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Der Vormarsch der islamistischen Taliban in Afghanistan schreitet voran. In den letzten Tagen fielen gleich mehrere Provinzhauptstädte unter Kontrolle der Fundamentalisten, darunter Kunduz. Dort war jahrelang die Bundeswehr stationiert. Ende Juni verließen die letzten deutschen Soldaten das Land. Derweil warten noch immer viele afghanische Ortskräfte auf eine Möglichkeit zur Flucht. Diese Menschen haben als Übersetzer, Fahrer oder Köche für die Bundeswehr, das Außenministerium oder Entwicklungshelfer gearbeitet. Für die Taliban sind die deshalb Kollaborateure von Besatzern. Sie fürchten nun um ihr Leben.
„Die Bearbeitung der Visaanträge und die Ausreise laufen sehr schleppend”, berichtet Kava Spartak, vom afghanischen Kultur- und Beratungszentrum YAAR, in der Welt. “Viele versuchen, sich von Kunduz, wo auch die Bundeswehr stationiert war, nach Kabul durchzuschlagen, um außer Landes zu kommen. Die glauben, dass man sie mit Abzug der Bundeswehr vergessen hat.“
Nicht einmal die Flugkosten übernimmt Deutschland automatisch
Doch statt schnell und unbürokratisch zu reagieren und etwa Charterflüge zur Evakuierung der Betroffenen zu organisieren, lief die Rettung nur zögerlich an. Während Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und das Kanzleramt den Prozess beschleunigen wollten, bremsten Innenminister Horst Seehofer (CSU) und Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU). Auch Außenminister Maas (SPD) sprach sich gegen eigene Flüge zur Evakuierung der Betroffenen aus: Dies würde eine Sogwirkung entfalten und weitere Afghanen zur Flucht bewegen, die gegenwärtig noch für deutsche Projekte in dem Land benötigt würden. Stattdessen verhandelte die Bundesregierung laut ZDF-Informationen Ende Juli mit den Taliban über den Schutz der Ortskräfte.
Die Folge: Erst eine Minderheit der zur Ausreise berechtigten Ortskräfte hat Deutschland bislang erreicht. Charterflüge wurden nicht organisiert, nicht einmal die Flugkosten übernimmt die Bundesrepublik automatisch. Insbesondere die aufwändigen Sicherheitsüberprüfungen ziehen die Visaverfahren in die Länge. Viel Hilfe wird hingegen von Privatpersonen organisiert. Ehemalige Bundeswehrsoldaten richteten in Kabul etwa sichere Unterkünfte ein.
Für die Bundeswehr allein arbeiteten seit 2013 rund 1.300 afghanische Ortskräfte. Zunächst sollten jedoch nur jene evakuiert werden, die in den letzten zwei Jahren beschäftigt wurden. Mitte Juni wurde diese Zweijahresregel für Beschäftigte der Armee abgeschafft, allerdings besteht sie weiter für Ortskräfte des Auswärtigen Amtes und des Entwicklungshilfeministeriums.
Laut Bundesverteidigungsministerium hatten zuletzt etwa 491 seiner Ortskräfte mit 1.991 Familienangehörigen Aufnahmezusagen erhalten. Mindestens 333 Ortskräfte und ihre Angehörigen seien bereits in Deutschland.
Marcus Grotian, ein Afghanistanveteran der Bundeswehr und Vorsitzender des Patenschaftsnetzwerkes Afghanische Ortskräfte, kritisiert jedoch, dass etwa 400 Ortskräfte und ihre rund 1.600 Familienangehörigen noch immer auf ihr Visum warteten und noch nicht einmal der Antragsprozess begonnen habe. Mehrere Tausend Ortskräfte bekämen gar keine Chance, nach Deutschland zu fliehen, weil sie nicht direkt für die Deutschen tätig waren, sondern für Subunternehmen, oder weil ihre Arbeit für Außen- und Entwicklungsministerium länger als zwei Jahre zurückliegt.
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Authors
Jan-Niklas Kniewel
KATAPULT