Die Pandemie wirft eine zentrale Frage auf: Sollen Medien Fakten berichten – oder die gesamte Bandbreite der Meinungen abbilden? Beides lässt sich nicht problemlos miteinander vereinbaren. Rückblick: Greifswald im März 2020. In der KATAPULT-Redaktion laufen Onlinevideos rauf und runter. Darin erklärt Bodo Schiffmann, Arzt und Betreiber einer Schwindelambulanz, warum Corona nicht besonders gefährlich sei und die Lockdown-Maßnahmen vollkommen übertrieben wären. Als Beleg dienen Dutzende neuer Studien, aus denen er zitiert – in atemberaubender Geschwindigkeit. Die Schlüsse, die er zieht, klingen plausibel. Für die Redaktion heißt das: recherchieren. Die zitierten Studien lesen. Experten anrufen, nachfragen. Das häufigste Resultat der Nachforschungen: Das, was Schiffmann behauptet, ist so nicht richtig. Fehlender Kontext. Krumme Statistik. Zu stark vereinfacht. Oder grob falsch. KATAPULT wird seine Behauptungen deshalb nicht weiterverbreiten. Allerdings verfügt der Schwindelambulanz-Arzt bereits zu diesem Zeitpunkt über Tausende Fans, die seine Inhalte engagiert teilen. Über Facebook, Whatsapp, Telegram. Gegen KATAPULT gibt es durchaus Anschuldigungen: Unterschlagen wir berechtigte Kritik? Warum publizieren wir nicht auch solche Meinungen? Einfache Antwort, die aber Dutzende Stunden Recherche voraussetzt: Weil wir die Argumente für falsch halten. Zu Recht, wie sich im Pandemiegeschehen immer wieder beweisen wird. Schiffmann indes wird später prominenter »Querdenker« und Verschwörungstheoretiker. Einer von vielen. Und wie andere auch verbreitet er nicht nur Falschinformationen, sondern entwickelt aus seiner Gegnerschaft zur Corona-­Politik ein undurchsichtiges Geschäftsmodell. In Krisenzeiten herrscht vorübergehender Konsens Diese Episode veranschaulicht eine der Herausforderungen zu Beginn der Corona-Pandemie. Medien sollen Fakten berichten – und gleichzeitig kritisch sein. Doch welche Behauptungen stimmen, welche sind verzerrt? Fast täglich gibt es neue Studien – manche von guter Qualität, andere nicht. Welche sind glaubhaft? Diese Unübersichtlichkeit hat Folgen für die Berichterstattung, die typisch für Krisensituationen sind, erklärt der Journalistikprofessor Vinzenz Wyss von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur. In Zeiten der Ungewissheit halten sich Journalisten vor allem an Informationen, die sie für besonders glaubwürdig halten – auch, um nicht in das Fahrwasser von Verschwörungserzählungen zu geraten. Das führt im ersten Moment zu einem relativ starken Meinungskonsens innerhalb der Medienlandschaft. Dieser schwindet jedoch meist, wenn sich zunehmend kritische, aber zugleich seriöse Akteure finden lassen. Berichterstattung überwiegend sachlich, aber mit Schwächen Doch ist das im Verlauf der Corona-Pandemie tatsächlich geschehen? Oder haben die Medien zu einseitig berichtet, wie ihnen Kritiker vorwerfen? Das haben Journalismusforscher der Universitäten Mainz und München in einer Ende 2021 veröffentlichten Studie untersucht. Marcus Maurer, Carsten Reinemann und Simon Kruschinski liefern damit eine wichtige empirische Diskussionsgrundlage, denn viele Vorwürfe basieren lediglich auf subjektiven Eindrücken. Download Graphic Für die Studie werteten sie Nachrichtenbeiträge der Sendungen Tagesschau, Heute und RTL aktuell zwischen Januar 2020 und Ende April 2021 aus. Zudem analysierten sie Artikel der Onlinepräsenzen von Spiegel, Bild, Süddeutscher Zeitung, Frankfurter Allgemeiner Zeitung, Focus sowie von t-online.de. Insgesamt erfassten