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Präsidentschaftswahl in Tunesien

Populist gegen Populist

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Die erste Verliererin der Wahlen in Tunesien war die noch junge Demokratie: Nur noch 45 Prozent der registrierten Wähler gaben am Sonntag ihre Stimme ab. Bei den ersten freien Präsidentschaftswahlen vor fünf Jahren waren es noch etwa 63 Prozent. Zugleich war das Bewerberfeld außerordentlich groß: 26 Kandidaten – darunter zwei Frauen – bewarben sich um das Amt des Staatsoberhaupts.

Die Wahlen fanden inmitten einer schweren sozioökonomischen Krise statt. Die Lebenshaltungskosten stiegen zwischen 2016 und Anfang 2019 um 30 Prozent, was viele Familien dazu zwingt, sich zu verschulden. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 15 Prozent, unter Jugendlichen seit Jahren bei über 30 Prozent. Die gesamte Wirtschaft stagniert, viele Menschen sind desillusioniert.

In derartigen Zeiten versprachen einige der aussichtsreichsten Kandidaten einfache Lösungen. Zwei der Präsidentschaftsanwärter, die sich als Anti-Establishment-Kämpfer inszenieren, werden nun in einer Stichwahl gegeneinander antreten: der Juraprofessor Kaïs Saïed und der Medienmogul Nabil Karoui – letzterer sitzt zur Zeit im Gefängnis.

Der »Berlusconi Tunesiens«

Beide gehören nicht den drei großen tunesischen Parteien an und setzten sich mit deutlichem Abstand gegen deren Repräsentanten durch: Abdelfattah Mourou von der moderat islamistischen Ennahda-Partei; Ex-Verteidigungsminister Abdelkarim Zbidi, den Teile der säkularen »Nidaa Tounis« (»Ruf Tunesiens«) unterstützten; und Youssef Chahed, den amtierenden Regierungschef und Vorsitzenden der Partei »Tahiya Tounes« (»Es lebe Tunesien«).

Nabil Karoui versprach, im Falle seines Wahlsiegs die Armut zu bekämpfen. Der tunesische Präsident ist heute jedoch längst nicht mehr so allmächtig wie noch zu Zeiten der Diktatur. Die meisten Aufgaben – darunter die Sozial- und Wirtschaftspolitik – liegen in den Händen anderer Politiker. Der Präsident ist laut der Verfassung von 2014 vor allem für Verteidigungs- und Außenpolitik sowie für die nationale Sicherheit verantwortlich.

Karoui wird von manchen Beobachtern als der »Silvio Berlusconi Tunesiens« bezeichnet. Der Medienunternehmer betreibt unter anderem den populären Fernsehsender »Nessma TV«, den er mit finanzieller Unterstützung des Berlusconi-Medienunternehmens »Mediaset« groß machte.

Nach der Revolution war er zunächst an der Gründung der Partei Nidaa Tounes beteiligt, überwarf sich dann jedoch mit deren Führung. Im Sommer 2019 gründete Karoui schließlich seine eigene Partei »Qalb Tounes« (»Herz Tunesiens«). Neben seinen politischen Aktivitäten setzt Nessma TV auch Karouis Engagement für wohltätige Zwecke regelmäßig in Szene.

Verfassungsrechtler für die Todesstrafe und gegen die Gleichstellung von Mann und Frau

Schon 2016 wurden erstmals Vorwürfe wegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung gegen ihn und seinen Bruder Ghazi Karoui öffentlich. Im Juli 2019 wurden schließlich beider Konten eingefroren, im August folgte ihre Festnahme. Dass zwischen den ersten Vorwürfen und der Reaktion der Behörden drei Jahre und Karouis Parteigründung sowie dessen Kandidatur ins Land gingen, hat einen faden Beigeschmack. Karoui und seine Partei wittern dementsprechend politische Motive hinter der Strafverfolgung.

Kaïs Saïed hatte derweil ganz offensichtlich Erfolg mit seiner Strategie, konservative Schichten anzusprechen und den Islamisten ihre Wähler streitig zu machen. Der sozialkonservative Verfassungsrechtler ist für die Todesstrafe und gegen die Gleichstellung von Mann und Frau im Erbrecht. Auch die Kriminalisierung Homosexueller verteidigt Saïed.

Zugleich scheint er weit über dieses Milieu hinaus Unterstützung zu genießen. Abseits seiner reaktionären Äußerungen gibt er sich als sparsamer, integrer und nüchterner Technokrat - wegen seiner monotonen Art gaben ihm einige Tunesier den Spitznamen »Robocop«. Saïed will der Korruption den Garaus machen, das politische System dezentralisieren, regionale Strukturen stärken und das Wahlrecht reformieren: Bürger sollen lokalen Politikern, die sich als untätig oder unfähig erweisen, unkompliziert das Mandat entziehen können.

Welcher der beiden verbliebenen Kandidaten sich nun durchsetzen wird, ist noch völlig offen. Für Nabil Karoui hätte das Amt des Präsidenten jedenfalls noch einen angenehmen Nebeneffekt: Es geht mit weitreichender Immunität einher, eine Strafverfolgung würde ausgesetzt.

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Footnotes

  1. Amara, Tarek; McDowell, Angus: Tunisian political newcomers say they are leading presidential vote, auf: reuters.com (15.9.2019).
  2. Vgl. International Crisis Group (Hg.): Tunisia: A pivotal year?, auf: crisisgroup.org (4.2.2019).
  3. Vgl. Bouazza, Riadh: Tackling stubborn economic crisis a priority for Tunisia after election, auf: thearabweekly.com (7.9.2019).
  4. Vgl. Verfassung der Republik Tunesien (2014), Art. 77, abrufbar auf: constituteproject.org.
  5. Vgl. Vivarelli, Nick: Nessma TV programs for change, auf: variety.com (7.5.2010).
  6. Vgl. Haddad, Mohamed: Présidentielle tunisienne: Kaïs Saïed, juriste conservateur, est en tête du premier tour, auf: lemonde.fr (16.9.2019).
  7. Vgl. Dahmani, Frida: Présidentielle en Tunisie – Kaïs Saïed: »Je ne serai candidat d’aucun parti«, auf: jeuneafrique.com (26.10.2018).

Authors

Jan-Niklas Kniewel
KATAPULT

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