Share article
Wofür würdest du dich entscheiden: dich mit dem Coronavirus zu infizieren oder 11 Kilo zuzunehmen? In den USA hätten sich knapp die Hälfte der Männer und 40 Prozent der Frauen im April 2020 für die Ansteckung mit dem Virus entschieden. Das ist das vorläufige Ergebnis einer Studie des Center for Body Image Research & Policy an der Universität von Missouri unter knapp 900 jungen Erwachsenen zwischen 18 und 34 Jahren.
Übergewicht gilt auch in der Pandemie als Makel. Die einfache Regel: dünne, trainierte Körper gelten als schön, dicke, untrainierte als hässlich. Im Gegensatz zu den 1990ern müssten Frauen fit aussehen, erklärt die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Lechner. Brust und Po sollten kurvig sein, aber nicht zu sehr. Die idealtypische Frau ist außerdem cissexuell, weiß, langhaarig und hat glatte Haut. Ihre Körperhaare rasiert sie, das Gesicht ist geschminkt. Auch eine gerade Nase und ein symmetrisches Gesicht gelten als schön. Ideale männliche Körper seien muskulös, sportlich und ebenfalls weiß, sagt Fikri Anıl Altıntaş. Der freie Autor und deutsche »HeforShe«-Botschafter der Vereinten Nationen setzt sich kritisch mit Männlichkeitsbildern und der Vorstellung von einem perfekten männlichen Körper auseinander. Vor allem trainierte Oberkörper, Arme und Waden gälten als erstrebenswert, so Altıntaş.
Mehr Zeit, mehr Körper
Die Corona-Pandemie verstärkt den Schönheitsdruck. Das legt eine Umfrage im Auftrag der britischen Regierung unter knapp 8.000 Kindern und Erwachsenen nahe, die im Juli 2020 durchgeführt wurde. Das Ergebnis: Während des Lockdowns im Frühjahr hatten sich 53 Prozent der Erwachsenen und 58 Prozent der Kinder unter 18 Jahren in Bezug auf ihr Körperbild schlechter oder viel schlechter gefühlt als zuvor. Die Wissenschaftlerin Amy Slater erklärte gegenüber dem Frauen- und Gleichstellungsausschuss des britischen Parlaments, dass Videokonferenzen, in denen die Teilnehmenden sich selbst im Bild sehen und teils stundenlang anstarren, die Unzufriedenheit vieler mit dem eigenen Körper vergrößert haben. Den größten Einfluss hätten jedoch die Sozialen Medien, so Slater. Die Befragten berichteten, dass sie mehr Werbung für Diätprodukte sehen würden. Sie fühlten sich zudem durch andere User*innen gedrängt, die Zeit des Lockdowns zum Abnehmen oder Trainieren zu nutzen. Von den 8.000 Befragten gaben nur 14 Prozent der Erwachsenen und 16 Prozent der Kinder an, sich seit Beginn der Pandemie in Bezug auf ihr Körperbild besser oder viel besser zu fühlen.
Keine Jobs für Dicke
Zu mehr Körperarbeit und weniger Körperfett motivierte die Britinnen der Premierminister höchstpersönlich. Er spornte alle übergewichtigen Bürgerinnen an, mindestens zwei Kilo abzunehmen, um sich vor einer Covid-Infektion zu schützen. In einem Twitter-Video, das Boris Johnson Ende Juli 2020 postete, erklärte er, zuletzt selbst sechs Kilo abgenommen zu haben – und sich toll zu fühlen.
Das Problem am Appell Johnsons: Er kann zur Stigmatisierung von Dicken beitragen. Die Folgen sind oft nicht nur ein geringes Selbstwertgefühl, sondern auch Ablehnung und Benachteiligung. Eine bereits 2017 erschienene Betroffenenbefragung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes konnte zeigen, dass das Aussehen, speziell Über- oder Untergewicht, zu Diskrimierung führt. Das nennt man Body-, Fat- oder Thin-Shaming. Nicht normschöne Menschen berichten davon, in Bewerbungsverfahren eher abgelehnt, in Arztpraxen nicht angemessen untersucht zu werden und verbaler, aber auch körperlicher Gewalt in der Öffentlichkeit ausgesetzt zu sein.
Zu dick für die Mittelschicht
Auch dünne Menschen erfahren Ablehnung. Insgesamt sind Dicke jedoch viel häufiger von Diskriminierung aufgrund ihres Gewichts betroffen. Während Magersucht und Bulimie als Krankheiten betrachtet werden, gilt Übergewicht oft als Folge von Disziplinlosigkeit. Wer Dicke aufgrund dessen diskriminiert, fühlt sich im Recht. Dabei haben viele verschiedene Faktoren Einfluss auf das Körpergewicht. Neben genetischen Ursachen spiele oft eine Rolle, wieviele Diäten jemand gemacht habe oder wie stark eine Person unter Druck stehe, erklärt der Soziologe Friedrich Schorb. Auch wer ein geringes Einkommen hat, ist eher dick: Zehn Prozent der armen Kinder sind stark übergewichtig. In bessergestellten Familien sind es nur zwei Prozent. Weil Angehörige der Mittel- und Oberschicht sich vom Stereotyp des faulen, Fast-Food-essenden Dicken abgrenzen wollten, betonten sie umso mehr, wie wichtig ihnen gesunde Ernährung und Sport seien, so Schorb. Für sie hat der arme Dicke kein Problem mit Geld, sondern mit fehlender Disziplin und Bildung. Wegen solcher Ab- und Ausgrenzungsmechanismen benachteiligt zu werden, kann Betroffene krank machen. Ihr Risiko, Depressionen oder Essstörungen zu entwickeln, steigt.
Wie präsent Body Shaming in den Medien ist, hat die Diskussion um einen Bericht der österreichischen Wochenzeitung »Falter« im Februar 2021 gezeigt. Sie hatte getitelt: »Wien hat im Lockdown um rund drei Millionen Kilo zugenommen – etwa das Gewicht von 30 Blauwalen.« Der Vergleich stieß auf Kritik. Elisabeth Lechner kommentierte bei Twitter: »Den Wal findet nur ›amüsant‹, wer nie in Gefahr war als einer bezeichnet zu werden. Gesundheit im Lockdown besprechen? Unbedingt! Aber auf Kilos reduzieren, klassisch dickenfeindliche Symbolik fortschreiben und [...] die psych[ische] Gesundheit der Menschen vergessen? Lieber nicht.«
Größe 52 auf Instagram erlaubt
Dass dicke Körper als abschreckende Beispiele herangezogen werden, macht diskriminierende Strukturen sichtbar. Das kritisiert auch die österreichische Aktivistin Ina Holub. »My body is not your post-quarantine nightmare« (»Mein Körper ist nicht euer Nach-der-Quarantäne-Albtraum«), postete sie im April 2020 zusammen mit einem ihrer Instagram-Bilder. Dass so viele Menschen sich fürchteten, im Lockdown dick zu werden, zeige, wie verbreitet die Abscheu vor fettleibigen Menschen sei. Holub ist Body-Positivity-Aktivistin. Die Body-Positivity-Bewegung entstand in den USA der 1960er Jahre. Sie setzt sich dafür ein, dass alle Körper so akzeptiert werden, wie sie sind. Eine der bekanntesten Aktivistinnen ist das Plus-Size-Model Tess Holliday. Mit dem Hashtag #effyourbeautystandards trug sie entscheidend dazu bei, die Bewegung in den Sozialen Medien bekannt zu machen. Auf ihrem Instagram-Profil teilt sie Bilder von sich, auf denen sie alles trägt, was auch dünne Frauen tragen – nur eben in Kleidergröße 52. Ihre Botschaft: Du hast die Wahl und die Fähigkeit, mit deinem Körper zu tun, was du willst und zu verstehen, dass er wirklich niemanden etwas angeht.
Nicht nur Frauen leiden unter dem Druck, Schönheitsidealen zu entsprechen. Normschöne Männer seien muskulös und fit. Dünne und schlaksige Männer dagegen würden als schwach und langweilig wahrgenommen, erklärt der Männerforscher Christoph May. Wie Männer ihre Körper bewerten und wie sie mit negativen Körperbildern umgehen, ist bislang jedoch wenig erforscht.
Dass Männer in den Sozialen Medien stolz ihre untrainierten oder dicken Körper zeigten, komme kaum vor, bestätigt Fikri Anıl Altıntaş gegenüber KATAPULT. Stattdessen sind trainierte, weiße und rasierte Männerkörper zu sehen. Body Positivity richtet sich fast nie an Männer. Das hat einen Grund: Männlichkeit wird immer noch weniger über den Körper definiert als Weiblichkeit. Davon, wie eine Frau aussehen soll und wie nicht, bestehen im Vergleich viel genauere Vorstellungen.
Beinhaare nur für Weiße
Trotzdem sind nicht alle weiblichen Körper in der Öffentlichkeit sichtbar. Vor allem extrem übergewichtige, gehandicapte und schwarze Frauen werden bisher kaum von der Body-Positivity-Bewegung repräsentiert. Das ergab eine Auswertung von insgesamt 63 Beiträgen des Instagram-Kontos »effyourbeautystandards« beziehungsweise des dazugehörigen Hashtags. Die Pädagogin Jennifer Jolie von der kanadischen Lakehead-Universität untersuchte Fotos von verschiedenen Userinnen. 35 waren weiße Frauen, 15 schwarz, elf Latinas und eine war Asiatin. Dass idealtypische Körper in der westlichen Kultur weiß seien, erklärt auch die Soziologin Sabrina Strings von der Universität von Kalifornien. In ihrem Buch »Fearing the Black Body« weist sie darauf hin, dass besonders dicke schwarze Körper strukturell benachteiligt seien. Ihre Ablehnung habe sich zur Zeit des Sklavenhandels im 18. Jahrhundert entwickelt. Das weiße Narrativ, Schwarze könnten sich nicht kontrollieren und würden besonders viel essen, galt als Erklärung dafür, dass diese dick und minderwertig seien.
Die Folge ist, dass eine schwarze, lesbische Frau mit körperlicher Einschränkung wegen unrasierter Beine mehr Ablehnung erfahren wird als eine weiße, heterosexuelle Frau. Denn je eher eine Frau der Norm entspricht, desto mehr Grenzüberschreitungen kann sie wagen. Wer jedoch etwa wegen seiner Hautfarbe strukturell diskriminiert wird, kann auch durch Diäten oder Sport nicht näher an das westliche Schönheitsideal heranrücken. Die Aufforderung, den eigenen Körper kompromisslos zu lieben, ist daher problematisch. Und entspricht nicht der ursprünglichen Absicht der Bewegung. Ihr geht es im Kern um mehr als Ermutigung: Sie rebelliert dagegen, dass Unternehmen und Medien unerreichbare Schönheitsnormen reproduzieren.
Sich jeden Tag schön finden zu müssen, ohne dass die gesellschaftlichen Vorstellungen von Schönheit diverser werden, wälzt die Auseinandersetzung mit diesen Vorstellungen jedoch auf das Individuum ab. Jolies Analyse zeigt, dass das häufig vorkommt: Über 90 Prozent der untersuchten Beiträge waren unpolitisch. Dazu kommt, dass manche Influencerinnen die Body-Positivity-Bewegung verwässern, indem sie einen kleinen Bauch oder leichte Cellulite zeigen, aber ansonsten normschön sind. Zwar können sie genauso Schönheitsdruck spüren, erfahren aber selten Diskriminierung wegen ihres Aussehens. Die Gefahr ist, dass durch sie die Sichtbarkeit weniger normschöner Körper abnimmt.
Großer Po statt fetter Arsch
Trotzdem hat die Bewegung schon Erfolge erzielt. Frauen mit großem Busen, üppigem Po und flachem Bauch beispielsweise gelten inzwischen als schön. Wie kam es dazu? Plus-Size-Models wie Ashley Graham haben durch ihren Aktivismus das Ideal des extrem dünnen Frauenkörpers erweitert. Aber nur minimal. Als die Firma Gillette im Jahr 2019 für eine Werbekampagne für Damenrasierer das Model Anna O'Brien engagierte, schlug ihr in den Sozialen Medien viel Hass entgegen. Weil sie dick ist. Außergewöhnlich dick im Vergleich zu anderen Plus-Size-Models. Allgemein sind diese zwar im Mainstream der Mode- und Beautywelt angekommen.
Der Fall O’Brien zeigt aber, dass sich ein zweiter Blick auf diese Entwicklung lohnt. Indem nämlich Unternehmen Plus-Size-Models buchen, wollen sie Anerkennung dafür erhalten, vielfältige Körper zu zeigen. »Das Bedürfnis von marginalisierten Gruppen nach gesellschaftlicher Sichtbarkeit und Anerkennung wird benutzt, um daraus Kapital zu schlagen«, kritisiert die Autorin und Antirassismustrainerin Arpana Berndt. Das Ziel sei, unsichtbare Gruppen vermeintlich sichtbar zu machen, um diskriminierende Strukturen nicht verändern zu müssen – sondern Geld zu verdienen. Die radikalste Form der Body-Positivity-Bewegung strebt an, dass diverse Körper in der Werbung und den Medien selbstverständlich werden. Alle Körper sollen als gleichermaßen schön wahrgenommen werden.
Dann schaden diese Kampagnen mehr, als sie nützen? Nein, sagt Maya Götz, jedes Foto eines diversen Körpers helfe, die reale Vielfalt von Körpern sichtbarer zu machen und den Schönheitsdruck zu reduzieren. »Wir brauchen mehr Nasen«, fordert sie. Nur wenn Menschen nicht ständig idealtypische Nasen sähen, könnten sie ihre eigene besser akzeptieren. Das Gleiche gelte für alle anderen Körpermerkmale, die als hässlich bewertet werden. Götz bekräftigt außerdem, dass Pädagoginnen geschult werden sollten, Kinder und Jugendliche darüber aufzuklären, dass Influencerinnen sich in den Sozialen Medien perfekt inszenieren müssen, um Produkte zu verkaufen. Gleichzeitig bieten Plattformen wie Instagram auch Raum für Aufklärung. Feministische Organisationen nutzen ihre Kanäle bereits, um Geschlechterstereotype und damit verbundene Schönheitsideale zu hinterfragen. Ihr Engagement müsse besser unterstützt werden, fordert Elisabeth Lechner. »Pinkstinks« beispielsweise ist eine britische Protest- und Bildungsorganisation. Sie kritisiert starre Geschlechterrollen in den Medien und der Werbung – und sensibilisiert Werbeagenturen und Unternehmen dafür, mehr diverse Schönheitsideale abzubilden. Aktuell hat der Instagram-Kanal von Pinkstinks Deutschland noch über 7 Millionen Follower*innen weniger als Heidi Klum.
KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr.
Authors
Eva Pasch
KATAPULT