sie so 5.173 Beiträge. Auf Grundlage dieser Daten überprüften sie, wie sachlich und neutral die Nachrichten berichteten – aber auch wie ausgewogen, korrekt und tiefgründig. Ihre Schlussfolgerung: Tatsächlich wies die Corona-Berichterstattung Schwächen auf. So dominierten beispielsweise medizinische und virologische Perspektiven, andere Wissenschaftsdisziplinen wurden vernachlässigt. Negative Folgen der Pandemiebekämpfung seien so mitunter aus dem Blickfeld geraten. Auch das Virus selbst hätten Journalisten zu wenig erklärt. Zugleich berichteten die Medien aber überwiegend sachlich und basierend auf glaubhaften Informationen – im Gegensatz zu vielen Kanälen in Sozialen Netzwerken. Berichten, was wahr ist – oder was viele glauben? Es fehlte demnach an Diversität. Hätten die Nachrichten also Zweiflern und Leugnern mehr Raum geben müssen? Schließlich fanden diejenigen, die Corona trotz steigender Inzidenzen für ungefährlich oder Impfungen für eine Verschwörung hielten, zunächst wenig mediale Beachtung. Doch das meinen die Forscher nicht mit mehr Vielfalt. Was viele Skeptiker fordern, bezeichnet die Publizistik nämlich als »false balancing« – falsche Ausgewogenheit. Medien sollen gemäß dieser Erwartung Meinung und Gegenmeinung gleichberechtigt abbilden, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt. Das kollidiert jedoch mit ihrem Auftrag, akkurate Informationen bereitzustellen. Stattdessen folgten die untersuchten Nachrichtenformate dem, was sie als wissenschaftlichen Konsens wahrnahmen, und stützten sich weitgehend auf empirisch gesicherte Informationen. Das ist wichtig, denn so haben sie die kursierenden Fehlinformationen nicht aktiv befeuert. Allerdings hat diese Positionierung einen Preis. Sie kostet Vertrauen unter den Zweiflern. Wer etwa wissenschaftlichen Erkenntnissen grundsätzlich misstraut, findet seine Skepsis nicht in den Nachrichten wieder. Im ungünstigsten Fall weichen diese Personen auf andere, wenig faktenbasierte Informationsquellen aus. Das Problem verstärkt sich: Wer sehr stark anden Fakten zweifelt, kann »selbst ausgewogene Berichterstattung als gegen die eigene Meinung verzerrt« wahrnehmen. Wie sehr, lässt sich anhand der Frage nachvollziehen, wie Menschen über die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung denken. Eine Erhebung von Kommunikationswissenschaftlern um Carsten Reinemann von der Universität München wies im Februar 2021 nach: Je stärker Menschen gegen Corona-Regeln eingestellt sind, desto überzeugter sind sie – fälschlicherweise –, dass sie damit die Mehrheitsmeinung vertreten. So schätzten Personen, die die Corona-Beschränkungen besonders stark ablehnten, dass zwei Drittel der Deutschen diese ebenfalls als zu weitreichend empfinden. Tatsächlich betrug deren Anteil zum Zeitpunkt der Befragung zusammengerechnet nur 32 Prozent – zwölf Prozent gingen die Corona-Regeln deutlich und immerhin 20 Prozent eher zu weit. Befragte, die die Regeln als angemessen oder unzureichend bezeichneten, überschätzten die Zahl der Gegner der Corona-Maßnahmen ebenfalls, allerdings bei Weitem nicht so deutlich. Für diese Wahrnehmung ist auch der individuelle Nachrichtenkonsum ausschlaggebend. Je stärker Menschen den Informationen aus Messengerdiensten wie Telegram oder aus Sozialen Netzwerken vertrauten, desto stärker verzerrt nahmen sie das Stimmungsbild zu den Corona-Regeln wahr. Vertrauten sie eher klassischen Medien und Wissenschaft, fielen die Verzerrungen in der Umfrage geringer aus. Download Graphic Zu wenig Diversität in der Wissenschaft Mit mangelnder Vielfalt ist also nicht gemeint, dass mehr Corona-Leugner zu Wort kommen sollten – wohl aber eine größere Bandbreite von Akteuren aus Wissenschaft und Politik. Das werten die Autoren der Medienstudie als zentrale Schwäche der Berichterstattung. Aus der Forschung hätten die Nachrichten oft nur medizinische und virologische Expertisen abgebildet. Andere Disziplinen, die eher auf die Nebenfolgen der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung fokussierten, standen hintan. Themen wie häusliche Gewalt, Bildung, Depressionen – sie kamen vor, blieben aber deutlich unterrepräsentiert. Das lässt sich an der Zahl der Beiträge mit Expertenstimmen aus den jeweiligen Disziplinen ablesen. Am häufigsten stammten diese aus dem ärztlichen und dem Pflegesektor (elf Prozent der Meinungsbeiträge) sowie der Virologie (vier Prozent). Lediglich zu Beginn der Pandemie berichteten Nachrichten auch intensiv über Kritik der Wirtschaft an den Corona-Maßnahmen – sogar ähnlich stark wie über die Gefahren des Virus selbst. Ab der zweiten Welle seit Herbst 2020 dominierte allerdings allein der Gesundheitsbereich. Download Graphic Kritik an der Regierung vorhanden, aber nicht vielfältig genug Die mangelnde Vielfalt werten die Forscher auch deshalb als Problem, weil sich die meisten Medienbeiträge eher für bestehende Corona-Maßnahmen aussprachen oder sogar Verschärfungen forderten. Zudem rückten sie die Regierungsparteien in den Fokus, die Opposition erhielt nur wenig Aufmerksamkeit. Eine zentrale Frage ist daher, ob Medien stärker die negativen Folgewirkungen von Maßnahmen hätten beleuchten müssen, selbst wenn sie Letztere für notwendig hielten. Das kann durchaus unerwünschte Folgen haben. Verfrühte oder übertriebene Kritik kann die Akzeptanz für nötige Maßnahmen zum Bekämpfen der Pandemie untergraben. Die Publizistik diskutiert das unter dem Begriff Verantwortungsethik: Medienschaffende sollten auch die Auswirkungen ihrer Berichterstattung berücksichtigen. Auf der anderen Seite ermöglicht eine kritischere Vielfalt nicht nur eine ausgewogene Meinungsbildung. Sie erhöht auch das Vertrauen in die Medien. Anders als oft behauptet, übten die Nachrichtenbeiträge phasenweise auch immer wieder deutliche Kritik an der Regierung. War die mediale Unterstützung für die Corona-Politik in der ersten Welle hoch, bemängelten viele Beiträge im April und Mai 2020 die Einschränkungen als zu weitreichend. Mit dem sich verschärfenden Pandemiegeschehen ab Oktober 2020 zielte die Kritik dann wieder auf eine als zu zögerlich und planlos wahrgenommene Politik. Download Graphic Zu wenig über das Virus berichtet Nachholbedarf für Nachrichtenschaffende sehen Maurer und sein Team auch bei der Einordnung von wissenschaftlichen Zusammenhängen. So sei es oft nicht gelungen, die Unsicherheiten wissenschaftlicher Modelle zu kommunizieren. Deshalb wurde mitunter ein falscher Eindruck zur Sicherheit von Prognosen vermittelt. Andererseits sei zu wenig über das Corona-Virus selbst berichtet worden, insbesondere zu schwerwiegenden und langwierigen Krankheitsverläufen. Die Gefährlichkeit von Corona lasse sich jedoch nur vermitteln, indem man Vergleiche zu anderen Krankheiten ziehe. Zwar war die Gegenüberstellung zwischen der Grippe und dem neuen Virus zu Beginn sehr prominent, später hätten es die Medien aber versäumt, die besondere Gefährlichkeit des Corona-Virus herauszustellen. Mit Folgen. So zweifelte bis Februar 2021 immer noch etwa ein Drittel der Deutschen daran, dass Corona wirklich gefährlicher ist als die saisonale Grippe. Eine Annahme, die zu diesem Zeitpunkt längst widerlegt war. Medien, so folgern die Autoren, hätten manchmal den Blick dafür verloren, welche Informationen als bekannt vorausgesetzt werden könnten. Download Graphic KATAPULT zerlegt Stammtischparolen Mehr Diversität unter den Experten, ein stärkeres Abwägen zwischen positiven und negativen Folgen der Pandemiebekämpfung und ein besseres Einordnen wissenschaftlicher Erkenntnisse – das sind wichtige Empfehlungen, die aus dieser Untersuchung resultieren. Demgegenüber steht eine Berichterstattung, die sich meist auf glaubwürdige Informationen bezog und überwiegend sachlich-informativ war – von einzelnen Beiträgen abgesehen. Selbstverständlich? Nicht unbedingt. Das zeigen Forschungsarbeiten aus den USA, die den Eindruck bestätigen, dass sich die starke politische Polarisierung dort auch auf die Corona-­Berichterstattung ausgewirkt hat. Besonders die Medien im rechten Meinungsspektrum berichteten demnach wissenschaftlich unzureichend und verharmlosten das Pandemie­geschehen, schlussfolgert eine Forschungsgruppe verschiedener US-amerikanischer und kanadischer Universitäten. Damit hätten sie womöglich auch effektive Maßnahmen zur Bekämpfung von Covid-19 erschwert. Denn inakkurate Nachrichten haben Folgen, wie eine weitere US-amerikanische Untersuchung verdeutlicht. Personen etwa, die sich vor allem über die rechtskonservativen Sender Fox News oder Newsmax informieren, halten Verschwörungserzählungen sehr viel häufiger für wahr als andere Nachrichtenkonsumenten. Wie anfällig Menschen für Falschinformationen sind, hängt also wesentlich von ihrer Mediennutzung ab. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich Irrglaube auf eine bestimmte Klientel beschränkt. Im Gegenteil. Denn diese Erhebung zeigt auch, dass über alle Befragten hinweg fast 80 Prozent mindestens eine von acht abgefragten Fehlinformationen zu Corona für glaubhaft hielten, oft sogar mehrere. Im Klartext: Niemand ist immun gegen Fehlinformationen. Wie dem begegnet werden kann, ist auch für deutsche Medien eine zentrale Frage. Denn obwohl sie längst widerlegt sind, halten sich viele Corona-Mythen erstaunlich hartnäckig. Nicht nur bei »Querdenkern«, sondern in der breiten Bevölkerung. Reicht es aus, Fact­checking-Formaten mit oft überschaubarer Reichweite das Widerlegen von Unwahrheiten zu überlassen? Oder müssen Nachrichtenschaffende generell mehr erklären, warum sie bestimmten Positionen keinen Raum einräumen? Zwar gibt es einen einfachen Grund dafür, dass beispielsweise KATAPULT nicht ständig über Personen wie Schwindelambulanz-Schiffmann berichtet hat: Es kostet Zeit. Zeit, die für andere Artikel dann nicht zur Verfügung steht. Die Gefahr aber ist: Wenn Menschen den Eindruck gewinnen, die Medien würden ihnen etwas verschweigen oder einseitig berichten, verlieren sie Vertrauen. Auch deshalb hat das Onlineteam von KATAPULT ein neues Format eingeführt, in dem es die kursierenden Behauptungen zu Corona aufnimmt und überprüft. Es heißt »KATAPULT zerlegt Stammtischparolen«. Aber wir wollen mehr wissen: Welche Medienleistungen fanden unsere Leserinnen und Leser gut gelungen? Was hätten Medien besser machen müssen? Welche Berichte waren besonders schlecht? Was wünschen sie sich von KATAPULT? Unter corona@katapult-magazin.de haben wir dafür eine Mailadresse eingerichtet – und werden die Meinungsbeiträge veröffentlichen. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren