Seit dem 27. September ist die selbsternannte Republik Bergkarabach Schauplatz schwerer Kämpfe. Die Armee von Aserbaidschan treibt eine Offensive gegen den von Armenien gestützten, international nicht anerkannten De-facto-Staat voran und eroberte nach eigenen Angaben bereits mehrere Dörfer. Rund 70.000 Menschen seien auf der Flucht, so ein Beamter. Das wäre etwa die Hälfte der dort lebenden Menschen. Auf armenischer Seite sollen mittlerweile mehr als 300 Soldaten getötet worden sein, Aserbaidschan veröffentlicht keine Daten. Heute werden die Außenminister beider Staaten in Moskau verhandeln. Völkerrechtlich ist Bergkarabach, das sich auch Republik Arzach nennt, Teil Aserbaidschans. 1991 erklärte es sich für unabhängig. Doch kein einziger Staat der Welt erkennt Arzach an – nicht einmal Armenien, von dem es militärisch, ökonomisch und politisch abhängig ist. Im August 2019 erklärte Premierminister Nikol Pashinyan: „Arzach ist Armenien, Punkt.“ Der Politiker war vor zwei Jahren ein wichtiger Akteur der Samtenen Revolution und treibt seither demokratische Reformen in Armenien voran. In der verfahrenen Karabachfrage ist es jedoch zu keiner politischen Wende gekommen. Zwei der am stärksten militarisierten Staaten der Welt In Bergkarabach leben überwiegend christliche Armenier, in Aserbaidschan dominieren schiitische Muslime. Religion spielt in dem Konflikt jedoch keine Rolle, wenngleich Nationalisten auf beiden Seiten sie instrumentalisieren, um international Unterstützung zu gewinnen. Der Konflikt hat weitreichende gesellschaftliche Folgen: Als Akram Aylisli, einer der bekanntesten aserbaidschanischen Schriftsteller, vor einiger Zeit das Leid der armenischen Seite thematisierte, strich man seine Rente und erkannte ihm seine staatlichen Auszeichnungen ab. Es kam gar zu Bücherverbrennungen. Als sich Armenien und Aserbaidschan im Juli kleinere Gefechte lieferten, protestierten Zehntausende in Baku für einen Krieg. Beide Staaten gehören laut dem Bonn International Center for Conversion zu den am stärksten militarisierten der Welt. Azerbaijan gibt vier Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für das Militär aus, Armenien sogar 4,9. Der weltweite Median liegt bei nur 1,5 Prozent. In absoluten Zahlen betrachtet, zeichnet sich ein anderes Bild: Auf den Befehl Bakus hören 67.000 Soldaten, Jerewan unterstehen nur 45.000. Allerding verfügt auch die Republik Arzach über mehrere Tausend Kämpfer. Rechnet man auch die Reservisten ein, hat Aserbaidschan dennoch einen klaren Vorteil. Außerdem sind die Truppen der öl- und gasreichen Autokratie weitaus besser ausgerüstet als Armenien. Die Türkei gießt Öl ins Feuer Zudem unterstützt die Türkei die Offensive gegen Bergkarabach. Ende September verkündete Präsident Erdoğan: „Die Krise in der Region, die mit der Besatzung von Bergkarabach begann, muss beendet werden.“ Damit geht Ankara wieder einmal auf Konfrontationskurs mit einem Alliierten Russlands – wie schon in Syrien und Libyen. Sollte es nicht gelingen, den Waffenstillstand wiederherzustellen, droht sich der Konflikt weiter zu internationalisieren. Armenien unterhält ein Verteidigungsabkommen mit Russland. Solange die Kämpfe sich auf aserbaidschanisches Territorium begrenzen, greift der Vertrag jedoch nicht. Moskau hat zudem gute Beziehungen zu Aserbaidschan und lieferte beiden Seiten Waffen. Wladimir Putin bot deshalb seine Vermittlung zwischen den Konfliktparteien an. Ein Angebot, dass nun angenommen wurde. Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs war Bergkarabach ein überwiegend von Armeniern bewohntes autonomes Gebiet innerhalb der Sowjetrepublik Aserbaidschan. Immer wieder kam es zu Protesten und Unterschriftenaktionen, die eine Vereinigung mit Armenien forderten. 1988 stimmte der Oberste Rat der Autonomieregion für einen Anschluss an die Sowjetrepublik Armenien. In dieser Zeit kam es auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, darunter antiarmenische Pogrome. 1991 erklärte Bergkarabach schließlich seine Unabhängigkeit. In einem von der aserbaidschanischen Minderheit boykottierten Referendum wenige Monate später stimmten mehr als 80 Prozent der Wahlberechtigten für die Eigenstaatlichkeit, woraufhin Aserbaidschan das Gebiet gewaltsam zurückzuerobern versuchte. Mit Unterstützung des armenischen Militärs gelang es Bergkarabach jedoch, die eigenen Stellungen zu halten und sogar Territorien außerhalb des einstigen Autonomiegebiets zu besetzen. Einst als Pufferzone gedacht, werden sie heute ebenfalls von der Republik Bergkarabach beansprucht. Der Krieg endete 1994 mit einem unbefristeten Waffenstillstand. Etwa 20.000 Menschen waren bis dahin getötet worden. Beide Seiten hatten sich schwerer Kriegsverbrechen schuldig gemacht, darunter Massaker an der Zivilbevölkerung. Flucht und Vertreibung haben die Demografie der Region nachhaltig verändert: Zehntausende Aserbaidschaner kehrten nie wieder nach Bergkarabach zurück. Meinungsunterschiede zwischen Armenien und Bergkarabach Heute sind nur 18 Prozent der Menschen in Bergkarabach der Ansicht, dass sich das Territorium der Republik Arzach auf die Grenzen des einstigen sowjetischen Autonomiegebiets beschränkt. Nur noch etwa 33 Prozent unterstützen jedoch eine Vereinigung mit Armenien. 55 Prozent sprechen sich hingegen für die Unabhängigkeit aus. In Armenien wiederum befürworten 78 Prozent einen Anschluss Bergkarabachs. Dies sind die Ergebnisse einer Umfrage aus dem Februar dieses Jahres. Über den Status von Bergkarabach entscheiden jedoch spätestens seit dem Beginn der Kämpfe nicht mehr die Menschen, die dort leben. Alle beteiligten Staaten verfolgen im Zerren um die Region eigene Interessen. Gegen die Türkei erhebt Armeniens Premierminister schwere Vorwürfe: Erdoğan verfolge weiter die “Politik des Völkermords an den Armeniern” und wolle Aserbaidschan in Wahrheit unterwerfen, um einen Korridor nach Europa zu schaffen. Den militärischen Einsatz Armeniens und Bergkarabachs bezeichnet er deshalb als “Zivilisationskrieg [...] gegen die expansionistische Politik der Türkei und gegen internationale Terroristen”. Der türkische Präsident begründet die Unterstützung Aserbaidschans damit, dass man einem “Bruderstaat” beistehe und das Völkerrecht durchsetze. Korrekturhinweis: In einer früheren Version dieses Artikels wurde ein Umfrageergebnis missverständlich wiedergegeben. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren