Adolph Woermann hatte als Präses der Hamburger Handelskammer, Mitglied der Hamburger Bürgerschaft, Mitglied im Kolonialrat und Reichstagsabgeordneter in Berlin hochrangige Kontakte in die Politik – auch zu Bismarck. Zudem waren die Woermanns etwa an der privaten Konzessionsgesellschaft »Gesellschaft Süd-Kamerun« beteiligt und Adolph Woermann selbst saß im Aufsichtsrat der »South West African Company«, die mit einem Stammkapital von 40 Millionen Mark in London gegründet worden war und unter anderem ein Bergbaumonopol im heutigen Namibia erhielt. »Die Woermanns waren Teil eines breiten, internationalen kolonialen Netzwerks«, so Kim Sebastian Todzi, der an der Universität Hamburg zum Kolonialhandel Woermanns in Afrika forscht. Die Woermann-Reederei beherrschte zeitweilig ein Viertel des Kamerunhandels und wuchs weiter. Woermann selbst galt schließlich nicht nur als größter deutscher Westafrika-Kaufmann, sondern auch als größter Privatreeder der Welt. Für den Wirtschaftserfolg tauschten hanseatische Firmen wie die von Adolph Woermann billige Exportwaren wie Spirituosen und Waffen in den Kolonien gegen hochbegehrte, teure Kolonialprodukte für den europäischen Markt. Der Handel mit Spirituosen machte gut ein Fünftel des deutschen Afrikahandels aus und wurde fast ausschließlich von Hamburg aus abgewickelt. Gut auch für Helbing und den Vertrieb seines Kümmelschnapses. Branntwein wurde zum Beispiel vornehmlich in die Kolonien nach Togo und Kamerun exportiert. In Kamerun wiederum gab es begehrte Rohstoffe zu holen, etwa Kakao für Schokoladenfabriken wie die der Kölner Gebrüder Stollwerck. Gewinner bleiben Gewinner Download Graphic »Im deutschen Kolonialismus angehäuftes Vermögen war teilweise die Grundlage für späteren wirtschaftlichen Erfolg«, so Kim Todzi. Die Import- und Exportfirma C. Woermann – Carl Woermann war der Vater des erwähnten Adolph Woermann – sitzt heute noch im Hamburger Afrika-Haus, das zur Zeit des Kolonialismus errichtet wurde. Das Unternehmen C. Woermann ist laut Website nicht mehr in Kamerun aktiv. Das ist nicht untypisch für Kolonialfirmen: Kolonialkaufleute verloren durch die zwei Weltkriege mitunter ihre Besitzungen und Unternehmen damit ihre Standorte in Übersee. Heute liegt der Geschäftsfokus von C. Woermann auf Ghana, Angola und Namibia. In Namibia, ehemals die Kolonie Deutsch-Südwestafrika, führen außerdem weitere Woermann-Nachkommen »Woermann & Brock«, eine Supermarktkette mit zahlreichen Filialen. Auch das internationale Lebensmittelunternehmen Stollwerck mit Fokus auf Schokoladen profitiert weiterhin von der Kolonialzeit: Stollwerck kaufte in den 1990er-Jahren den Sarotti-Konzern und verdiente an der Vermarktung des populären »Sarottimohren«, der koloniale, rassistische Klischees aufgreift – etwa wulstige Lippen und große Glupschaugen bei der Darstellung eines Schwarzen. Allgemein zählt Deutschland heute weltweit, sowohl was den Import von Kakao, als auch was den Export von Schokoladenprodukten angeht, zu den führenden Nationen. Kakao wird in subtropischen und tropischen Gebieten entlang des Äquators angebaut, also auch in Südamerika und Asien. In Deutschland kam die Einfuhr 2019 jedoch zu fast 90 Prozent aus Westafrika – aus Ghana, Nigeria, der Elfenbeinküste, also von dort, wo es durch koloniale Netzwerke bereits eine günstige Wirtschaftsgrundlage für Deutschland gab. Die Helbing-Brennerei, die 1899 durch das Exportgeschäft in die Kolonien zum größten Spirituosenunternehmen Deutschlands aufstieg, gibt es zwar in der damaligen Form nicht mehr. Allerdings hat die Marke »Helbing Kümmel« überdauert und ist heute noch als Kümmelschnaps-Marktführer in Deutschland erfolgreich. Auch hundert Jahre nach dem deutschen Kolonialismus profitieren also die Erben des Kolonialhandels wirtschaftlich, wie etwa das globale Wirtschaftsnetzwerk der Woermanns, die Sarotti-Schokolade von Stollwerck und der Helbing-Kümmel zeigen. Schokolade, Schnaps und Straßen: Wo Kolonialisten im Alltag gut dastehen Es werden aber auch weiterhin Menschen geehrt, die für die Enteignung, Ausbeutung und Ermordung der Bevölkerung der kolonisierten Gebieten verantwortlich waren – in Deutschland beispielsweise im öffentlichen Raum. Ganze Straßenzüge und Plätze sind nach Kolonialisten benannt: allein 27 davon etwa nach Lüderitz und neun nach Woermann, einmal quer durch die Republik von Kiel bis München. Es ist nicht immer ganz offensichtlich, mit wem man es da zu tun hat. Oft ist auf Straßenbeschreibungen von Afrikaforschern, Großkaufmännern oder Forschungsreisenden die Rede. Auch in der Politik erfolgt die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte nur schleppend: 2004 sprach erstmals eine deutsche Ministerin vom Völkermord an den Herero und Nama durch die Deutschen, lange vermied die Bundesregierung diesen Begriff. Noch immer gibt es ein Heldendenkmal in Berlin für die gefallenen deutschen Soldaten aus dieser Zeit. Erst 2009 wurde eine Steinplatte zum Gedenken der Opfer ergänzt. Und auch die wissenschaftliche Beschäftigung wurde lange vernachlässigt: Eine Forschungsstelle zur Aufarbeitung des Kolonialismus in Hamburg wurde zum Beispiel erst 2014 auf Beschluss des Hamburger Senats an der Universität eingerichtet. Mittlerweile versuchen deutschlandweit aber immer mehr Projekte, die Erinnerungskultur zu fördern. Aktuelle Ausgabe Dieser Text erschien in der 20. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren